Monument und Zeitkapsel
Die digitale Kultur entdeckt die Dauer
Irgendetwas scheint sich in der Computerkultur zu verändern. Die frühere Hoffnung jedenfalls, mit den Computerspeichern und -netzen alle und immer mehr Informationen für immer aufbewahren zu können, während man mit Turbogeschwindigkeit in die Zukunft düst, hat offenbar einen Bruch erlitten. Womöglich ist daran die erste allgemeine digitale Schallmauer mit verantwortlich, die aus einer unerwarteten Ecke kam: das Jahr-2000-Problem, das nicht nur gezeigt hat, wie abhängig Gesellschaften und ihr Funktionieren bereits von den Computersystemen geworden ist, sondern auch, wie anfällig die digitale Infrastruktur gegenüber kleinen Fehlern sein kann, deren Reparaturkosten in die Milliarden gehen.
Geradezu symbolisch handelt es sich dabei um die Einschätzung der Zeit, die in jedem Computer tickt. 10, 30 oder gar 50 Jahre sind in der Computerbranche, die gerade einmal selbst ein halbes Jahrhundert alt ist, gewaltige und unübersehbare Zeitspannen. Warum sollte man also jetzt bereits an etwas denken, was möglicherweise dann eintreten könnte, wenn man selbst nicht mehr lebt, die Firma pleite gegangen ist oder es ganz neue Hard- und Software gibt? So schnell wie die Prozessorgeschwindigkeit oder die Speicherkapazität der Chips zunehmen und eine Softwareversion die andere ablöst, ist bereits das nächste oder übernächste Jahr kaum mehr wirklich existent. Je größer die Geschwindigkeit, desto kleiner der Zukunftshorizont: ein seltsames Paradox. Man schlittert darauf zu, zumal das, was jetzt auf den Markt kommt, immer schon veraltet ist und sofort von der nächsten Generation überholt wird.
Angesichts der Geschwindigkeit des Alterns und der Kurzlebigkeit von digitalen Medien, aber auch dem Alzheimer anfälligen Gedächtnis der Speicher und Netze haben einige Digerati ein Projekt initiiert, das in Form eines nicht-digitalen Monuments endlich wieder Dauer einführen soll: nämlich eine riesige mechanische Uhr, die nur einmal im Jahr tickt, in der nur einmal im Jahrhundert eine Glocke ertönt und einmal im Jahrtausend gewissermaßen der Kuckuck heraussieht. Man träumt von der langen Zeit und dem hohen Alter und kehrt zur vordigitalen Zeit zurück. Das könnte ein Signum für künftige Entwicklungen werden, denn auch Kollegen am MIT haben nun die Dauer entdeckt und eine Zeitkapsel mit Informationen der Gegenwart auf der Website eingefroren.
Angestoßen hat das Projekt der Uhr des langen Jetzt Daniel Hillis, ein Computerwissenschaftler, Entwickler der Connection Machine, eines der ersten großen Parallelrechner, und einer der Pioniere des Künstlichen Lebens. Vorbild war ein Monument wie Stonehenge, das seit Jahrtausenden die Zeit überdauert. Von ebenso mythischer Dauer soll die Uhr sein, um den Menschen an der symbolischen Jahrtausendwende wieder eine Zeitdimension von mindestens 10000 Jahren zu vermitteln. So lange soll das Uhrenmonument nämlich mindestens halten und funktionieren - und auch das jetzt schon voraussehbare, aber nicht berücksichtigte Jahr-10000-Problem bewältigen. Geplant ist, sie irgendwo in einer Wüste aufzustellen, weil sie dort sicherer als in den Städten sei. Die Angehörigen der Computerkultur glauben nämlich, daß die heutige Zivilisation sich wegen der Beschleunigung der Technik, der kurzfristigen Perspektive der marktgesteuerten Wirtschaft und der lediglich auf die nächsten Wahlen schielenden Demokratie sowie der Verzettelung der Menschen in vielfältige Arbeiten oder Freizeitbeschäftigungen - Multi-Tasking - in einer pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne verhakt ist.
Digitale Medien würden zwar versprechen, ewig zu halten. Sie hätten einige Merkmale der Unsterblichkeit: große Deutlichkeit, große Universalität, große Verläßlichkeit und große Wirtschaftlichkeit, weil die Kosten für Speicher nahe gegen Null gehen. Aber die schnell fortschreitende Computertechnik ist gleichzeitig das Problem, wenn es um das Erreichen der Unsterblichkeit auch von nur einfachen Daten geht: "Indem sie ihre eigenen Kapazitäten ständig beschleunigt (also schnellere, billigere und genauere Werkzeuge herstellt, die wiederum noch schnellere, billigere und genauere Werkzeuge produzieren), veraltet sie in derselben Geschwindigkeit." Jeder neue Computer lasse die Körper von ausgestorbenen Computern, Speichermedien, Anwendungen und Dateien hinter sich. Daten können nicht mehr gelesen werden und verschwinden. Die ungeheuere Innovationsdynamik ist nicht auf lange Zeiten ausgerichtet. Jede Hardware und jede Software ist bereits zu dem Zeitpunkt, wenn sie auf dem Markt kommt, veraltet. An der nächsten Version wird schon geschrieben. Jede ist nur für eine kurze Zeit angelegt, sozusagen eine Art Zwischenbericht, und wird solange fortgeschrieben, bis die Firma Pleite macht oder eine neue, bessere Software geschrieben wird. Nichts ist auf Dauer angelegt. Monate sind schon lange für eine Generation. Doch Gesellschaften und Menschen leben in Jahrzehnten, Kulturen womöglich in Jahrhunderten. Die "Uhr des langen Jetzt" will zunächst den künftigen Generationen ein Monument hinterlassen und die digitale Kultur daran erinnern, daß ihre Medien zum Garanten einer langen Lebensdauer werden sollen. Danny Hills sagt allerdings, daß er im Jahr 2000 das erste Mal den Kuckuck herauskommen sehen möchte. Er hat es also eilig mit dem langen Jetzt. Und trotz des gegenwärtig immer schnelleren Alterungsprozesses der digitalen Medien, die keineswegs eine irdische Ewigkeit verheißen, könnte die "Uhr des langen Jetzt" wiederum nur den Wunsch zum Ausdruck bringen, endlich eine Technik zu haben, die Unsterblichkeit gewähren könnte.
