Kritik, Demonstrationen, die Haltung des DGB und die (Selbst)Zerstörung der SPD

Seite 2: Armut in vielen Varianten

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In vielen Bereichen der Sozialpolitik machen sich mittelbare Folgen der Agenda 2010 geltend. Die Senkung der Löhne lässt die Einzahlungen in die Sozialversicherungskassen sinken - ein zusätzlicher Grund für niedrige Renten und Altersarmut. Kinderarmut (die natürlich Einkommensarmut der Eltern ist) hat stark zugenommen: Im Ruhrgebiet etwa wächst jedes 5. Kind in einer Hartz-Familie auf, in Gelsenkirchen ist es sogar fast jedes zweite. Die Anpassung der Hartz-IV-Sätze folgt der Lohnentwicklung zeitversetzt, gleicht die Inflation also systematisch nicht aus.

Die Festlegung der Mietkostenzuschüsse im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen hat dafür gesorgt, dass viele Empfänger in kleinere Wohnungen umziehen müssen, da sie in "unangemessen" großen Wohnungen lebten. Bleiben sie in ihren Wohnungen, müssen sie Teile der Mieten, die zudem immer weiter steigen, aus eigener Tasche - sprich: aus ihren mageren Hartz-Sätzen - zahlen.

Viele Entscheide bezüglich Mietkostenzuschuss, Sanktionen oder anderem sind fehlerhaft, was Klagen vor den Sozialgerichten nach sich zieht. 2016 gab es allein in NRW mehr als 130.000 Klagen, von denen fast 40 Prozent (in Essen und Mülheim sogar 60 Prozent) erfolgreich waren - eine Zahl, die darauf hindeutet, dass sehr wahrscheinlich viele falsche Bescheide existieren, die nicht angefochten werden, weil die davon Betroffenen sich diese Prozedur nicht zutrauen oder längst zermürbt sind.

Thomé: Die Bescheide sind kaum nachvollziehbar, selbst mancher Sachbearbeiter kann sie nicht erklären. Um sie zu verstehen, ist eine tiefe Kenntnis der Materie erforderlich.
Seit dem 1. August 2016 gibt es zwar eine Rechtsvorschrift, dass die Behörde auf Antrag verpflichtet ist, den Bescheid zu erklären. Ich bezweifle aber aufgrund meiner Arbeit als Sozialberater, dass eine solche Erklärung in den Jobcentern geleistet werden kann und wird.
Das hat zur Folge: Wer die Sache nicht versteht, weil sie so intransparent ist, kann auch seine Rechte und Ansprüche kaum wahrnehmen.

WDR: Das klingt, als wäre der einzelne Antragsteller vom Wohlwollen seines Bearbeiters abhängig.

Thomé: Exakt so. - Interview des Westdeutschen Rundfunks mit Harald Thomé, Referent für Sozialhilferecht und Gründungsmitglied des Wuppertaler Erwerbslosenvereins "Tacheles", nachzulesen hier.

Arme? Reiche und Christen helfen!

Angesichts dessen, dass von den zugestandenen Hartz-IV-Sätzen in dieser Gesellschaft dauerhaft niemand leben kann, schießen Tafeln und Kleiderkammern aus dem Boden. Allein die Zahl der Tafeln legte von 330 im Jahr 2003 auf 948 in 2020 zu.

Die sozialpolitisch produzierte Verarmung ruft private Mildtätigkeit auf den Plan. Ganz gleich, aus welchen Motiven die jeweiligen Helfer handeln - objektiv sorgen sie mit ihren Initiativen für eine Verbilligung der Sozialkosten. Denn nur durch die Existenz der Tafeln und Kammern können sich die Hartz-Bezieher überhaupt irgendwie "durchwurschteln". Gleichzeitig wandeln sich dadurch die Armen von Anspruchsberechtigten zu Bittstellern. Und schließlich stellt die so geschaffene Lage eine gute Grundlage für die Agitation der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände dar - praktizierte Nächstenliebe im Namen des Herrn.1

Bittsteller und Almosenempfänger sind auf das Wohlwollen der Geber, d.h. der Tafeln etc. angewiesen. Damit wird ihre Not auch zum Gegenstand moralisierender Beurteilungen. Diese lassen sich dann auch noch ethnisieren, wie an der Essener Tafel im Frühjahr 2018 zu beobachten war, die Ausländer wegen "schlechten Benehmens" zeitweise von der Essensvergabe ausgeschlossen hat.

Mit den Hartz-Gesetzen hält ein neues und erschreckendes Ausmaß von Armut und Verwahrlosung Einzug - vom braven Rentner mit Nebenjob und Flaschensammeln bis hin zu den unzähligen Obdachlosen (Anmerkung: Das ist buchstäblich gemeint, da bisher keine amtliche Statistik Obdachlose zählt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gab für 2019 die Zahl von 678.000 Wohnungslosen an.) All diese Formen von Armut sorgen übrigens dafür, den Lohnabhängigen beständig die Alternativlosigkeit zum Dienst am Kapital vor Augen zu halten.

"Hartzi" zu sein, wird Beruf und Schicksal für Millionen. Das führt zu den entsprechenden subjektiven Verwahrlosungsformen: Sich selbst aufgeben, zuhause hängen lassen und übergewichtig werden, Kinder mangelhaft oder gar nicht betreuen, Scham und Frust mit Drogen und Gewalt ausleben und so fort. Diese Folgen können dann so gedeutet werden, als seien sie die Ursache dafür, dass diese Leute es einfach an Anstand und am Willen zur Teilnahme an der gesellschaftlichen Leistungskonkurrenz fehlen lassen …

Politiker und ihre wissenschaftlichen Assistenten nehmen all das jedenfalls als "abgehängtes Prekariat" zur Kenntnis. Nicht, dass Letztere die von der Politik geschaffenen Formen von neuer Armut rückgängig machen wollen - nur wenige von ihnen stellen die Reformen in Frage. Sie sollen sich allerdings nicht so auswirken, dass die von Arbeitslosigkeit und Hartz IV Betroffenen den festen Glauben an ihre Chance in dieser Gesellschaft, den Staat und die "richtigen" Parteien aufgeben, Stichwort: "Verfestigung von Armutslagen" usw.

Um diese unliebsamen Folgen zu vermeiden, braucht es aus Sicht der Wissenschaft mehr Ordnungspolitik (!), mehr Sozialarbeiter (!) und mehr verantwortliche Meinungsbildung (mehr Toleranz, mehr Respekt) - sonst drohen Zustände wie in den französischen Banlieus oder den englischen Großstädten. Man sage also nicht, dass die deutsche Politik und ihre wissenschaftliche Begleitforschung nicht wirklich vorausschauend denken und handeln.

Protest, Demonstrationen, Kritik

Selbstverständlich war die Agenda 2010 nicht unumstritten - weder zum Zeitpunkt ihrer Einführung noch im späteren öffentlichen Diskurs.

In der Bundestagsdebatte 2003 warfen die damaligen Oppositionsparteien der rot-grünen Agenda vor, "kein großer Wurf" zu sein (CDU/CSU) bzw. die längst nötige Entmachtung der Gewerkschaft nicht anzugehen (FDP); umgekehrt lehnten einige SPDler die Agenda im Vorfeld als "sozial unausgewogen und nutzlos" ab.