Moskauer Machtspiele: Was bedeutet die Degradierung von "General Armageddon"?
Kehrtwende im russischen Ukraine-Kommando: Krieg geht vor Frühjahrsoffensive in neue Runde. Analysten fragen sich: Ist Putins strategisches Ziel überhaupt (noch) der Sieg auf dem Schlachtfeld?
Wie das russische Verteidigungsministerium am Mittwoch vergangener Woche bekanntgab, hat Verteidigungsminister Sergej Schoigu den Generalstabschef der Armee, Waleri Gerassimow, zum Oberbefehlshaber der "militärischen Sonderoperation" gegen die Ukraine ernannt. Der damit zu einem von drei stellvertretenden Befehlshabern degradierte Sergej Surowikin, bekannt als "General Armageddon", war erst im Oktober letzten Jahres Oberbefehlshaber geworden.
"General Armageddon" gedemütigt
Surowikin war insoweit nur vom 8. Oktober 2022 bis 11. Januar 2023 Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Wegen seines brutalen Agierens in Syrien hatte er den Spitznamen "General Armageddon" erhalten. Er war jedoch schon als Kommandeur in Tschetschenien äußerst brutal vorgegangen und ist sowohl Veteran der beiden Tschetschenien-Kriege als auch des Afghanistan-Abenteuers.
Sprichwörtlich wurde seine Skrupellosigkeit, mit der er die Bombardierungen Aleppos zu verantworten hatte und mit der er die Stadt in Schutt und Asche legte, ohne die Zivilbevölkerung zu schonen. Surowikin gilt auch als Initiator der groß angelegten Raketenangriffe auf die Ukraine, einschließlich der zivilen Infrastruktur. Nur zwei Tage nach seiner Ernennung zum Oberbefehlshaber im vergangenen Oktober begann der brutale Beschuss in der gesamten Ukraine.
In der bürokratischen Hierarchie, heißt es in westlichen Presseberichten zum Kommandowechsel, stelle die Ablösung kaum einen Bruch dar: Surowikin sei Gerassimow bereits zuvor unterstellt gewesen, betont unter anderen das Medienportal MSN.
Die beiden anderen stellvertretenden Kommandeure der Streitkräfte der Russischen Föderation in der Ukraine sind General Oleg Saljukow, Oberbefehlshaber der russischen Armee, und Oberst Alexej Kim, Generaloberst und stellvertretender Chef des Generalstabs.
Spekulationen: Was ist los im Kreml?
Die Ernennung des bisherigen Generalstabschefs zum "General an vorderster Front" hat zu Spekulationen geführt. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, dass "die Kommandoebene für militärische Sondereinsätze angehoben wurde, um den Auftrag zu erweitern, eine engere Koordinierung zwischen den verschiedenen Teilstreitkräften zu gewährleisten, die Qualität der Logistik und die Effizienz der Truppenführung zu verbessern".
Hintergrund dürften die beträchtlichen Probleme sein, die in den letzten Wochen und Monaten zutage traten. Dazu zählt auch ein demütigender Rückzug aus Cherson, dem einzigen regionalen Zentrum, das die russischen Streitkräfte erobert hatten, nur wenige Wochen nachdem der Kreml das Gebiet widerrechtlich annektiert hatte.
Der (in gewisser Hinsicht nur dem Anschein nach) "neue" Oberbefehlshaber Gerassimow gilt unter anderem als Schlüsselfigur schon bei der Invasions-Planung. Nunmehr kommt ihm das direkte Kommando über den Angriffskrieg wie auch die Rolle des Hauptgesprächspartners gegenüber den Vereinigten Staaten zu.
Putins Koch und der "Mann fürs Grobe"
Waleri Gerassimow ist ein kremltreuer Kandidat; bei den Surowikin-Anhängern (und vielen Militärbloggern) jedoch äußerst unbeliebt. Hinter den Kulissen werden Streit und Rivalitäten vermutet. Man sagt, Putin wolle die erstarkte Stellung der Truppe um Jewgeni Prigoschin (Gruppe Wagner) und Ramsan Kadyrow (Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien und Putins "Mann fürs Grobe") begrenzen, die die bisherige Kriegstaktik zunehmend kritisiert hatten. Sie rechnen sich offenbar jüngste Rückeroberungen zu, was Putin ärgern dürfte.
Jewgeni W. Prigoschin, Gründer des russischen privaten Militärunternehmens Wagner Group wird auch als "Putins Koch" bezeichnet. Das Handelsblatt nannte ihn den "Warlord der Schattenarmee Wagner"
Ein "wütender Despot"?
