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Mord an Abu Akleh: Al Jazeera verklagt israelische Streitkräfte in Den Haag (Update)

Graffiti von Shireen Abu Akleh an einer Annektionsmauer im Westjordanland in Bethlehem, Juli 2022. Bild: Dan Palraz / CC BY-SA 4.0

Neue Beweise für Ermordung der Journalistin. Sender klagt beim Int. Strafgerichtshof. Es handele sich um "umfassenderen Angriff“ auf Presse. Film zeigt Brutalität der Tötung und Schamlosigkeit des Vertuschens.

Nach einer Untersuchung, die nach Angaben von Al Jazeera neue Beweise für die tödlichen Schüsse [1] auf die palästinensisch-amerikanische Journalistin Shireen Abu Akleh im Mai zutage gefördert hat, teilte der Nachrichtensender mit, dass er beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) Klage gegen die israelischen Streitkräfte eingereicht hat [2]. Der Sender erklärt:

Die Rechtsabteilung von Al Jazeera hat eine umfassende und detaillierte Untersuchung des Falles durchgeführt und neue Beweise gefunden, die auf mehreren Augenzeugenberichten, der Untersuchung mehrerer Videoaufnahmen und forensischen Beweisen basieren.

Die Untersuchung habe ergeben, dass Abu Akleh und ihre Kollegen "direkt von den israelischen Besatzungstruppen beschossen wurden", als sie am 11. Mai über eine Razzia der Streitkräfte in Dschenin im besetzten Westjordanland berichteten.

"Die Behauptung der israelischen Behörden, Shireen sei versehentlich bei einem Schusswechsel getötet worden, entbehrt jeglicher Grundlage", so Al Jazeera. Rodney Dixon, ein Anwalt des Senders, fordert, dass der Internationale Strafgerichtshof die Verantwortlichen für die Ermordung von Abu Akleh ermitteln solle. Er teilte mit [3]:

Die Urteile des Internationalen Strafgerichtshofs sehen vor, dass die Verantwortlichen untersucht und zur Rechenschaft gezogen werden. Andernfalls tragen sie die gleiche Verantwortung, als ob sie selbst das Feuer eröffnet hätten.

Dixon wies darauf hin [4], dass der ICC die Klage "im Kontext eines umfassenderen Angriffs auf Al Jazeera und Journalisten in Palästina" betrachten soll. Er bezog sich dabei auf den Bombenanschlag auf ein Gebäude [5], in dem im Mai 2021 Büros von Associated Press und Al Jazeera untergebracht waren.

Es handelt sich nicht um einen einzelnen Vorfall, sondern um eine Tötung, die Teil eines größeren Musters ist, das die Staatsanwaltschaft untersuchen sollte, um die Verantwortlichen für die Tötung zu identifizieren und sie anzuklagen.

Tod keineswegs außergewöhnlich

Der Tod der palästinensischen-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh vor einem halben Jahr ist keineswegs außergewöhnlich. Denn Gewalt findet alltäglich in den von Israel kontrollierten und okkupierten Palästinensergebieten Westjordanland und Gazastreifen statt. In der letzten Woche wurden allein neun Palästinenser [6] in Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee getötet.

Seit 2018 sind insgesamt mindestens 144 palästinensische Journalisten von israelischen Sicherheitskräften in den besetzten Gebieten verwundet und zwei getötet worden, berichtet Reporter ohne Grenzen [7]. Abu Akleh wäre, wenn man der Indizienlage folgt, das dritte Opfer.

Über 45 palästinensische Journalisten sind seit dem Jahr 2000 von israelischen Streitkräften erschossen worden, so das palästinensische Informationsministerium [8]. Nach UN-Angaben [9] sind im letzten Jahr zudem 380 Palästinenser, darunter 90 Kinder, von israelischen Soldaten getötet worden.

Was den Fall Abu Akleh besonders macht, ist, dass das übliche Unter-den-Teppich-Kehren diesmal nicht wie sonst funktioniert. Das hat seine Gründe. Denn bei der Getöteten handelt es sich um eine bekannte TV-Journalistin mit US-Pass, und der Vorfall wurde von einer Reihe von Journalisten beobachtet und aufgenommen.

Der neue und ergreifende Dokumentarfilm "The Killing of Shireen Abu Akleh" [10] für die Sendung "Fault Lines" von Al-Jazeera-Reporter Sharif Abdel Kouddous ist daher nicht nur ein Film über den Tötungsvorgang selbst, sondern auch einer über die israelische Vertuschungs-PR danach.

The Killing of Shireen Abu Akleh | Fault Lines

Er dokumentiert [11], wie ein Schuss unterhalb des Schutzhelms die prominente wie beliebte Al-Jazeera-Journalistin – die seit einem Vierteljahrhundert für den Sender berichtete und in der arabischen Welt allseits geschätzt wurde – in den Kopf traf und tötete. Shireen Abu Akleh trug wie ihre Kolleg:innen eine blaue Schutzweste mit "Presse"-Aufschrift, als sie sich in Dschenin im Westjordanland aufhielt, um von dort zu berichten.

