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Moralische Reflexe statt Reflexivität

Was Cancel Culture, Identitätspolitik und Corona-Maßnahmen gemein ist

Die Fälle muten skurril an. Für die Übersetzung von Werken der schwarzen Poetin Amanda Gorman bedarf es heute Personen mit passender Hautfarbe oder immerhin adäquatem kulturellem Hintergrund – ein internationales Phänomen [1].

Eine neun Jahre alte "Jugendsünde" in Form eines (vermeintlich?) rassistischen Tweets verhindert die berufliche Karriere [2] einer preisgekrönten Journalistin, ihren Entschuldigungen zum Trotz.

Ein renommierter Schauspieler fragt sich ernsthaft, ob er als Nicht-Behinderter, Behinderte, als Schlanker fette Personen, oder, nicht betroffen von Trauer, traurige Personen spielen darf; von der Möglichkeit des "Blackfacing" ganz zu schweigen (Sternstunde Philosophie [3]: vgl. ab Minute 21:45). Dies angesichts des Risikos, die Gefühle oder die wahrhaftige Identität der betroffenen Personenkreise zu verletzen und die eigene Reputation aufs Spiel zu setzen.

Gemein ist diesen Fällen, dass hier über moralische Bedingungen des Handelns von Personen disponiert, die Frage verhandelt wird, unter welchen Bedingungen einem selbst und anderen Personen Achtung oder Missachtung zuzurechnen ist. Es geht um situationsunabhängige Urteile über Personen.1 [4]

Moralische Urteile sind gefährlich, weil ihnen reflexartig, ohne "mildernde Umstände" und in Bezugnahme auf fraglos gültige Werte der Anstrich von Endgültigkeit gegeben wird. Moral ist in seinen Urteilen reflexionsfeindlich, auch, um die Gültigkeit von Werten in ihrer Zweifellosigkeit hervorzuheben. Dies vor allem angesichts von Gefahren. Wer etwa in der Corona-Krise reflektierend den Wert des Lebens relativiert [5], setzt sich dem Risiko aus, sich selbst zu diskreditieren, nicht die auf diesen Wert Bezug nehmende Moral.

Mit Blick auf die Reflexionsaversion, die, anders als für Ethik, typisch ist für Moral, wird deutlich, warum in genannten Fällen Erklärungen, Entgegnungen, Argumente, selbst Entschuldigungen kaum Wirksamkeit zeigen. Steht fest, dass ein Übersetzer etwa der Kategorie aktuell missachtenswerter "alter weißer Männer" zuzurechnen ist, mag eine Verweis auf die Qualität seiner Arbeitsleistungen kaum zu überzeugen.

Einmal als Rassistin gebrandmarkt, ist kaum mehr wirksam, auf jugendliche Unbedarftheit hinzuweisen, darauf, dass auch "Identität" ein von Situationen und Personen abhängiges Konstrukt ist. Wo sind die Jugendlichen, die sich gerne von ihren Eltern auf Partys mit Gleichaltrigen beobachten ließen?

Gesellschaftliche Reflexivität

Unter gesellschaftlicher Reflexivität soll die Möglichkeit verstanden werden, Beobachtungen zu beobachten, also schon Unterschiedenes nochmals zu unterscheiden. Dadurch kann die Kontingenz von Beobachtungen oder Perspektiven sichtbar gemacht werden. Also festgestellt werden, dass ein Phänomen auf bestimmte Art gesehen werden kann, jedoch nicht notwendigerweise so.

Die moralisch unvoreingenommene Beobachtung von Verschwörungstheoretikern etwa erlaubt, Angela Merkel oder Donald Trump nicht lediglich als Politiker zu unterscheiden, sondern auch als echsenartige Wesen, die sich als Menschen tarnen [6].

Tatsächlich lässt sich der gesellschaftliche Fortschritt in den letzten zehntausenden Jahren als Zunahme gesellschaftlicher Reflexivität, als ein Zurückdrängen von moralischen, Reflexivität ablehnenden Ansprüchen verstehen. Im Wesentlichen ist dies durch die unterschiedliche Form der Kommunikation bedingt, durch die sich Gesellschaften reproduzierten, beziehungsweise reproduzieren.

Stammesgesellschaften, als früheste gesellschaftliche Formationen, standen nur die Form der flüchtigen mündlichen Kommunikation zur Verfügung. Die schlichte Repetition von mündlicher Kommunikation in Form von solcherart bewährten Traditionen, Riten und Bräuchen gab diesen Gesellschaften Kontinuität und Stabilität.