Die britische Daily Mail schrieb in diesem Zusammenhang:
Die peinliche Degradierung von General Armageddon erfolgte zu einem Zeitpunkt, als Putin über die kollabierende russische Wirtschaft inmitten der scheiternden Kriegsanstrengungen wütete und einen seiner stellvertretenden Ministerpräsidenten öffentlich demütigte. Der wütende Despot schimpfte in einer Videokonferenz der Regierung über Denis Manturow, weil er es versäumt hatte, militärische und zivile Flugzeuge zu beschaffen.
Daily Mail, 11./12. Januar 2023
Putin, der sich und das russische Verteidigungsministerium aus der Kritik am Ausbleiben greifbarer Erfolge auf dem Schlachtfeld herausnehmen will, ist aber keineswegs am Ende, wie manche ihm das prophezeien. Die Titulierung als "wütender Despot" wird seiner Rolle, seinen Ambitionen und seinem Durchhaltevermögen möglicherweise nicht gerecht.
Es ist die daher die Frage, ob Putin tatsächlich in seinen Untergang schlittert, wie der Historiker Mark Galeotti vom britischen Sicherheits- und Militärforschungsinstitut RUSI in der aktuellen Ausgabe von RUSI Reflects es kommen sieht. Galeotti ist Experte für russische Sicherheitsfragen – und sieht Russland letztlich chancenlos:
Ob sich die Ukrainer weiterhin gegen die russische Aggression wehren oder von ihr überwältigt werden, wir werden sehen, wie das Putin-Regime in seinen Untergang schlittert.
Mark Galeotti, RUSI Senior Associate Fellow
Demgegenüber gibt es Analysten, die Putin attestieren, mittel- bis längerfristig trotz seiner für den Westen weiterhin mit Fragezeichen versehenen "Strategie" Erfolg zu haben. Einer von ihnen ist der chinesische Politologe Jin Canzhong, Professor an der School of International Relations at the People's University of China.
Eine neue Runde bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine wird äußerst heftig ausfallen, schreibt Jin Canzhong in einem aktuellen Beitrag auf der chinesischen Nachrichtenplattform Guancha. Weiter erklärt er:
The conflict between Russia and Ukraine is still in full swing, and there is a high probability that in 2023 it will continue to heat up, and not come to an end.
Jin Canzhong, Politologe
Was heißt "Sieg"?
Russland, so beurteilt Canzhong die Lage, habe alle Chancen, den Konflikt in der Ukraine zu gewinnen. Wenn sich zeige, dass Russland mit den westlichen Sanktionen fertig werden kann, werde Moskau zum Zug kommen und Vergeltung an den USA üben.
Das japanische Magazin Japan Business Press (JPB ) schlägt in die gleiche Kerbe. In seiner Analyse vom Wochenende heißt es:
Putins strategisches Ziel ist nicht mehr der Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern den Krieg langfristig zu verlängern und nicht zu beenden.
Japan Business Press, 14. Januar 2023
Möglicherweise vertun sich demnach westliche Analysten mit ihrer Fixierung auf Sieg und Niederlage. Wie es aussieht, steht vorerst ein weiteres blutiges Kriegsjahr bevor. Stoßen Putins Möglichkeiten für militärische Operationen definitiv an eine Grenze? Was passiert, wenn vom Westen zugesagte Waffen dann tatsächlich ins Spiel kommen? Was erst mal noch auf sich warten lassen dürfte, allen Versprechungen zum Trotz.
Putins "neuer" Feldherr Gerassimow kann den Krieg nicht noch einmal von vorne beginnen. Er wird alles daransetzen, die ukrainischen Streitkräfte weiter zu zermürben und das von Russland einseitig für annektiert erklärte Gebiet zu konsolidieren.
Aber etwas deutet sich auch an: Kurz vor dem einjährigen Jahrestag der russischen Invasion wird Putin zumindest nach einem russischen Teilerfolg Ausschau halten. Möglichst nach einem, den er sich selbst zuschreiben kann. Darüber hinaus ist jedermann klar, dass es eine Frühjahrsoffensive geben wird.
Und obwohl Mark Galeottis Voraussagen und die einiger seiner fernöstlichen Kollegen sich voneinander unterscheiden, sagt auch er: Putins strategisches Ziel ist nicht der Sieg auf dem Schlachtfeld. Der Kremlchef hoffe stattdessen, dass Russland dem Westen zeigen werde, dass es auf lange Sicht dabei ist, sprich: Spieler auf dem Großen Schachbrett.