Münchener Sicherheitskonferenz: Wenn der Schutz zur Bedrohung wird

Die Nato-Staaten rüsten massiv auf. Deutschland soll fünf Prozent oder mehr des BIP fürs Militär ausgeben. Alles stützt sich auf eine Hoffnung.
Die nationalen Verteidigungsetats der Nato-Staaten sollen künftig deutlich über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen. Durch mehr Abschreckung würde der Frieden gesichert.
Doch wenn in die Landesverteidigung in einem derartigen Ausmaß investiert wird – so die These – wird hingegen die Kriegsgefahr steigen. Welche Risiken bestehen daher im Zuge der öffentlich geforderten militärischen Aufrüstung und was passiert im konkreten Verteidigungsfall?
Wer vor einem Krieg abschrecken will, muss ihn kämpfen können, lautet die gültige Maxime der militärischen Sicherheitspolitik.
Nach dieser Auffassung kann Kriegsverhinderung nur funktionieren, wenn neben der permanenten Drohung mit Massenvernichtungswaffen auch die Fähigkeit und Entschlossenheit glaubhaft dokumentiert werden kann, einen möglichen Verteidigungskrieg erfolgreich zu führen. Landesverteidigung ist aber nur dann sinnvoll und gegenüber der eigenen Bevölkerung zu verantworten, wenn das, was verteidigt werden soll, nicht zerstört wird.
Die Bundeswehr müsse wieder befähigt werden, um ihren eigentlichen Auftrag der Landesverteidigung erfüllen zu können. Deshalb seien Ausrüstungsdefizite zu beheben und umfangreiche Beschaffungen notwendig, um Heer, Luftwaffe und Marine in die Lage zu versetzen, die Bundesrepublik Deutschland verteidigen zu können.
Das von der Nato geforderte Zwei-Prozent-Ziel des Bruttoinlandsprodukts wurde von der Bundesrepublik inzwischen erfüllt, scheint aber zur Finanzierung der Ausrüstung aus der Sicht verschiedener Politiker nicht auszureichen. Inzwischen kursieren Forderungen von 3,5 Prozent (Robert Habeck) bis zu voluminösen fünf Prozent, die der amerikanische Präsident Donald Trump von den Nato-Staaten fordert.
Es ist zu bezweifeln, dass Sachverstand diesen Postulaten zugrunde liegt. Fünf Prozent des BIP wären über 200 Milliarden Euro für Deutschland – und das jedes Jahr. Vielmehr wäre es notwendig, dass führende (Fach-)Politiker und hohe Militärs offen und ehrlich benennen, welche Gefahren mit einer massiven Aufrüstung der Bundeswehr verbunden wären.
Tritt der Verteidigungsfall ein, bedeutet Landesverteidigung Krieg!
Die gültige Nato-Strategie schließt den möglichen Einsatz von Atomwaffen nicht aus. Sie geht davon aus, wenn militärisch geboten, mit einem begrenzten, kontrollierten Ersteinsatz taktischer Atomwaffen eine rasche Kriegsbeendigung erreichen zu können. Ein eskalierender großflächiger Einsatz von Atomwaffen, dies bedarf keiner weiteren Darlegung, würde das Leben in Europa auslöschen.
Was bedeutet der Verteidigungsfall für die Menschen in Deutschland und in Europa? Mit wie vielen Toten, verletzten und traumatisierten Menschen, mit welchen Zerstörungen der lebenswichtigen Infrastruktur kalkulieren die Militärs der Bundeswehr und der Nato? Wo werden im Falle eines Versagens der Abschreckung konventionelle Waffen zum Einsatz kommen?
Ein Schlachtfeldszenario wie im 1. Weltkrieg ist vollkommen unrealistisch, da sich ein Krieg nicht mehr regional begrenzen lässt. Wie sollen Ballungszentren, das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden? Wie sehen realistische Evakuierungspläne von Millionen Menschen aus? Wie viele Millionen flüchtende Menschen werden einkalkuliert? Ist eine medizinische Versorgung von Hunderttausenden verletzter Soldaten und Zivilisten überhaupt möglich?
