Müßiggang als soziale Demarkationslinie

Lifelogging - Teil 4

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Einige Lifelogging-Anwendungen kommen ziemlich harmlos daher, dennoch enthalten sie Risiken. Ein Beispiel dafür ist die umfassende Verbreitung digitaler Selbstvermessung im Bereich des Breitensports, z.B. unter Joggern. Es gibt Unmengen von Angeboten, mit denen sich erstens die Distanz der eigenen Laufstrecke berechnen lässt (z.B. meinejoggingstrecke.de) sowie Communities, bei denen sich Jogger oder Walker anmelden und mit anderen vergleichen können (z.B. jogmap.de). Ein sehr bekanntes Beispiel ist die Vermessung der Alsterrunde in Hamburg, einer der beliebtesten Joggingstrecken der Republik (alsterrunning.de).

Letztlich geht es immer um Folgendes: Schätzungen ("ich laufe heute mal die große Runde") sind "out", exakte Vermessungen sind "in". Geschwindigkeit ist ja bekanntlich der Quotient aus Strecke und Zeit, also müssen beide Parameter so genau wie möglich erfasst werden.

Der moderne Freizeitsportler ist getrieben von der Sehnsucht nach dem offiziellen Ergebnis und imitiert damit den Nachkommastellenwahn des Leistungssports, der aufgrund der inzwischen üblichen "Leistungsdichte" sonst kaum noch andere Chancen zur Feststellung von Differenzen kennt. Der sich selbst vermessende Jogger kopiert letztlich die Leistungsshow und Logik des Profisports.

Digitale Strecken- und Zeitvermessungswerkzeuge sind Teil eines umfassenden Selbstverbesserungsregimes, das sich in Aufforderungen wie "Verbessere auch du deine Zeiten" oder "Erfahre mehr über Deine Leistungen" ausdrückt. Diese verbissene Ameisenhaftigkeit ist einerseits gruselig, andererseits schon so verbreitet, dass wohl nur noch wenige Menschen "einfach so" durch die Gegend laufen und "nach Gefühl" feststellen, ob sie fit sind oder nicht.

Die Faszination für die Vermessung der Emsigkeit lässt sich aber noch weiterspinnen. Folgt man der Ideologie der Lifelogging-Vordenker, dann besteht eines der Hauptziele der Selbstvermessung gerade darin, das eigene Verhalten zu verändern.

Um aber verhaltensändernde Feedbackschleifen zu erzeugen, reicht es aber nicht aus, Daten zu sammeln, diese müssen auch verstanden werden. Deshalb gibt es zahlreiche Ansätze zur Visualisierung der Daten in der Form von Infografiken. Und letztlich lassen sich die Daten vieler einzelner Logger auch überlagern. Ein Beispiel für derartige Visualisierungen sind Karten von Joggingstrecken in Städten.

Vordergründiges Ziel dieser Darstellung ist es, kollektive und nicht nur individuelle Aktivitätslogs darzustellen. Durch die Überlagerung der Joggingstrecken werden jedoch Metainformationen erzeugt, die auch unbeabsichtigte Informationen preisgeben. Die Karten sollen eigentlich motivieren und inspirieren, indem sie Streckenvorschläge machen. Vielleicht interessieren sich auch eines Tages Stadtplaner für die Bilder, um ein besseres Wegenetz zu schaffen?

Aus den Karten leitet Nathan Yau, der die Daten zusammengestellt hat, übergreifend die Erkenntnis ab:

Menschen laufen gerne in der Nähe von Wasser und in Parks.

Die Frage ist nur, ob wir das nicht schon vorher wussten - wer läuft denn schon gerne entlang einer sechsspurigen Autobahn? Eines von vielen Beispielen, wie die Entdeckung von Binsenweisheiten als Erfolg der Datensammlungswut gefeiert wird. Wo viel Daten sind, muss aber nicht immer viel dahinter stehen.

Die Karten bringen aber auch eine dunkle Seite der Datensammlungen zum Ausdruck. Sie verdeutlichen, dass die Routen vor allem in wohlhabenderen Vierteln liegen. In London gibt es südlich der Themse kaum Läufer. Brooklyn erscheint "unsportlicher" als Manhattan. In San Francisco nimmt die Joggingintensität mit der Entfernung von der Küste ab.