Bewährte tradierte Erwartungen reflexiv oder gar kritisch zu hinterfragen, deren Kontingenz herauszustellen war deshalb kaum möglich. Nach heutigen Begriffen wurde die Reflexion von Traditionen wohl mit strenger moralischer Missachtung bestraft. Es gab kein kommunikatives Sicherheitsnetz, das die Risiken der Abweichungen vom Erwarteten aufgefangen hätte. Eine Abweichung von einer bewährten Tradition wäre mit der unmittelbaren Auflösung dieser Tradition gleichzusetzen gewesen.

Die Flüchtigkeit und Ausschließlichkeit mündlicher Kommunikation erlaubte kaum Möglichkeiten abseits von Notwendigkeiten auszuloten. Stammesgesellschaften, im radikalen Gegensatz zur modernen Gesellschaft, konnten sich deshalb über eine Vielzahl von zehntausenden von Jahren nur in nahezu unveränderter Form reproduzieren.2 [7]

Erst die Erfindung des "kommunikativen Sicherheitsnetzes" der Schriftlichkeit und später vor allem die Entwicklung des Buchdrucks ermöglichte eine positive Konnotation von Reflexivität. Diese wurde geradezu charakteristisch für die Gesellschaft. In der sich auch durch schriftliche Kommunikation reproduzierenden modernen Gesellschaft wurde nämlich relativ ungefährlich möglich, schon Unterschiedenes ohne Verlust von Komplexität erneut zu unterscheiden. Ohne Risiko also, wie es in Stammesgesellschaften bestanden hätte, dass Traditionen, bereits Bewährtes verloren geht, würde es infrage gestellt, würde vom erprobt Erwarteten abgewichen.

Das Gegenteil wurde zum Normalfall. Durch die Buchkultur reichert sich die moderne Gesellschaft reflexiv mit Komplexität an. Multiperspektivität, die kritische Bezugnahme auf Themen, die Erzeugung von alternativen Sichtweisen wird – schriftlich bewahrt – relativ risikolos möglich. Veränderung, Fortschritt, Innovation, Kreativität konnten zu positiv konnotierten Begriffen werden.

Die reflektierende Erzeugung von kontingenten Sichtweisen ist in der modernen Gesellschaft sogar funktional abgesichert. Jeglicher gesellschaftliche Sachverhalt, jegliches Ereignis kann unter unterschiedlichen Gesichtspunkten beobachtet werden, etwa nach Maßgabe von Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Religion, Massenmedien.

Auch in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung – etwa als "marktwirtschaftlich" oder "demokratisch" – kommt zum Ausdruck, dass sich die moderne Gesellschaft als eine reflektierende versteht. So ermöglichen Märkte die Beobachtung der Kontingenz etwa von Leistungen, Qualitäten und Preisen. Demokratien ermöglichen, im Blick auf den Kontrast von Regierung und Opposition, die Beobachtung der Kontingenz der Ausübung von Macht, beziehungsweise von politischen Programmen.

Angesichts der fundamentalen Bedeutung von Reflexivität, die der modernen Gesellschaft zukommt, erstaunt, dass derzeit ein gesellschaftlicher Trend zur reflexionsfeindlichen Wiederbelebung von moralischen Ansprüchen Plausibilität gewinnt. Dies zeigt sich in anfangs erwähnten Auswüchsen einer Identitätspolitik und Cancel Culture.

Aber auch mit Blick auf aktuelle Corona-Maßnahmen. Diese sind als reflexionsfeindlich, als moralisch dominiert zu verstehen. Derzeit ist kaum möglich, die seit mehr als einem Jahr gesellschaftlich dominante epidemiologische Perspektive (grundsätzlich) infrage zu stellen. Wer kritisch die Kontingenz aktueller Corona-Politik herausstellt, etwa aus der Perspektive des Erziehungssystems oder des Wissenschaftssystems, gerät schnell in Gefahr, sich moralischer Missachtung auszusetzen [8].

Welche gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre haben dieser Tendenz gefördert?

Objektivierte Individualität

Die Individualisierung von Personen ist ein soziologisch wohlbekanntes Phänomen. Gemeint ist damit die sich ergebende Möglichkeit der Moderne, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, etwa abseits von familiären Zwängen, und die sich daraus ergebende gesellschaftliche Vielfalt von Lebensstilen.