Es ist zu bezweifeln, dass diese existenziellen Fragen über die Folgen eines Krieges in Deutschland und Europa überhaupt gestellt, geschweige denn von Militärexperten, Generälen und führenden Politikern beantwortet werden können.
Landesverteidigung ist semantisch positiv besetzt, verharmlost aber das, was es ist: Krieg!
Die USA und Russland besitzen annähernd jeweils 5.000 Atomwaffen, die als Gefechtsfeldwaffen mit niedriger Sprengkraft (ca. 0,3 KT), als taktische Atomwaffen mit bis zu 50 KT TNT, als strategische Nuklearwaffen im Bereich von MEGA-Tonnen einsetzbar wären.
Die über Hiroshima von den USA abgeworfene Atombombe besaß ca. 15 KT TNT Sprengkraft.
Diese Zahlen dokumentieren, welches Zerstörungspotential eingesetzt werden könnte. Käme nur ein begrenzter Teil der Atomwaffen zum Einsatz, wäre alles Leben in Europa sehr wahrscheinlich ausgelöscht.
Grundlegend verändert haben sich in den letzten drei Jahrzehnten alle Parameter der konventionellen Waffentechnik: vor allem durch die Steigerung der Reichweite, der Durchschlagskraft und Zerstörungswirkung im Zielbereich. Die Reaktionszeiten verkürzen sich dramatisch, weil feindliche Flugkörper tieffliegend kaum ortbar sind. Hyperschallraketen, konventionell oder gar nuklear bewaffnet, sind in wenigen Minuten im Zentrum gegnerischer Staaten und kaum zu verteidigen.
Mit einer fünf- bis zehnfachen Schallgeschwindigkeit tragen sie ihre tödliche Last in ein anderes Land. Enthauptungsschläge werden hierbei auch bei konventioneller Bewaffnung der Raketen möglich. Damit steigt auch das nukleare Eskalationsrisiko, da eine Nuklearmacht auf einen Enthauptungsschlag höchstwahrscheinlich mit einem nuklearen Gegenschlag reagieren wird.
Die Nukleare Teilhabe der Nato enthält konkrete atomare Kriegsführungsoptionen mit weitreichenden Konsequenzen: Nuklearwaffen könnten "chirurgisch" gezielt und begrenzt eingesetzt werden. Rüstungstechnisch führt diese Entwicklung zur Miniaturisierung der Atomwaffen mit hoher Zielgenauigkeit sowie sicherheitspolitisch zu einer Herabstufung der Nuklearen Schwelle.
Risiken der geplanten Stationierung von US-Marschflugkörpern ab 2026 in Deutschland
In einer kurzen Gemeinsamen Erklärung vereinbarten am Rande des Nato-Gipfels Anfang Juli 2024 in New York die USA und die Bundesrepublik die Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme: Ab 2026 sollen nur in Deutschland Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Raketen und neue Hyperschallwaffen stationiert werden, die konventionell und – wenn gefordert – auch mit Atomsprengköpfen bewaffnet werden könnten.
Mit über 2.000 Km Reichweite könnten sie im Tiefflug in nur wenigen Minuten Zielobjekte in Russland erreichen und bekämpfen. Beschlossen wurde das Rüstungsprojekt ohne ein gleichzeitiges Verhandlungsangebot an Russland – wie beim Nato-Doppelbeschluss unter Helmut Schmidt. Ein dichtbesiedeltes Land wie die Bundesrepublik könnte zur Zielscheibe russischer Atomraketen werden.1
Allerdings muss hierbei angemerkt werden, dass auch Russland Hyperschallraketen in Kaliningrad, ca. 500 Kilometer von Berlin entfernt, stationiert hat. Hier wird deutlich, wie wichtig ein Angebot zur gemeinsamen Abrüstung im Zuge einer vorgesehenen Raketenstationierung gewesen wäre.
