Ministerrücktritte in London: Für Boris Johnson wird es doch eng
Zwei wichtige Ressortchefs der britischen Regierung werfen das Handtuch. Möglicherweise war dies abgestimmt. Für den Premier könnte es das Aus bedeuten
Zwei wichtige und mächtige Minister der britischen Regierung, Rishi Sunak (Finanzen) und Savid Javid (Gesundheit und Soziales) sind zurückgetreten. Dies dürfte eine abgestimmte Aktion sein, die für Premierminister Boris Johnson nun das sprichwörtliche "Ende der Fahnenstange" bedeuten könnte.
Von Reportern gefragt zu werden, ob er denn heute einmal vor habe die Wahrheit zu sagen, kann kaum als Hinweis auf ein gutes Verhältnis Boris Johnsons zur Presse gewertet werden. Irgendwie sind alle längst ein bisschen müde mit "Big Dog", obgleich dieser es zuletzt immer wieder geschafft hatte den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Partygate, Misstrauensabstimmung, Niederlagen in den Nachwahlen, besorgniserregend schlechte wirtschaftliche Entwicklung auf der Insel, drohender Handelskrieg mit der EU aufgrund einseitiger Aufkündigung des Nordirland-Protokolls, die Liste der Misserfolge und Fehltritte Johnsons ist wirklich lang.
Als "Erfolg" kann er eigentlich nur verbuchen, dass sein unmittelbarer Kontrahent, Labour-Vorsitzender Keir Starmer eine eigentümliche Traumwelt bezogen zu haben scheint, in die ihm kaum jemand mehr zu folgen wagt. Starmer kündigte zuletzt an, er wolle als gewählter Premier den Brexit "hinkriegen". Das klingt ein wenig wie der Plan die Titanic auf dem Eisberg zu parken.
Der Brexit mag in manchen Bereichen Erfolge (Zuwanderung von Fachkräften von außerhalb der EU) verzeichnen, in anderen Misserfolge (wachsende Ungleichheit im Land). Wirtschaftlich wird das Bild aber immer klarer. So sehr, dass bereits viele Konservative munkeln, dem Vereinigten Königreich würde früher oder später nichts anderes übrig bleiben, als in den gemeinsamen Binnenmarkt zurückkehren, was Starmer ausschließt.
Die Bürokratie im Handel mit dem Kontinent hat überhandgenommen und lässt die Wirtschaft schrumpfen. Zugleich ging auch der Handel mit Nicht-EU-Ländern zurück. Das Konzept des "Global Britain", das mit den Ländern der Welt ohne "Fesseln" der Europäischen Union Handel betreibt, nahm keine Fahrt auf. Es ist – vorsichtig gesagt – sehr unklar, wie Starmer dies "hinkriegen" will.
Starmer hingegen scheint derart Angst vor Johnsons altem Wahlkampfschlager Brexit zu haben, dass er partout keine Fehler der Konservativen herausarbeiten will. Unter normalen Bedingungen wäre Labour somit als bloße Imitation der konservativen Partei in einer Wahlkampfauseinandersetzung chancenlos. Nur redet in Großbritannien gerade kaum jemand über den Brexit.
Affäre Chris Pincher
Es geht gerade mehr um Moral und moralische Standards. Das mag entweder tiefempfunden sein oder vorgeschoben, für den Premier Johnson läuft dies politisch auf das gleiche hinaus. Die Wogen waren neuerlich wieder hochgekocht, weil Johnson den Abgeordneten Chris Pincher, der den Ehrentitel "The Right Honourable" auf Lebenszeit zuerkannt bekam, zum parlamentarischen Geschäftsführer ernannt hatte.
Pincher hat bereits zahlreiche hohe Regierungsämter durchlaufen, auch vor der Übernahme der Partei durch Johnson. Man kann Johnson durchaus nicht vorwerfen, er würde seine Pappenheimer nicht kennen. Zu Pincher ist Johnsons Bonmot übermittelt: "Pincher by name, pincher by nature". Sinngemäß "Kneifer genannt, kneift er gerne", weil dieser die Angewohnheit hat andere Abgeordnete, durchaus unsittlich, zu zwicken.