Wenn wie folgt von "objektivierter Individualität" die Rede ist, sind hingegen Formen der Individualisierung gemeint, die sich spezifisch aus der Funktionsweise der sozialen Medien ergeben. Von objektivierter Individualität soll mit Blick auf die Profile von Nutzern sozialer Medien gesprochen werden. Die nach Möglichkeit massenhafte Vielzahl von gleichartigen Nutzerprofilen ist essenziell für die Funktionalität von sozialen Medien.3 [9]

Erläutert wird, dass soziale Medien einerseits die persönliche Wahrnehmung von Einsamkeit, andererseits die moralische Aufladung von Perspektiven vorantreiben.

Einsamkeit

Die moderne Erfahrung von Vereinzelung, des Erlebens von Einsamkeit ist natürlich kein neues, erst mit der Nutzung von sozialen Medien auftauchendes Phänomen der Massen. Davon legen etwa eindrücklich die schon lange populären Bilder Edward Hoppers [10] Zeugnis ab.4 [11] Es kann davon ausgegangen werden, dass es insbesondere die vielfach fragmentierten, Unverbindlichkeit fördernden Umwelten des modernen städtischen Lebens waren und sind, die die massenhafte (un-)persönliche Wahrnehmung sowohl von Freiheit wie auch Einsamkeit verursachen.

Allerdings scheint sich die persönliche Wahrnehmung von Einsamkeit in den letzten Jahren verstärkt zu haben. Dies zeigt etwa die Popularität von Publikationen wie "Die neue Einsamkeit: Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können" (von Diana Kinnert und Marc Bielefeld) oder "Zeitalter der Einsamkeit" (von Noreena Hertz). Die Funktionsweise der sozialen Medien legt nahe, dass diese weitverbreitete (Selbst-)Wahrnehmung zumindest mitbedingt ist durch die Nutzung dieser Formen von Kommunikation.

Die Funktionalität der sozialen Medien ist vom massenhaften Vorhandensein von Nutzerprofilen abhängig. Erst eine unüberschaubare Vielzahl von gleichartigen, gewissermaßen bindungslosen "Elementarteilchen" (Michel Houellebecq) ermöglicht, hier von einem Medium zu sprechen, dem Formen (hier: kommunikative Bindungen) aufgeprägt werden können. Etwa eine "Freundschaftsanfrage" bei Facebook, die angenommen wird; oder ein beidseitiger "Wisch" der Profilbilder mach rechts von Nutzern von Tinder.

Dabei ist festzuhalten, dass nur schon in der Nutzung selbst von sozialen Medien Unverbindlichkeit ein-, bzw. ausgeübt wird. Die Leichtigkeit und Zwanglosigkeit mit der Kontaktaufnahme möglich ist, ist durch die Kontingenz der Adressierten erkauft. Ein Kontakt mit einem bestimmten Nutzer (des Mediums) ist möglich, aber nicht unbedingt notwendig. Je leichter die Kontaktaufnahme mit einem Nutzer in sozialen Medien ist, desto unwahrscheinlicher wird, so ist anzunehmen, eine verbindliche und verbindende Fokussierung auf einen Kontakt.

Die Anwendung des Mediums selbst prägt Nutzern gewissermaßen eine Swingerclub-Mentalität auf: Alles kann, nichts muss. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass dieses Problem durch die Intention eines verantwortlichen, Verbindlichkeit anstrebenden Gebrauchs dieser Medien in den Griff zu bekommen wäre. Denn oft soll, zumindest auf Dating Webseiten, Verantwortlichkeit, eine nach Möglichkeit gegenseitige (wertschätzende) Wahrnehmung von Individualität durch die Nutzung das Medium erst etabliert werden. Diese muss nicht schon vorweg gegeben sein.

Es handelt sich bei Sozialen Medien um eine kommunikative Innovation gesellschaftlicher Evolution mit der keine langfristigen Erfahrungen verbunden sind. Es macht z.B. Handlungsweisen wie das "Ghosting [12]" wahrscheinlicher als zuvor. Ein Phänomen, das zeigt, dass die Wahrnehmung einer verantwortungslosen Unverbindlichkeit, die Nutzern von sozialen Medien aufgeprägt wird, das Potenzial hat, von Nutzern internalisiert oder generalisiert zu werden.