Unmittelbar nach dem tödlichen Schuss behauptete Israel [12], dass ein palästinensischer Schütze die Journalistin erschossen habe. Nachdem ein Video der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem [13] diese Erzählung widerlegte und Zeugen, einschließlich einer Reihe von Journalisten vor Ort, aussagten, dass Abu Akleh von israelischen Soldaten getötet worden sei, änderten die Behörden ihre Aussage.

Schließlich wurde behauptet, Abu Akleh sei ins Kreuzfeuer geraten, als "ein palästinensischer Bewaffneter mehrere Schüsse auf den israelischen Soldaten abfeuerte". Untersuchungen von diversen Medien wie der New York Times [14] oder CNN [15] belegen jedoch, dass es keine Gefechte vor Ort gegeben habe und die tödlichen Schüsse von der Stelle gekommen sind, wo sich die israelischen Scharfschützen befanden.

Aufgrund der Beweislast und des internationalen Drucks änderte das israelische Militär erneut die Storyline. Jetzt behauptete man [16], dass Abu Akleh möglicherweise von einem israelischen Soldaten getötet wurde, aber der Schuss ein unbeabsichtigter Unfall inmitten eines Schusswechsels gewesen sei.

Eine UN-Untersuchung [17] kommt jedoch zu dem Schluss, dass es sich um "mehrere einzelne, anscheinend gezielte Schüsse … aus Richtung der israelischen Sicherheitskräfte" auf die sieben gut erkennbaren Journalisten gehandelt habe. Gefechte vor Ort habe es nicht gegeben.

Der Al-Jazeera-Dokumentarfilm liefert nun einen Video-Beweis dafür, dass es sich um eine gezielte Tötung gehandelt hat. Die darin zum ersten Mal veröffentlichten Aufnahmen, die vor und während der Erschießung gemacht wurden, dokumentieren nicht nur, dass es vor Ort keine Gefechte gegeben hat, sondern auch, dass mindestens ein israelischer Soldat die Journalisten mehrmals bewusst beschoss.

"... gewohnt, mit Lügen über die Tötung von Palästinensern davonzukommen"

Es sind verstörende Szenen. Man sieht, wie die Journalist:innen, deutlich sichtbar als Pressevertreter gekennzeichnet, langsam die Straße heruntergehen und plötzlich aus heiterem Himmel auf sie gefeuert wird.

Erst wird ein Kollege von Abu Akleh verwundet, während sie selbst versucht, sofort hinter einem Baum Schutz zu finden. Doch das gelingt ihr nicht mehr. Sie wird vorher von einem Schuss niedergestreckt. Eine andere Reporterin, Shatha Hanaysha, schafft es hinter einen Baum, um den Salven zu entgehen. Wir sehen, wie sie sich niederkniet und verzweifelt versucht, ihrer Kollegin, die vor dem Baum ausgestreckt liegt, zu helfen. Doch sobald Hanaysha ihre Deckung verlässt, wird sofort weiter auf sie geschossen.

Ich erinnere mich, als ich das Blut auf dem Boden sah, als das Blut anfing herauszulaufen, da wurde mir klar, dass sie eine Kugel in den Kopf bekommen hatte.

Als ein Mann hinzukommt, um Abu Akleh aus der Schusslinie zu ziehen, wird auch er beschossen. Er gibt den Versuch schließlich auf und hilft Hanaysha stattdessen in Sicherheit.

Nicht allein die Videos, sondern auch eine Rekonstruktion der Ereignisse, die zeigt, dass die Soldaten klare Sicht auf die Journalist:innen hatten, die zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung darstellten, belegt, dass die Schüsse ausschließlich auf die Journalisten gerichtet waren.

Zugleich wird im Film die Strategie Israels nachgezeichnet, mit der die Hintergründe der Tat vernebelt werden. Der Direktor von B’Tselem Hagai El-Ad sagt im Film, dass das israelische Militär bekannt dafür sei, falsche Behauptungen über die Tötung von Zivilisten durch Soldaten zu machen, um im Unklaren zu lassen, was wirklich geschehen sei.

Sie sind es gewohnt, mit Lügen über die Tötung von Palästinensern davonzukommen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch vor Gericht. … Um das Narrativ zu kontrollieren, haben sie ihre Version ständig geändert, von "es war wahrscheinlich ein Palästinenser" zu "wir sind nicht sicher, wer es getan hat" zu "es könnten wir gewesen sein" zu "es waren wahrscheinlich wir". Jede Änderung in diesem Narrativ wurde nicht freiwillig von Israel vorgenommen. Jede einzelne Änderung in der Darstellung war das Ergebnis von Untersuchungen und Fakten. Am Ende hatten sie dann keine andere Wahl mehr.

Eine unabhängige Untersuchung lehnt Israel bis heute ab [18]. Die Biden-Administration in den USA hat sich der israelischen Behauptung, dass man nicht genau wisse, was passiert sei, ohne eigene Nachforschungen angeschlossen [19]. Die EU ließ ihren anfänglichen Ruf nach einer unabhängigen Untersuchung der Tötung am Ende fallen [20].

