Mindestlohn: Warum die Erhöhung im Cent-Bereich die Gesellschaft spaltet

Mindestlohn nur geringfügig erhöht.

Entgegen der ökonomischen Vernunft wurde der gesetzliche Mindestlohn nur um einen Cent-Betrag angehoben.

(Bild: Bruno, Pixabay)

In der Diskussion um Mindestlöhne prallen die Interessen von Kapital und Arbeit aufeinander. Ökonomische Vernunft unterliegt. Warum das die Soziale Marktwirtschaft gefährden kann.

Der gesetzliche Mindestlohn soll ab 2024 um 41 Cent steigen. Das hat die Mehrheit der Mindestlohn-Kommission am Montag gegen die Stimmen der Gewerkschaftsvertreter beschlossen. Die Lohnuntergrenze steigt damit auf 12,41 Euro pro Arbeitsstunde. Ein Jahr später soll sie dann auf 12,82 steigen. Das sind 3,4 Prozent und 3,3 Prozent mehr gegenüber dem jeweiligen Vorjahreswert.

Für alle, die im Niedriglohnbereich arbeiten, ist diese minimale Erhöhung eine bittere Nachricht. Denn mindestens die Hälfte dieser Erwerbstätigen, schätzungsweise vier Millionen, sind nicht durch Tarifverträge abgesichert.

Sie haben also nichts von den 2023 neu abgeschlossenen Tarifverträgen, in denen der Schutz der unteren Lohngruppen gegen die Preisschübe der letzten beiden Jahre durch überdurchschnittliche Lohnsteigerungen im Vergleich zu den oberen Lohngruppen im Vordergrund steht.

Die Gewerkschaften haben in den neuen Tarifverträgen den Spagat zu bewältigen versucht, einerseits keine Lohn-Preis-Spirale loszutreten, andererseits die Realeinkommensverluste in den unteren Lohngruppen durch absolute Lohnzuwächse so gering wie möglich zu halten. Es findet also eine Stauchung der Lohnstruktur im tarifgebundenen Lohnbereich zugunsten der Niedriglohngruppen statt.

Empfänger des Mindestlohns nicht gegen Preisschübe geschützt

Nicht so beim Mindestlohn. Der Schutzgedanke für die in unserem Land am schlechtesten Verdienenden spielt im Beschluss der Kommission keine Rolle.

Niedriglöhne sind Löhne bis maximal 60 Prozent des mittleren Lohns. Diese Grenze lag im April 2022 bei 12,50 Euro pro Stunde und dürfte aktuell bereits einen höheren Wert haben. Die jetzt beschlossene Erhöhung des Mindestlohns kommt bis Ende 2024 nicht einmal an diese Grenze heran.

Das steht auch in Widerspruch zu einer EU-Richtlinie, die bis Ende 2024 umgesetzt werden muss und in der empfohlen wird, die Niedriglohngrenze als Maßstab für eine angemessene Mindestlohnhöhe zu verwenden.

Der 2020 von der Mindestlohnkommission festgelegte letzte Zuwachs des Mindestlohns auf 10,45 Euro galt ab Juli 2022. Der Bundestag beschloss per Änderung des Mindestlohngesetzes eine nochmalige Anhebung auf 12 Euro ab Oktober 2022. Das sollte dafür sorgen, dass Vollzeiterwerbstätige in der untersten Lohngruppe von ihrer Hände Arbeit leben können und vor Armut geschützt sind, ohne dass der Staat ihre Einkommen subventionieren muss.

Schon vor den Preisschüben der letzten zwei Jahre blieb einer zu Mindestlohnbedingungen beschäftigten Vollzeit-Arbeitskraft nach Warmmiete und Fahrtkosten zum Arbeitsplatz nicht viel für den privaten Verbrauch übrig. Seither hat sich die finanzielle Lage für Millionen Beschäftigte verschärft.

Kommissionsvorsitzende glaubt, Mittelweg gefunden zu haben

Die Mindestlohn-Kommission hat versucht, eine Art Mittelweg zu finden: Einerseits wollte sie die Entscheidung des Gesetzgebers offensichtlich nicht völlig ignorieren. Denn dann hätte sie keine Erhöhung, sondern sogar eine Senkung des Mindestlohns beschließen müssen, da seine bisherige Steigerungsrate weit über der durchschnittlichen Tariflohnentwicklung liegt, wenn man den Sprung auf 12 Euro berücksichtigt.

Andererseits wollte sie das von der Politik gesetzte 12-Euro-Niveau nicht als Ausgangsbasis für ihren aktuellen Beschluss akzeptieren. Deshalb hat sie die Zuwachsrate, die sie für passend zur bisherigen Tariflohnentwicklung hielt, auf die alte, von ihr selbst beschlossene Basis angewendet.

Die Vorsitzende der Kommission, eine Juristin, deren Stimme in einer Patt-Situation zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerlager ausschlaggebend ist, hat das offenbar für einen fairen Kompromiss gehalten.

Leider hat sie zwei wichtige Punkte nicht beachtet: Das außerplanmäßige Heraufsetzen des Mindestlohns auf 12 Euro hatte nichts mit dem gesetzlichen Regelwerk zu tun, auf das die Kommission ihre Entscheidungen stützt. Daher war der Versuch, diesen Sprung im Nachhinein in dieses Regelwerk hineinzupressen oder mit ihm abzugleichen, von vornherein sinnlos. Er hat keineswegs dazu geführt, dem jetzt gefundenen Ergebnis den Anschein der Objektivität und Regelbasiertheit zu verleihen.

Absage an die bisherige tarifpolitische Vernunft der Gewerkschaften

Noch wichtiger aber ist, dass die Vorsitzende dem Bemühen der Gewerkschaften nicht Rechnung getragen hat, durch die jüngsten Tarifabschlüsse das gesellschaftliche Problem konstruktiv zu lösen, das mit den Preisschüben im Bereich von Nahrungsmitteln und Energie ganz unmittelbar und am stärksten für die unteren Lohngruppen entstanden ist.

Ein echter Kompromiss zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite hätte die starke Lohnstauchung nicht unter den Tisch fallen lassen dürfen, zu der sich die Gewerkschaften im tariflichen Bereich durchgerungen haben, obwohl das zulasten der höheren Lohngruppen ging.

Stattdessen hätte die Vorsitzende die durchschnittliche Erhöhung in den untersten Tarifgruppen als Ausgangspunkt ihrer Kompromiss-Suche verwenden, also von etwa zehn Prozent im ersten und dann noch einmal vier Prozent im zweiten Jahr ausgehen müssen. Dann wäre ein neuer Mindestlohn bis 2025 eher in der Größenordnung von 13,50 Euro herausgekommen.

Zwar heißt es im Mindestlohngesetz: "Die Mindestlohn-Kommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung." Aber erstens lässt das Wort "Orientierung" Spielraum für adäquate Lösungen zu, zweitens steht dort nichts von durchschnittlicher Tarifsteigerung, an der sich zu orientieren sei, und drittens umfasst die Tarifentwicklung auch die Veränderung der Lohnstruktur.

Ohnehin ist bei exogenen Schocks, die zu so unvorhersehbaren und extremen Preisentwicklungen führen, eine "nachlaufende", auf zwei Jahre ausgelegte Anpassung problematisch. Die Menschen müssen nämlich hier und heute mit den Preisschüben zurechtkommen und nicht im Nachhinein. Diesen sozialen Sprengstoff zu ignorieren, führt nur zur Verbitterung und Wahlergebnissen, deren Folgen die Oberschicht fürchten sollte.

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