Gefahr durch Cyber-Waffen und KI
Durch den Einsatz von Cyber-Waffen und KI besteht die Gefahr, dass die Kontrollsysteme der Atomwaffen erheblich gestört werden könnten. Der Kontrollverlust erhöht das Risiko von Fehleinschätzungen und Fehlalarmen. Dadurch würde die Atomkriegsgefahr rapide ansteigen.
Deshalb wäre es besonders wichtig, Kriege und den aktuellen Konfrontationskurs zwischen großen Nationen zu beenden. Vertrauen und gute Kommunikationskanäle müssen wieder aufgebaut werden, und das sollte zwischen allen Nationen erfolgen, auch solchen, die sich derzeit als Gegner betrachten.
Karl Hans Bläsius
Auch die Entwicklung einer sogenannten Superintelligenz, eine sich verselbstständigende generative KI, könnte aufgrund einer fehlenden wirkungsvollen transnationalen Kontrolle der KI-Entwicklung nicht nur über das Internet zu Eingriffen in die kritische Infrastruktur, sondern auch zu ungewollten Interventionen in nukleare Waffensysteme führen:
Unkalkulierbar sind auch potenzielle Cyberangriffe, wobei Komponenten oder Daten eines Frühwarnsystems manipuliert werden könnten, was auf vielfältige Art möglich sein kann. Weltweit führende KI-Wissenschaftler und auch Chefs von großen Unternehmen haben im Jahr 2023 eindringlich vor den möglichen Risiken gewarnt. Auch eine Superintelligenz, bei der das menschliche Intelligenzniveau weit überschritten wird, wird in den nächsten Jahren für möglich gehalten
Klaus Moegling, Karl Hans Bläsius
Existentielle Verwundbarkeit moderner Industriestaaten
Hochindustrialisiert und extrem verwundbar, so lauten die kennzeichnenden Attribute der heutigen Zivilisation in Europa. Bader analysiert die Verletzlichkeit moderner Industriestaaten im Verteidigungsfall.2
Dichte Ballungszentren mit großer Industriekonzentration prägen im Besonderen die Situation in Mitteleuropa. Es hat sich eine Lebens- und Arbeitswelt entwickelt, die durch Komplexität, Vernetzung, Arbeitsteilung, Mobilität, Automation und Information gekennzeichnet ist.
Die Interoperabilität fast aller Arbeitsbereiche durch verschiedenste Kommunikations- und automatisierte Informationssysteme trägt zwar zur Produktions- und Effizienzsteigerung bei, erhöht aber gleichzeitig die Störanfälligkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems.
Die Gefahren durch Cyberangriffe auf lebenswichtige Versorgungseinrichtungen einer Gesellschaft wie Strom, Wasser und Logistik sind allgegenwärtig. Hacker-Angriffe auf die EDV-Systeme des Deutschen Bundestages, Stadtverwaltungen, Banken und Industrieunternehmen waren erfolgreich. Eine Unterbrechung des Kühlsystems von Atomkraftwerken in Staaten, wo es noch Kernkraftwerke gibt, – trotz redundanter Absicherung – wäre ein Super-Gau-Szenario mit unabsehbaren Folgen.
Die Leistungsfähigkeit und Stärke der hochentwickelten Industriestaaten hängen ab vom Funktionieren einer zivilen Infrastruktur, die hochgradig verletzlich ist und bereits mit nichtatomarer Munition und intelligenten Waffenträgern – niedrig fliegende, gelenkte Drohnen, Raketensysteme – ausgeschaltet werden kann. Ohne diese Infrastruktur sind Industriestaaten handlungsunfähig.
Allein ein längerer Stromausfall würde die gesamte Infrastruktur lahmlegen und alle wichtigen Lebens- und Arbeitsbereiche einer Gesellschaft empfindlich beeinträchtigen. Um aber die wichtigsten und großen Elektrizitätswerke und die Schaltzentralen zu zerstören, bedarf es keiner Atomwaffen. Es reichen "chirurgische" Einsätze mit zielgenauen konventionellen Waffen.