Dies auch deshalb, einmal mehr, weil Nutzer von sozialen Medien üblicherweise personalisierte Medien erstellen. Nämlich Listen von vielen hunderten oder gar tausenden von Kontakten, die zwar einmal mehr Kontaktaufnahme erleichtern, aber in der Tendenz auch Unverbindlichkeit zu individuellen Personen nahelegen, bzw., die Exklusivität von Bindungen zwischen Kontakten unwahrscheinlicher machen.

Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass die Erfahrung oder Wahrnehmung von gemeinsamen, geteilten Umwelten Einsamkeit maßgeblich entgegenwirkt. Im Falle einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung mag diese Umwelt zeitweilig exklusiv auch eine andere Person sein. Hoffentlich in Gegenseitigkeit, um Fälle von "Stalking" zu vermeiden.

Schon die vielfältige Fragmentierung der Umwelten hatte sich im städtischen Leben, wie erwähnt, als Problem erwiesen. Mit dem Auftauchen von Smartphones hat sich das Problem von Einsamkeit fördernden ungeteilten Umwelten allerdings auf extreme Weise verschärft.

Mittlerweile muss nicht mehr nur von fragmentierten, sondern von Einsamkeit fördernden individualisierten Umwelten von Personen die Rede sein. Wenn Studien stimmen, dass Personen mittlerweile durchschnittlich fast vier Stunden täglich vor den Bildschirmen [13] ihrer Smartphones verbringen, dann muss sogar von einem Vorherrschen von maßgeblich ungeteilten Umwelten die Rede sein.

Dass es mittlerweile gar nicht so wenige Fälle von Personen gibt, die die geteilte, damit Gemeinschaft stiftende Umwelt eines Gefängnis [14] einer individuellen, doch einsamen Freiheit vorziehen, erstaunt deshalb nicht.

Moralisierung

Vorbei sind die Zeiten, in denen oben erwähnte, wegen eines mutmaßlich rassistischen Tweets geschasste Redakteurin in spe zu ihrer Verteidigung das wohl fälschlicherweise Konrad Adenauer zugeschriebene Bonmot hätte anführen können: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden."

Die Nutzerprofile der Sozialen Medien fingieren eine Stabilität und Kontinuität von "Individualität", die vollkommen unrealistisch ist. Nutzerprofile bieten derart ideale Ankerpunkte für die Zuschreibung von moralischen Urteilen und Bewertungen. Personen kann hier, auf ihre dauerhaft gespeicherten Posts Bezug nehmend, unabhängig von Situationen, und so gewissermaßen verabsolutierend, Achtung, bzw., Missachtung zugerechnet werden.

Doch nicht nur in der effektiven situationsunabhängigen individuellen Zuschreibung von Kommunikation sind soziale Medien anfällig für Moral. Auch deren Nutzung legt moralische Kategorien nahe. Soziale Medien motivieren durch die Möglichkeit, Achtung, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu finden. So etwa durch die Vielzahl der "Freunde" oder "Follower", oder die Vielzahl von "Likes", Kommentaren, oder geteilten, etwa "retweeteten" Beiträgen. Achtung und Anerkennung wird auf diese Weise greifbar, objektiv mess- und steigerbar.

Die vorgebliche Objektivität der Messgrößen für Anerkennung und Aufmerksamkeit, Achtung und Missachtung, die soziale Medien etwa in der Form von Likes (resp. deren Abwesenheit) erlaubt, kommt moralischer Kommunikation zugute. Schließlich strebt Moral Werturteile an, die sich nach Möglichkeit nicht leichthin reflektierend – eben durch den Verweis auf Situativität – relativieren lassen.

Auch die wohl am meisten verbreitete Form schlicht ignorierter Kommunikation der sozialen Medien ist anfällig für Moral. Kann diese doch unschwer als persönliche Missachtung interpretiert werden und zu extremeren, provokanteren kommunikativen Beiträgen motivieren, um endlich Aufmerksamkeit zu erlangen.

Sei dies nun in Form der Zuschreibung von Achtung oder Missachtung. Dass sich (politisch verwertbare) Aufmerksamkeit insbesondere durch Missachtung provozierende Beiträgen hervorrufen lässt, hat Donald Trump über Jahre hinweg eindrücklich gezeigt [15].

Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass auch das Design der sozialen Medien einmal mehr moralische Kommunikation provoziert. Die Zeichenbegrenzung bei Twitter etwa legt nicht lange, ausgewogene, reflektierende, sondern kurze, angriffige, bissige, Beiträge [16] nahe. Dabei muss unabhängig von Twitter davon ausgegangen werden, dass kurze provokante und streitlustige Beiträge mehr Aufmerksamkeit generieren, als lange, ausgewogen reflektierende Posts.

Es ist notwendig, sich vor Augen zu halten, dass die Nutzerprofile der sozialen Medien in ihrer viel-milliardenfachen Anzahl [17] alle Differenzierungsformen der Gesellschaft kommunikativ durchdringen. Sozialen Medien in ihrer Anfälligkeit für moralische Kommunikation kommt daher ein alle Formen der Gesellschaft korrumpierendes Potenzial zu. Denn offenkundig können soziale Medien weitgehend die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Bewertung gesamtgesellschaftlich synchronisierend auf ein Thema lenken.

Soziale Medien können thematisch synchronisierend auf persönliche Interaktionen, auf Organisationen und auf Funktionssysteme, wie etwa Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien oder Politik, einwirken. Die dadurch möglich gewordene umfassende, gesamtgesellschaftliche Fokussierung auf ein Thema (Corona!) wäre vor einigen Jahrzehnten noch unvorstellbar gewesen.

Lockdown als Phänomen der Moral

Hier beschriebene "Megatrends" scheinen in den gesellschaftlichen Lockdowns zu kulminieren. Vereinzelung, "social distancing", einerseits, ist eines der primären Mittel der Wahl um die Pandemie zu bekämpfen. Die moralische Unterdrückung von Reflexivität, andererseits, ermöglicht, dass eine epidemiologische Perspektive eine Dominanz gewinnt, der sich alle andere gesellschaftlichen Blickwinkel (wirtschaftliche, politische, künstlerische, erzieherische, religiöse etc.) unterzuordnen haben. Die aktuelle Referenz auf ein gefährliches Virus scheint fast als Geburtshelfer zu dienen, um ohnehin bestehende gesellschaftliche Trends der letzten Jahrzehnte vollends zu verwirklichen.

Tatsächlich ist die Wahrnehmung von Ereignissen (wie aktuelle Pandemie) als Gefahr, die hinzunehmen ist, oder als Risiko, dem handelnd entgegnet werden kann, kontingent.5 [18] Es hängt von den aktuellen Gesellschaftsstrukturen, von der Wahrnehmung der eigenen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten ab, ob ein Ereignis fremdreferenziell als Gefahr, die mehr oder minder zu akzeptieren ist, wahrgenommen wird, oder als Risiko, dem durch geeignete Maßnahmen entgegnet werden kann.6 [19] Dies zeigt auch ein Blick auf Opfer des Straßenverkehrs oder von Zivilisationskrankheiten, wie Alkohol- oder Fettsucht. Die Ursachen dieser Todesfälle werden offenkundig eher als hinzunehmende Gefahr, denn als Risiko, das handelnd zu bekämpfen ist, wahrgenommen.

Auch die mit gegenwärtiger Pandemie vergleichbaren Pandemien von 1957 (Asiatische Grippe) und 1968 (Hongkong Grippe) wurden lediglich als Gefahren wahrgenommen (als übliche "Lebensrisiken"), die weithin passiv hinzunehmen sind und insofern kaum bemerkt wurden. Sie hinterließen kaum Spuren im kulturellen Gedächtnis [20] der Gesellschaft. Dies gleichwohl die faktische Gefährdung der damaligen Pandemien derjenigen von heute entspricht. Es wird davon ausgegangen, dass damals global, hochgerechnet auf die heute Weltbevölkerung, je zwischen zwei und acht Millionen Menschen starben.7 [21]

Es ist demnach nicht ausschließlich die "objektive" Gefährlichkeit der Corona-Pandemie die Lockdowns unabdingbar notwendig macht, wie Moral glauben lassen will. Vielmehr erlauben die gegenwärtige, durch "Digitalisierung" ermöglichten gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten (etwa "homeoffice", "homeschooling", "homeshopping"), Covid-19 als Risiko wahrzunehmen, als Ereignis, dem handelnd zu entgegnen ist. Gegenwärtige Maßnahmen zur Abwehr der Pandemie wären noch vor ein paar Jahrzehnten undenkbar gewesen.

