Kritik, Demonstrationen, die Haltung des DGB und die (Selbst)Zerstörung der SPD
Seite 3: Staatstragende Gewerkschaften
Gewerkschaften präsentieren sich ja stets als Kämpfer für die Interessen der Lohnabhängigen. Auf seiner Homepage tritt der DGB aktuell gerade für "armutsfeste Löhne" in Europa ein. Die "Erwerbsarmut", die sie bekämpfen wollen, haben die Gewerkschaften in Deutschland allerdings durchaus mit produziert.
Zunächst einmal haben sie die Agenda 2010 aktiv mit ausgearbeitet: Peter Gasse von der IG Metall und Isolde Kunkel-Weber von Verdi waren Mitglieder in der fünfzehnköpfigen Hartz-Kommission. Bei der Abstimmung im Bundestag haben zudem mindestens 190 Gewerkschafter zugestimmt. 220 der Abgeordneten des Bundestages, der die Agenda-Gesetze verabschiedet hat, waren Mitglieder im DGB, 62 Mitglieder in anderen Gewerkschaften. Insgesamt machen Gewerkschafter 46,8% der Bundestagsmitglieder aus - Gesetze gegen deren Willen durchzubringen, ist insofern nicht möglich. Selbst bei großzügiger Berechnung haben ca. 190 von ihnen in der Abstimmung mit "Ja" gestimmt.2
Das mag bei vielen mit gewissen Bauchschmerzen verbunden gewesen sein - ist aber durchaus konsequent im Sinne deutscher Gewerkschaftspolitik gewesen. Denn der DGB und seine Einzelgewerkschaften vertreten die Interessen ihrer Mitglieder stets so, dass sie bei ihren Forderungen die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Unternehmen im Blick behalten. Arbeitsplätze müssen rentabel sein, damit es sie gibt - diese Grundwahrheit der Marktwirtschaft, die tatsächlich ebenso systemnotwendig wie arbeiterfeindlich ist, hat sich die deutsche Gewerkschaft schon lange einleuchten lassen. Kein Wunder also, dass sie auch den tiefen Einschnitt der Hartz-IV-Gesetze in die sozialen "Besitzstände", auf die man vorher immer so stolz war, mitgetragen hat. Für konkurrenzfähige deutsche Arbeitsplätze eben!
Als "von der Basis" dann ziemlich viel Protest gegen die Hartz-Gesetze laut wurde, hielten sich der DGB und seine Einzelgewerkschaften konsequent zurück: Weder mobilisierten sie ihre Mitglieder in den Betrieben noch versuchten sie, per Streikdrohung oder Streik - beides natürlich ungleich wirksamere Machtmittel als Demonstrationen -, Widerstand gegen die Gesetze zu entfalten. Die Stellungnahme des Dachverbands zu den damals stattfindenden Protesten (Montagsdemonstrationen in 140 Städten, oft mehrere zehntausend Teilnehmer) sah vielmehr so aus: "DGB-Chef Sommer äußerte sich besorgt über diese Entwicklung. 'Wir alle haben große Sorgen, dass in einzelnen Städten von extremen politischen Kräften versucht wird, die Demonstrationen zu unterwandern', sagte er dem Berliner Tagesspiegel. Man müsse aufpassen, dass die Montagsdemonstrationen nicht in die Hände von Feinden unserer Demokratie" fielen."
Als die Proteste nicht nachließen, änderte der DGB seine Strategie und nahm an ihnen teil. Anfang April 2004 sprach DGB-Chef Sommer auf einer Demonstration von 250.000 Leuten in Berlin (in weiteren Städten demonstrierten noch einmal 250.000): "Sozialabbau ist Mist. Lasst es einfach sein. Wir bleiben dabei, auf Basis der Agenda 2010 gibt es keinen Schulterschluss." So sei die Zumutbarkeitsregelung für Langzeitarbeitslose nicht hinnehmbar. "Wir werden keine Ruhe geben, bis sie weg ist." Auch die verschärften Regeln für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe werde er nicht akzeptieren. "Wenn diese unsoziale Politik nicht aufhört, kommen wir wieder."
Anmerkung: Der Protest der Gelbwesten in Frankreich hat gezeigt, dass das Ausüben von Druck (beispielsweise durch Blockade der für den modernen Kapitalismus unbedingt wichtigen Warentransporte quer durchs Land) auch jenseits des klassischen Streiks machbar ist. Und dass Erfolge gegen die angekündigten Maßnahmen der Macron-Regierung, die die deutsche Agenda für Frankreich nachholen wollten, durchaus nicht unmöglich sind.