Nicht nur den wichtigen Industrieanlagen, auch den lebenswichtigen Bereichen der Trinkwasser-, Fernwärme- und Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung droht der Kollaps. Eine Zivilisation ohne Strom bedeutet Chaos und Desorganisation des gesellschaftlichen Lebens.
Es reicht völlig aus, nur die lebenswichtigen Nervenzellen der Zivilisation zu zerstören, um den ökonomischen und ökologischen Kollaps eines Staates herbeizuführen.
Die Analyse ließe sich mit etwa gleichen Resultaten auf alle wichtigen Lebensbereiche ausdehnen. Denn auch in der Versorgungs- und Wasserwirtschaft, im Transport-, Kommunikations- und Informationsbereich, im Gesundheitswesen, im Kultur-, Bildungs- und Sozialbereich einer Gesellschaft wären bei einem konventionellen Krieg existentielle Störungen zu erwarten.
Ist die Störanfälligkeit und existentielle Verwundbarkeit hochindustrialisierter Staaten grundsätzlich revidierbar? Gibt es realistische Szenarien und Maßnahmen, diesen Zustand durch eine Reduzierung der Gefahrenpotenziale, durch technische Maßnahmen oder durch einen verstärkten, verbesserten Zivilschutz aufzuheben?
Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik gibt es sicher Möglichkeiten, durch Redundanz (Backup-Systeme) die Störanfälligkeit des Gesamtsystems zu mindern. Auch durch Zivilschutzmaßnahmen ließen sich Schäden und gravierende Störungen reduzieren. Ein flächendeckender Schutz ist aber wohl kaum realisierbar.
Unlösbares Dilemma?
Mit der militärischen Landesverteidigung scheint ein schier unlösbares Dilemma verbunden zu sein:
- Einerseits muss der Verfassungsauftrag zur militärischen Landesverteidigung und des Schutzes der eigenen Bevölkerung durch die Bundeswehr erfüllt werden.
- Militärische Landesverteidigung ist andererseits aber immer mit dem Risiko des Sterbens Hunderttausender Menschen und großflächiger Zerstörung verbunden. Im Falle eines Einsatzes von Atomwaffen sogar mit einem unvorstellbaren Inferno!
Schlussfolgerung
Aufgabe der Münchener Sicherheitskonferenz wäre es, eine auf Diplomatie und internationale Zusammenarbeit basierende Sicherheitsordnung wieder herzustellen bzw. neu zu entwickeln, so dass der Verteidigungs- bzw. Kriegsfall eher unwahrscheinlich wird.
Hierbei wird sich das beschriebene Sicherheitsdilemma im Falle einer hochgerüsteten Landesverteidigung entschärfen lassen, wenn in internationaler Abstimmung die noch vor wenigen Jahren gültigen Abrüstungsvorträge wieder eingeführt, aktualisiert und ausgebaut würden.
Zurzeit scheinen wir uns aber von einer vernünftigen friedenspolitischen Regelung immer weiter zu entfernen. Wird eine Rückkehr zu einer friedenspolitischen Vernunft und zu einer größeren Verantwortlichkeit noch möglich sein?
Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW).
Klaus Moegling, habilitierter Politikwissenschaftler i.R., er lehrte an verschiedenen Universitäten und Institutionen der Lehrerbildung, zuletzt an der Universität Kassel als apl. Professor im Fb Gesellschaftswissenschaften, er engagierte sich in der Friedens- und Umweltbewegung sowie in Bildungsinitiativen.
Er unterstützt u.a. als Erstunterzeichner den Appell auf Change.org gegen die 2026 vorgesehene Hyperschallraketenstationierung und gegen die nukleare Aufrüstung sowie den Berliner Appell: "Gegen neue Mittelstreckenwaffen und für eine friedliche Welt".