Funktional kommt der Risikoaversion der Moral die Bedeutung zu, schnell auf wahrgenommene Gefahren reagieren zu können. Reflexivität in Form von Einwendungen, kritischen Vorbehalten, Missbilligungen, Widerspruch bedarf der Zeit. Eines Zeitaufwands, sagt die Moral, den wir uns im Angesicht von Gefahren, die schnelles, unmittelbares Handeln erfordern, gar nicht leisten können. Moral hat deshalb die Tendenz, kritischen Widerspruch zu diskreditieren. Etwa im Naserümpfen vor Querdenkern, Covidioten, Corona-Leugnern und -Kleinrednern, Maskenverweigerern, Kritisch-Hinterfragern [22].

Im massenmedialen Mainstream (Zeitungen und Fernsehen) kommen daher grundsätzlich alternative Perspektiven, die defätistisch wirken könnten, kaum vor. Gleichwohl natürlich "im Netz" oder den sozialen Medien Auffassungen und Meinungen jedweder Couleur zu finden sind. Diese können zwar marginalisiert, aber kaum unsichtbar gemacht werden. Moral kann immerhin festhalten, dass "das Netz" ein Tummelplatz von Covidioten und Verschwörungstheoretikern ist, hier zu findende Auffassungen nicht ernst zu nehmen sind.

Der funktional notwendige, Gefahren abwehrende Tunnelblick der Moral erlaubt deshalb prinzipiell nicht, sich selbst zur Disposition zu stellen. Kritische Einwendungen, etwa, dass Lockdowns zu einem globalen wirtschaftlicher Notstand [23] führen, sich der Tod durch Hunger [24] vervielfachen wird, Massenarbeitslosigkeit, die Vernichtung von wirtschaftlichen Existenzen vor allem im künstlerisch-kulturellen Bereich [25], in der Gastrobranche und der Tourismusindustrie zu erwarten ist, mag Moral allenfalls – unmoralischerweise? - ein reflexhaftes Achselzucken zu entlocken. Die Kritik kann aber nicht reflektierend oder argumentativ aufgenommen werden.

Es muss davon ausgegangen werden, dass es die milliardenfache Anzahl der Nutzerprofile ist, die den erstaunlich stabilen, mit Scheuklappen bewährten Blick auf Corona ermöglicht. Eine Perspektive also, die alle anderen gesellschaftlichen Sichtweisen lediglich unter dem Vorbehalt der einschränkenden Berücksichtigung des Senkens "hoher Fallzahlen" ermöglicht [26] oder zulässt. Die, wie erwähnt, für Moral anfälligen Nutzerprofile durchdringen alle funktionalen Bereiche der Gesellschaft und vermögen so die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung unmittelbar und umfassend zu beeinflussen, bzw., gar zu korrumpieren.

Die "schlimmen Bilder aus Bergamo" etwa, oder Videos "aus der Intensivstationen in Wuhan", die durch soziale Medien global und gesellschaftsweit mit Lichtgeschwindigkeit Verbreitung fanden und finden, gaukeln einen unmittelbaren Blick auf eine gewissermaßen ungefilterte Realität vor. Auf eine gefährliche Realität, auf die augenblicklich, ohne zu zögern, reagiert werden muss.

Derart vermag Moral auch das Spezialistentum für den Blick auf die Realität, nämlich wissenschaftliche Perspektiven, zu korrumpieren. Etwa in der Auswahl nur "seriöser" Wissenschaftler [27], die das Faktum einer Gefährdung auch wissenschaftlich kaum zu relativieren vermögen. Eine andere Auswahl wäre nämlich gerade dies: zu gefährlich und eben deshalb moralisch fragwürdig.

Es ist naiv, davon auszugehen, dass es eine Zeit vor und nach Corona geben wird. Nicht allein ein Virus in seiner "Objektivität", das lediglich erfolgreich zu bekämpfen ist, "wird uns unsere Freiheit, unser Leben wiedergeben", wie Moral behauptet. Hauptursache aktueller Krise ist die spezifische (veränderte) Form der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Gefahren und Risiken.

Der oft als "Digitalisierung" beschriebene Strukturwandel der Gesellschaft und sich dadurch ergebende neue Möglichkeiten des gesellschaftlichen Wahrnehmens, Bewertens und Handelns haben offenkundig dazu geführt, dass wir einerseits Kontrollmöglichkeiten in der Bekämpfung von äußeren Gefahren überschätzen. Andererseits Risiken und Gefahren, die mit gegenwärtigem moralischen Tunnelblick einhergehen, unterschätzen.

