Kritik, Demonstrationen, die Haltung des DGB und die (Selbst)Zerstörung der SPD
Seite 4: Die (Selbst-)Zerstörung der SPD
Gerhard Schröder, der ehemalige Juso-Chef, hat in seiner "Agenda 2010" Sozialpolitik als Waffe genutzt, um mit einer massiven Verarmung der lohnabhängig Beschäftigten den Wirtschaftsstandort Deutschland neu konkurrenzfähig zu machen. Seitdem bedeutet der Begriff "Reform" nicht mehr irgendeine Art von "Verbesserung", die mit positiven Erwartungen verbunden ist, sondern signalisiert einen Angriff, vor dem man sich fürchten muss.
Dass es ein SPD-Kanzler war, der diese Härte durchgesetzt hat, ist einerseits nicht verwunderlich - wahrscheinlich konnte es sogar nur ein Sozialdemokrat. Auf der anderen Seite ist es allerdings bemerkenswert, wie dieser Mann die staatspolitischen Notwendigkeiten ohne Rücksichtnahme auf das Schicksal seiner Partei exekutiert hat. Auch das ist allerdings Tradition in der deutschen Sozialdemokratie, die noch immer bereit war, für die Belange der Nation einiges aufzugeben - ob 1914 den proletarischen Internationalismus oder 1918 die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution, um nur zwei entscheidende Weichenstellungen zu nennen.3
Mit der Agenda 2010 hat sich Schröder würdig in diese schöne Tradition eingereiht. Der reformerische Flügel der Arbeiterbewegung hat mit diesem "Paradigmenwechsel" die Lebenslüge von der sozialen und demokratischen Beherrschung des Kapitalismus zum Nutzen seiner Opfer, die er zuvor in einem hundertjährigen "Lernprozess" Stück für Stück relativiert hatte, endgültig verabschiedet.
Dass das nur etwas mehr als zehn Jahre nach dem politischen Selbstmord der realsozialistischen Systemalternative geschah, war kein historischer Zufall. Die Attraktivität der Sozialdemokratie hat eben immer auch ein Stück weit von dem Versprechen gelebt, sie könne dem Bürgertum die Revolution ersparen und für die Lohnarbeiter trotzdem einiges erreichen …
Es war aber auch logisch ganz folgerichtig: Wer sich vornimmt, die politische Macht im Namen der Armen und Entrechteten zu erobern, muss auf die ökonomische Grundlage dieser Macht und ihre weltweiten Verwertungsbedingungen Rücksicht nehmen. Das schließt zahlreiche Rücksichtslosigkeiten gegen genau jene Adressaten der sozialen Machtausübung ein, die man im Ausgangspunkt zu beglücken gedachte.
Wer - wie die sozialdemokratische Arbeiterbewegung - den Staat als Hüter des Sozialen will, muss konsequent auch für dessen Erfolg in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt sein. Für diesen Erfolg wiederum muss "das Soziale" den Konkurrenzanforderungen gemäß zugerichtet werden. Diese affirmative "Einsicht", dass sich in einer kapitalistischen Gesellschaft letztlich alles daran zu messen hat, was es zum Erfolg des Kapitals beiträgt, haben Gerhard Schröder und sein Labour-Kollege Toni Blair in dem nach ihnen benannten "Papier" dann als "modernen" und "pragmatischen" Kurs der Sozialdemokratie verkauft.
Das wiedervereinigte Deutschland, das als Exportweltmeister und Hegemon in Europa seine globalen Konkurrenzansprüche auf dem Weltmarkt formuliert hat und in der Weltordnung mehr "Verantwortung" übernehmen "musste", hat mit der "Agenda" seinen gut ausgebauten Sozialstaat gleich zweimal in den Ring geworfen. Erstens hat es sich mit seiner Sozialpolitik ein Arbeitsvolk geschaffen, das gut ausgebildet, diszipliniert und sozialfriedlich für alle Ansprüche der anderen Seite bereit steht. Zweitens hatte der deutsche Sozialstaat zuvor vergleichsweise hohe Sozialausgaben in Kauf genommen, damit deutsche und internationale Kapitale mit der relativ kleinen deutschen Arbeitsbevölkerung die weltmeisterlichen Exporterfolge des Standorts produzieren konnten. Diesen Umstand hat die rot-grüne Regierung des SPD-Kanzlers Schröder zur Waffe gemacht. Sie hat über die verstaatlichen Lohnteile das gesamte nationale Lohnniveau gesenkt und das Arbeitsvolk für die aktuelle, durch den seit 1990 möglichen Zugriff auf die gesamte Weltarbeitsbevölkerung verschärfte Standortkonkurrenz prekarisiert.
Damit hat die SPD selbst die Illusion aus dem Verkehr gezogen, per demokratischer Mitbestimmung als Wähler die eigene soziale Lage verbessern zu können - eine Illusion, von der sie als Partei gelebt hat. Mit dem von ihr (und allen anderen Parteien) beschworenen "Sachzwang der Globalisierung" hat sie ihre Basis ein letztes Mal an die Hand genommen und ihr verkündet, dass ab jetzt alles so sein muss, wie es ist.
Die letzte große sozialpolitische Leistung der Sozialdemokratie ist am Ende ihr Eintritt in die politische Bedeutungslosigkeit gewesen und damit zugleich ein Lehrstück über die Möglichkeiten und Grenzen sozialer Demokratie: Die in neuer Form verarmten Volksteile verlieren den Willen, wählende Staatsbürger zu sein, wenn und weil Demokratie Alternativlosigkeit bedeutet.
Nach dem Drama die Farce
Das Abtreten der sozialdemokratischen Volkspartei4 geht allerdings nicht über die Bühne, ohne dass Teile von ihr die alte Lebenslüge wiederbeleben und im Rahmen der Linkspartei erneut die Vereinbarkeit eines auskömmlichen Arbeiterdaseins mit den Anforderungen kapitalistischen Wachstums und erfolgreichen Abschneidens in der Weltmarktkonkurrenz beweisen wollen.