Die Kollegen am MIT sind bescheidener und setzen auch noch weiterhin auf die digitalen Speicher. Die MIT Sloan School versteht sich als eine Kaderschmiede, die künftige Wirtschatfsführer an der Schnittstelle von Ökonomie und Technik ausbildet und für ihre technische Erfahrung, ihre Innovation und ihre Ausrichtung auf neue Trends bekannt sei. Man hat, rechtzeitig vor dem Jahr 2000, ein neues Curriculum und eine "next-generation web site" eingerichtet - und eben eine "digitale Zeitkapsel" auf der neuen Website eingeschlossen, die ihre Geheimnisse erst in fünf Jahren preisgeben soll, wenn denn nicht schon zuvor jemand die Verschlüsselung knackt.
Fünf Jahre ist eigentlich eine überschaubare Zeit, möchte man zumindest meinen. Mental aber womöglich die Jahrtausendwende eine Schwelle, die mit Erwartungen geladen ist und so einen nüchternen Blick verhindern könnte. Gerade was das Internet angeht, sind fünf Jahre eine ewig lange Zeit. In fünf Jahren hat sich das Internet von einer kleinen verschworenen Gemeinschaft zu einem Massenmedium entwickelt, das überdies verspricht der globale Marktplatz von morgen zu werden. Eine Flut an neuen Gesetzen geht der Woge der Erweiterung des Netzes parallel. Das Internet entwickelt sich nicht, liest auf der Website von Sloan, es explodiert: "Was heute zweifelhaft oder gar unmöglich erscheint, könnte in fünf Jahren selbstverständlich sein."
Also hatte man die Idee, wichtige und vielleicht weniger wichtige Informationen aus und über das Internet als eine Art Schnappschuß des Monats Januar 1999 zu sammeln und in die "Kapsel" zu stecken. Dazu gibt es, wenn es denn noch fünf Jahre später irgendjemanden interessieren wird, Voraussagen von Wissenschaftlern, Unternehmern, Politikern oder Prominenten, wie das Internet im Jahr 2004 aussehen könnte. Ansonsten steht die Ökonomie im Vordergrund, schließlich definiere das Internet neu, wie Unternehmen Waren und Dienstleistungen produzieren, vermarkten, verkaufen und liefern. Themen aus Technik und Kultur wurden auch mit aufgenommen, weil sie den Handel im Internet anstoßen. Es geht also um die Mergers und Aufkäufe, den Wertpapierhandel, Auktionen und Online-Shopping im Internet. Es geht um die Musikindustrie, die Angst vor den MP3-Sites hat, während das Internet eine Demokratisierung einleite. Es geht um das Sammeln von Kunendaten, die Eroberung des Intrenet durch die Frauen, die Bemühungen, den Kindern Zugriff auf bestimmte Inhalte zu verwehren, das Impeachment-Verfahren, die Einführung des Euro, die Globalisierung ...: "Die Sloan Digital Time Capsule ist ein Schnappschuß vom Internet, einem Laboratorium, das sich permanent gesteltet und umgestaltet, immer in Bewegung ist und sich ändert."
Die "Momentaufnahme" soll eine "dramatische Aussage" darstellen, weil es notwendig sei, eine Unterbrechung zu machen und sich überlegen, wohin das Leben im Internet gehen wird. Zwar wird in der Ankündigung nicht das Wort Monument gebraucht, aber ähnliches hatte man wohl im Sinne, wenn man verkündet, die Kapsel würde für denjenigen, der sie in fünf Jahren öffnet, eine "archäologische Grabungsstelle" sein. Reste und Ruinen bleiben in der Tat im Internet nicht lange zurück. Ist eine Site einmal aufgegeben oder wird sie saniert, so ist das Vergangene im digitalen Nirwana verschwunden. Kurioserweise eher bleiben gelegentlich für einige Zeit noch Ghostsites zurück, durch die der digitale Wind bläst. Es wäre absurd - aber vielleicht ist es dies ja auch? -, eine solche Zeitkapsel zu vergraben, wenn man daran glaubt, daß in den digitalen und vernetzten Speichern alle Informationen auf ewig lagern und man sie in fünf Jahren ebenso noch durch Suchmaschinen und digitale Agenten finden würde. Wie lange wird es noch HTML geben? Wie lange werden Internetmedien eine explosiv wachsende Datenbank mit sich führen, deren Dokumente womöglich unleserlich werden, weil die neuen Browser nicht rückwärts kompatibel sind? Aber eben dieses Schicksal könnte auch die Zeitkapsel selbst ereilen. Vielleicht wäre es doch besser, alles auf das geduldigere Papier auszudrucken und ein Monument in der Wüste wie die Uhr des langen Jetzt zu errichten?