Die Krise zeigt, dass gegenwärtige sich durch Digitalisierung rasch verändernde Gesellschaft noch nicht gelernt hat, selbst- und fremdreferenzielle Bezüge "weise" auszutarieren. Also zwischen Ereignissen zu unterscheiden, die ein mutiges, riskantes Handeln erfordern, und Ereignissen, bei denen es besser ist, eine Haltung der Gelassenheit einzunehmen. Vorerst bleibt uns hier nur die – mutige, gelassene, weise, resignative, gar zynische? – Anrufung "höherer Instanzen", um Abhilfe zu verschaffen:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Reinhold Niebuhr

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[1] https://www.dw.com/de/the-hill-we-climb-von-amanda-gorman-erscheint-auf-deutsch/a-57044797
[2] https://www.welt.de/kultur/medien/article228700935/Alexi-McCammond-Cancel-Culture-US-Journalistin-verliert-Job-bei-Teen-Vogue.html
[3] https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/lars-eidinger---das-leben-als-kunstwerk?urn=urn:srf:video:1064d4bf-bb77-44d9-ac54-c883f8f9d4a2
[4] https://www.heise.de/tp/features/Moralische-Reflexe-statt-Reflexivitaet-6016689.html?view=fussnoten#f_1
[5] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wolfgang-schaeuble-dem-schutz-von-leben-in-der-coronakrise-kann-nicht-alles-untergeordnet-werden/25775670.html?ticket=ST-955850-mjhDecdkrefRSewdbPer-ap6
[6] https://rp-online.de/panorama/humbug-verschwoerungstheorien-untersucht/humbug-echsenmenschen-und-reptiloide-wollen-die-menschheit-versklaven_aid-51548823
[7] https://www.heise.de/tp/features/Moralische-Reflexe-statt-Reflexivitaet-6016689.html?view=fussnoten#f_2
[8] https://www.welt.de/gesundheit/plus228783145/John-Ioannidis-Wissenschaft-ist-zu-einer-Waffe-geworden.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Moralische-Reflexe-statt-Reflexivitaet-6016689.html?view=fussnoten#f_3
[10] https://www.wikiart.org/de/edward-hopper
[11] https://www.heise.de/tp/features/Moralische-Reflexe-statt-Reflexivitaet-6016689.html?view=fussnoten#f_4
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Ghosting_(Beziehung)
[13] https://www.businessinsider.de/tech/studie-bestaetigt-wir-verbringen-immer-mehr-zeit-am-smartphone-und-geben-dabei-immer-mehr-geld-aus/
[14] https://www.nzz.ch/feuilleton/japan-die-zelle-als-zufluchtsort-ld.1438702
[15] https://www.nytimes.com/interactive/2021/01/19/upshot/trump-complete-insult-list.html
[16] https://twitter.com/c_drosten/status/1301105400532611073
[17] https://www.horizont.net/planung-analyse/nachrichten/digital-2021-report-13-millionen-neue-social-media-nutzer-taeglich-188820
[18] https://www.heise.de/tp/features/Moralische-Reflexe-statt-Reflexivitaet-6016689.html?view=fussnoten#f_5
[19] https://www.heise.de/tp/features/Moralische-Reflexe-statt-Reflexivitaet-6016689.html?view=fussnoten#f_6
[20] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(2031201-0/fulltext
[21] https://www.heise.de/tp/features/Moralische-Reflexe-statt-Reflexivitaet-6016689.html?view=fussnoten#f_7
[22] https://www.whudat.de/rezo-wenn-idioten-deine-freiheit-und-gesundheit-gefaehrden-querdenker-covidioten-und-corona-leugner-sind-schlimmer-als-das-virus-selbst/
[23] https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/lage-verschaerft-sich-durch-corona-dramatisch-690-millionen-unterernaehrte-weltweit-zehn-millionen-mehr-als-im-vorjahr/26001674.html
[24] https://www.zeit.de/2020/22/hungersnot-corona-pandemie-globaler-sueden
[25] https://www.tagesspiegel.de/kultur/kultur-im-corona-lockdown-was-uns-verloren-geht-wenn-uns-die-kunst-verloren-geht/26644840.html
[26] https://www.heise.de/tp/features/Leben-wir-in-einer-Corona-Diktatur-5045967.html?seite=all
[27] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/corona-experten-laesst-sich-die-kanzlerin-einseitig-beraten,SN5NgG3