Ein Verhalten, dass sich nicht mit der Würde des Amtes in Verbindung bringen lässt und sicherlich keine der Mindeststandards des Schutzes gegen sexuelle Belästigung und Übergriffe wahrt. Boris Johnson hingegen meinte, er habe Pincher noch einmal eine Chance geben wollen, um sich im Amt zu bessern. Manchen Lacher wird der Premierminister mit dieser Äußerung erregt haben. Es waren aber keine wohlmeinenden.
Die beiden Minister Sunak und Javid war nicht mehr zum Lachen zumute. Es brauche nun eine starke und auf Prinzipien basierende konservative Partei meinte Sajid Javid in seinem Brief zur Abdankung. Die Werte und auch der gewählte Ton Johnsons würden ein Bild von Partei und Land geben, dem sich Javid nicht mehr zugehörig fühlt.
Der als möglicher Erbe Johnsons gehandelte Finanzminister Rishi Sunak betonte in seiner Abdankung, eine Regierung müsse "kompetent, ernsthaft und ordnungsgemäß" arbeiten. In diesem Kriterienkatalog erreicht Boris Johnson null von drei möglichen Punkten. Die beiden Ex-Minister wollten weitere Enthüllungen in der Affäre Pincher nicht mehr abwarten. Vielleicht wissen sie, was kommt, vielleicht können sie es sich – wie der Rest des Landes – auch denken.
Wenn Boris Johnson in Affären verwickelt ist, dann entwickeln diese meist ähnliche Dynamiken. Sie haben einerseits die Tendenz "Dauerbrenner" zu sein und zugleich in immer größere und kaum für möglich gehaltene Höhen zu steigen.
Die Stimmung ist umgeschlagen
In der Konservativen Partei hat sich längst ein eindeutiges Bild verdichtet. Die Partei glaubt nicht mehr daran, dass Johnson noch Wahlen gewinnen kann. Als Johnson jüngst ankündigte, auch noch bei den übernächsten Unterhauswahlen antreten zu wollen, einfach, weil er so viele und große Pläne für das Land habe, schallte ihm Schweigen und unverhohlener Unmut entgegen.
Johnson wird weder wegen der Ministerrücktritte abtreten – dafür ist er viel zu stur, noch wird ihn die Partei sogleich austauschen. Dass aber zwei so bedeutende und in der Partei gut vernetzte Persönlichkeiten wie Sunak und Javid zurücktreten, zeigt untrüglich, dass sich diese in bessere Position bringen wollen.
Politisch werden die nächsten Monate übel werden. Die Teuerungs- und Energiekrise werden dem Land schwer zusetzen, während Johnson wild mit den Armen rudernd vor den nächsten Fehltritten und Affären wegrennt. Warum sollten ihn Politiker mit eigenen Karriereabsichten dabei helfen wollen, die Kohlen aus dem Feuer zu holen?
Mehrere kleinere Funktionsträger folgten bereits dem Beispiel von Gesundheits- und Finanzminister und traten ebenso von ihren Ämtern zurück. Zahlreiche konservative Abgeordnete sprachen Johnson erneut oder erstmals das Misstrauen aus. Die überwiegende Anzahl der Minister bekundete hingegen weiterarbeiten zu wollen.
Manche ließen oder lassen sich mit dem Verkünden ihrer Loyalität zu Johnson allerdings recht viel Zeit, während die anderen Parteien bereits Johnsons Abgesang anstimmten. Der Premier hat im Grunde nur mehr einen Pfeil im Köcher: Daran zu erinnern, dass er den Brexit geliefert hat. Jenen Brexit, den Labour-Chef Keir Starmer nun hinkriegen will. Aber auch dieser bizarre Selbstversenkungskurs der Opposition wird Johnson kaum mehr retten können.