Insbesondere deutsche Medien [21] zeigen kaum Interesse daran, den Fall genauer zu beleuchten, obwohl es sich um eine US-Amerikanerin und prominente Journalistin handelt. Die UN-Studie wurde schnell als Fußnote abgetan. Die neuen Videobeweise und die weitere Entwicklung des Falls werden, mit wenigen Ausnahmen, dem deutschen Publikum vorenthalten. Kontexte werden nicht mitgeteilt, unangenehme Stimmen ausgefiltert, die Vernebelungsstrategie Israels geflissentlich übersehen.

Doch das könnte sich ändern. Im US-Kongress rumort es. Dutzende von Abgeordneten und Senatoren [22] verlangen, dass es eine unabhängige Untersuchung des Tods der US-Bürgerin Abu Akleh geben müsse. Senator Chris Van Hollen [23] sagt im Film, "dass wir der Sache auf den Grund gehen müssen und die Tötung nicht unter den Teppich gekehrt werden darf". Auch die Familie der Journalistin, die in den USA lebt, macht Druck auf die US-Regierung und fordert Aufklärung über die Tötung [24].

Es gibt auch einen ersten Erfolg: Das FBI hat nun angekündigt [25], die Umstände von Abu Aklehs Tod zu untersuchen. Israel hat bereits mitgeteilt, dass man nicht mit dem FBI kooperieren werde – indem man zum Beispiel die Schusswaffen sowie die Bodycam-Aufnahmen der Soldaten zur Verfügung stellt bzw. Befragungen der Soldaten erlaubt. Es sei eine Einmischung in innere Angelegenheiten, heißt es aus Tel Aviv – obwohl Dschenin sich gar nicht auf israelischem Territorium befindet und der internationalen Rechtsprechung gemäß der vierten Genfer Konvention unterliegt [26].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7367000

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.commondreams.org/news/2022/05/11/blatant-murder-al-jazeera-accuses-israel-killing-journalist-shireen-abu-akleh
[2] https://network.aljazeera.net/en/press-releases/al-jazeera-refers-israeli-occupation-forces-international-criminal-court-icc-over
[3] https://www.reuters.com/world/middle-east/al-jazeera-files-lawsuit-international-criminal-court-over-journalists-killing-2022-12-06/
[4] https://www.aljazeera.com/news/2022/12/6/al-jazeera-takes-the-killing-of-shireen-abu-akleh-to-the-icc
[5] https://www.commondreams.org/news/2021/05/15/israeli-bombs-destroy-gaza-media-center-ap-al-jazeera-others-taken-out
[6] https://www.aljazeera.com/news/2022/12/2/israeli-police-shoot-dead-palestinian-in-occupied-west-bank
[7] https://rsf.org/en/israel-palestine-four-years-violence-against-palestinian-journalists-covering-march-return-protests
[8] https://www.newarab.com/news/remembering-journalists-killed-israel-2000
[9] https://www.aljazeera.com/news/2022/5/12/timeline-violence-in-the-occupied-west-bank
[10] https://www.aljazeera.com/program/fault-lines/2022/12/1/the-killing-of-shireen-abu-akleh
[11] https://truthout.org/video/new-film-exposes-israels-cover-up-us-response-to-shireen-abu-aklehs-murder/
[12] https://www.heise.de/tp/features/Tod-von-Journalistin-Abu-Akleh-Viele-Fragen-bleiben-offen-7097796.html?seite=all
[13] https://www.btselem.org/press_releases/20220511_palestinian_gunfire_in_footage_distributed_by_israel_couldnt_have_killed_shireen_abu_akleh
[14] https://www.nytimes.com/2022/06/20/world/middleeast/palestian-journalist-killing-shireen.html
[15] https://edition.cnn.com/2022/05/24/middleeast/shireen-abu-akleh-jenin-killing-investigation-cmd-intl/index.html
[16] https://www.idf.il/en/articles/2022/final-conclusions-of-shireen-abu-akleh-investigation/
[17] https://www.theguardian.com/world/2022/jun/24/shireen-abu-aqleh-palestinian-journalist-killed-by-israeli-bullet-un-says
[18] https://www.latimes.com/world-nation/story/2022-11-15/israel-pm-rejects-us-probe-into-killing-of-shireen-abu-akleh
[19] https://www.theguardian.com/world/2022/dec/04/shireen-abu-akleh-documentary-faultlines-israel-biden-palestine
[20] https://euobserver.com/world/156095
[21] https://www.heise.de/tp/features/UN-Bericht-Israelische-Soldaten-haben-offenbar-gezielt-Journalistin-Akleh-erschossen-7154689.html
[22] https://www.theguardian.com/world/2022/sep/26/shireen-abu-akleh-us-senators-israel
[23] https://www.theguardian.com/us-news/2022/sep/07/shireen-abu-aqleh-us-senator-rejects-israeli-army-report
[24] https://www.democracynow.org/2022/12/2/al_jazeera_killing_shireen_abu_akleh
[25] https://www.aljazeera.com/news/2022/11/14/us-to-open-investigation-into-shireen-abu-akleh-killing-reports
[26] https://www.theguardian.com/world/2022/dec/04/shireen-abu-akleh-documentary-faultlines-israel-biden-palestine