Damit erweist sich die Erkenntnis von Nathan Yau, dass Menschen gerne am Wasser oder in der Nähe von Parks laufen, vor allem als Hinweis auf urbane Segregationsmechanismen - dort, wo viel gelaufen wird, wohnen die Reichen. Es sind diejenigen, die sich Fitnesstracking-Apps leisten können und diejenigen, die Zeit für Fitnessaktivitäten haben. De Karten sind damit eine zeitgenössische Aktualisierung des soziologischen Klassikers von 1899 "Theorie der feinen Leute" (The Theory Of The Leisure Class) von Thorstein Veblen, der zeigte, dass sich sozialer Status vor allem auch aus dem demonstrativen Konsum von Zeit, d.h. von demonstrativem Müßiggang ableiten lässt.

Die Karten machen also nicht allein Routenvorschläge, sondern bilden auch das sozio-ökonomische Gefüge der jeweiligen Städte ab. Die Strecken korrelieren mit der Sozial- und Gesundheitsstruktur der Stadtteilbewohner. Somit lassen sich die schönen Karten auch als soziale Demarkationslinien interpretieren: Wo viel gejoggt wird, müssen Menschen leben, die über genügend Ressourcen verfügen.

Vielleicht ergibt sich hier für die Erforschung sozialer Ungleichheiten ein neuer methodischer Ansatz? Umgekehrt funktionieren "Crime Maps". In ihnen wird die Verteilung von Verbrechen im Stadtraum (je nach Land mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad) dargestellt. Die Vermessung der räumlichen Verteilung von Kriminalität ist ebenfalls eine Metainformation, die Verhaltensänderungen auslöst. Wenn mehr oder weniger transparent ist, wo es hohe Kriminalitätsraten gibt, verändert sich das Sicherheitsgefühl und damit gleich die Immobilienpreise.

Letztlich führt dies zur Erkenntnis, dass sich durch Lifelogging (im weitesten Sinne) alle nur denkbaren Profile erzeugen lassen. Vor allem lassen sich diese Profile untereinander kombinieren. So entstehen nicht nur Aktivitätsprofile im Raum (wie am Beispiel der Joggingstrecken gezeigt), sondern auch Konsumenten-, Gefährdungs-, Loyalitäts- und Vertrauensprofile.

Was am Beispiel der Joggingstrecken noch spielerisch anmutet, ist der erste Schritt auf dem Weg in eine digitale Klassengesellschaft, in der über Zugänge zu Orte und Plätzen, die Verteilung von Ressourcen sowie die Nutzung des öffentlichen Raumes anhand kombinierbarer Parameter entscheiden wird. Literarisch wurde dies bereits von Scott McBain in seinem Thriller "Mastercode" ausbuchstabiert: Ein Iriscan zur Identifizierung und die zeitgleiche Feststellung der "Kreditkartenklasse" entscheiden darüber, wer was in welcher Weise im öffentlichen Raum tun darf. Ganz so weit, wie es scheint, sind wir von dieser Dystopie nicht mehr entfernt.

Die vielen Gesellschaftsdiagnosen der letzten Jahre über "Überflüssige", "Entbehrliche" und "Ausgeschlossene", also über Menschen, deren "Marktwert" unter ein bestimmtes Limit fällt, müssten nun eigentlich durch den Einbezug der kommenden Klasse der digitalen Versager ergänzt werden.

Das werden Menschen sein, die dem Trend der universellen Quantifizierung und Vergleichbarkeit nicht folgen wollen oder die "falschen" Kennzahlen liefern. Lifelogging ist also, auf lange Sicht, verbunden mit sozialen Desintegrationsprozessen - hierin liegt die Brisanz. Diese Prozesse sind die Vorstufe zu einer Veränderung des Menschenbildes und einem informationellen Totalitarismus, der als Gesundheitsdiktatur, Effizienzzwang, Leistungssucht und Präventionsideologie auftreten wird.

Zugegeben, die Karten sind wunderschön. Ich möchte sie mir am liebsten farbig ausdrucken und als Kunstdrucke an die Wand hängen. Aber von der Harmlosigkeit der Vermessung von Joggingstrecken sollte man sich nicht täuschen lassen.

Teil 5: Die Vermessung des Himmels

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