Mindestlohn: Warum die Erhöhung im Cent-Bereich die Gesellschaft spaltet

Seite 2: Ging es um den Schutz von Arbeitsplätzen?

Doch die Befürworter der jetzigen Entscheidung argumentieren mit einer Gesamtabwägung, zu der laut Mindestlohngesetz auch die Wirkung des Mindestlohns auf die Beschäftigung zählt. Würde eine stärkere als die beschlossene Erhöhung des Mindestlohns in der gegenwärtigen, gesamtwirtschaftlich schwierigen Situation die Arbeitsplätze von Geringverdienenden gefährden?

Dass die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 und seine kontinuierliche Erhöhung keine Arbeitsplätze im unteren Lohnsegment vernichtet habe, sei "[v]or dem Hintergrund der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren 2015 bis 2019" zu sehen, schreibt die Kommission in dem ergänzenden Bericht unter Ziffer 4, dem auch die Gewerkschaftsvertreter zugestimmt haben.

"Die Mindestlohnforschung muss auf Basis vorhandener Daten die Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf [… die] Beschäftigung (…) von weiteren Einflussfaktoren (…) wie der Konjunktur (…) isolieren" (Ziffer 5). Dass der Mindestlohn selbst die Konjunktur stabilisiert und damit dazu beigetragen haben könnte, dass es zu keinen Arbeitsplatzverlusten kam, wird durch diesen Forschungsansatz von vornherein ignoriert. Warum die Gewerkschaften ihn mittragen, bleibt ihr Geheimnis.

Die Kommission gesteht in der Begründung zu ihrem Beschluss 2023 zu, dass der Mindestlohn auch bis Anfang 2022 "[a]uf die Arbeitslosigkeit (…) bisher keine Auswirkungen [hatte]" und es "den Betrieben bisher ganz überwiegend gelungen ist, sich an das höhere Lohnkostenniveau anzupassen (…)".

Das müsste wegen der konjunkturell extrem turbulenten Zeiten von Anfang 2020 bis Anfang 2022 für all diejenigen ein erstaunliches Ergebnis sein, die den Mindestlohn ohne konjunkturellen Rückenwind für einen Jobkiller halten.

Es geht um Gewinne und Macht

Doch die Mehrheit der Kommission zeigt sich von den selbst zitierten Forschungsergebnissen unbeeindruckt, auch wenn sie das nicht explizit sagt und nur recht allgemein auf die schwierige wirtschaftliche Lage verweist. Der Glaube, gesamtwirtschaftlich verhalte sich die Nachfrage nach Arbeitskräften wie die Nachfrage auf einem Kartoffelmarkt und müsse daher bei steigendem Preis, sprich: Lohn, zurückgehen, ist einfach fest verankert. Eine gesamtwirtschaftlich stabilisierende Wirkung kann dem Mindestlohn nicht zugestanden werden, das widerspräche dem neoliberalen Credo.

Dass das die Ansicht der Arbeitgeber ist, versteht sich von selbst. Denn jeder Cent mehr, der den zu Mindestlohnbedingungen Arbeitenden gezahlt werden muss, geht vornehmlich zulasten der Stückgewinne. Dass sich aber die Vorsitzende der Kommission dieser Auffassung offenbar nicht entgegengestellt hat, zeigt, wie überflüssig dieses Gremium ist, in dem sich die Tarifparteien gegenübersitzen und eine im Hinblick auf Makroökonomik nicht ausgebildete Juristin das Zünglein an der Waage spielen muss.

Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, hat das in einem Interview des Deutschlandfunks am 27.06.2023 auf den Punkt gebracht:

Der (…) gesetzliche Mindestlohn ist (…) nur dann notwendig, wenn die Tarifparteien (…) nicht in der Lage sind, Tarife abzuschließen, wo alle Menschen einen auskömmlichen Lohn erhalten. (…) Wenn man jetzt die gleichen Parteien, die es offensichtlich nicht schaffen, für alle diese auskömmlichen Löhne zu verhandeln, hinsetzt und sagt, jetzt verhandelt ihr den Mindestlohn, dann ist das die Quadratur des Kreises.

Wir arbeiten, um zu leben, und nicht umgekehrt. Wenn die soziale Marktwirtschaft in Deutschland nicht so betrieben wird, dass dieser Grundsatz für alle Erwerbstätigen gilt, verliert dieses Wirtschaftssystem nicht nur in den Augen derjenigen, die sich trotz Vollzeiterwerbstätigkeit im viertreichsten Land der Erde kaum mehr als das Lebensnotwendige leisten können, seine Daseinsberechtigung. Es destabilisiert dann obendrein unsere Demokratie.

Zur Person: Friederike Spiecker ist Diplom-Volkswirtin, arbeitet als freie Wirtschaftspublizistin zu nationalen wie internationalen Fragen der Wirtschaftspolitik. Einige Arbeiten sind auf ihrer Internetseite www.fspiecker.de veröffentlicht.

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