Multipolare Weltordnung: Vom Regen in die Traufe

Seite 2: Gegen das unipolare Modell – damit sich Russland als Weltmacht behauptet

Einen prominenteren Platz beansprucht dagegen Russland. Schließlich demonstriert dieser Staat mit seinem Angriff auf die Ukraine, dass er sich eine Zurückstufung auf eine "Regionalmacht" (Ex-US-Präsident Barack Obama) nicht gefallen lässt. Präsident Wladimir Putin begrüßte denn auch das Thema des Osteuropäischen Wirtschaftsforums in Wladiwostok vom 5. bis 8. September vergangenen Jahres: "Auf dem Weg in eine multipolare Welt". In seiner Grußbotschaft führte er aus1:

Das veraltete unipolare (einpolige) Modell werde durch eine neue Weltordnung ersetzt, die auf den Grundprinzipien von Gerechtigkeit und Gleichheit sowie der Anerkennung des Rechts jedes Staates und Volkes auf seinen eigenen souveränen Entwicklungsweg basieren. Gerade im asiatisch-pazifischen Raum entstehen mächtige politische und wirtschaftliche Zentren, die als treibende Kraft in diesem unumkehrbaren Prozess fungieren.

Wie der deutsche Bundeskanzler sieht der russische Präsident auf anderen Kontinenten Staaten heranwachsen, die in Zukunft mehr Mitsprache beanspruchen. Zu Weltmächten wie Russland aufschließen sollten sie allerdings nicht. So ist das von Putin nicht gemeint.

Vielmehr schwächen sie im Idealfall die unipolare Weltordnung, sprich die USA. Und wenden sich mehr der Alternative Moskau zu. Was wiederum diese in der Konkurrenz zur Weltmacht Nr. 1 stärkt. Der russische Präsident versteht sich ebenso wie der deutsche Regierungschef darauf, sein schlichtes Interesse an einer Verschiebung der Machtverhältnisse zuungunsten der Vereinigten Staaten in scheinbar friedliebende Worte zu fassen.

Da geht es selbstverständlich nur um "Grundprinzipien von Gerechtigkeit und Gleichheit sowie der Anerkennung des Rechts jedes Staates und Volkes auf seinen eigenen souveränen Entwicklungsweg" – solange diese Prinzipien und Wege zur russischen Außenpolitik passen, versteht sich.

Wenn nämlich nicht, werden die Beziehungen zu solchen Staaten belastet, wie es so schön diplomatisch heißt – oder auch mal einem kriegerischen Stresstest unterzogen. Dieses Vorgehen behält sich eine jede Weltmacht vor.

Genau dass sie dazu in der Lage ist, macht sie ja zur Weltmacht. Die USA haben das seit dem Zweiten Weltkrieg in eindrucksvoller Weise und überaus zahlreich demonstriert. In dieser Hinsicht konnte zwar die Sowjetunion nicht mithalten, und auch nicht ihr Nachfolgestaat Russland. Aber an der einen oder anderen Stelle – unter anderem in Afghanistan, Syrien und aktuell Ukraine – haben auch die Russen gezeigt, dass mit ihnen als Weltmacht zu rechnen ist.

Der ein Staat, Deutschland, möchte also gern mehr Einfluss bekommen durch die neue multipolare Weltordnung, der andere, aktuelle Feind in Moskau seinen gefährdeten Status als Weltmacht behaupten. Und was verspricht sich davon China, systemischer Rivale des Westens, desgleichen jedoch Partner als dankbarer Absatzmarkt und günstiger Produktionsstandort? Noch dazu die westlichen Sanktionen gegen Russland hintertreibend, indem es die Handelsbeziehungen zu Moskau verstärkt?

Europa zusammen mit China? Ein unmoralisches Angebot

Nach dem Amtsantritt von Joe Biden als US-Präsident erklärte der chinesische Botschafter Wu Ken im Februar 2021 gegenüber der Wirtschaftswoche:

Wir wollen friedliche Koexistenz und Win-Win-Situationen zwischen China und den USA – und das dürfte auch den Erwartungen der EU entsprechen. (...) Ich denke, dass eine bipolare Welt weder im chinesischen noch im europäischen Interesse liegt. Gerade Europa sollte gemeinsam mit China Förderer einer multipolaren Weltordnung sein. Das betrifft auch die Frage, inwieweit die EU eigenständig handeln will.

Ich glaube, dafür gilt auch der Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Wir Europäer müssen unser Schicksal in unsere eigene Hand nehmen". (…) China will eine multipolare Welt, nur so lassen sich große Probleme wie Klimawandel und Corona-Pandemie lösen.

Das hatten wir doch schon einmal, dass eine andere Weltmacht als die USA der Europäischen Union (EU) eine enge Kooperation anbot: Russland war es Anfang des neuen Jahrtausends, in Gestalt seines Präsidenten Wladimir Putin. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag warb er damals für eine Partnerschaft, eingedenk des Bündnisses mit den USA:

"Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.

Daraus wurde bekanntlich trotz Beifalls der Bundestagsabgeordneten nichts.

Nun versucht China ähnliches, wissend um das an der EU und ihrer Führungsmacht Deutschland nagende Unbehagen, in Gewaltfragen am Rockzipfel der USA zu hängen.

Denn das Merkel-Zitat vom "Schicksal", das man in die "eigene Hand" nehmen solle, besagt genau dies: Europa muss ohne Washington in der Lage sein, als Weltmacht aufzutreten. Allein dies ist schon eine Kampfansage an den großen Verbündeten – und sie wird in der Konkurrenz der jeweiligen Kapitale auch bereits seit Längerem mit Leben gefüllt.

Aber eine Konkurrenz auf militärischer Ebene kann die EU nicht bestehen, und das weiß sie. Und mit der Nato-Rückendeckung unter Führung der USA lässt sich nun einmal in der Welt gegenüber sperrigen oder missliebigen Staaten ganz anders auftreten als ohne sie.

Auch gegenüber China: Deshalb verfängt das Angebot aus Peking nicht. Vor allem Deutschland hat den systemischen Rivalen im Visier, will sich indessen nicht abkoppeln (Decoupling), sondern nur das Risiko verringern (De-Risking).

Geschäft soll also schon weiter sein, aber bitte schön, ohne dass es allzu abhängig ist von Rohstoffen oder billigen Arbeitskräften in China. Und ohne dass zu viel Geld aus dem Fernen Osten in wichtige deutsche Unternehmen investiert wird. Dann könnte Peking glatt hier Einfluss nehmen, was natürlich gar nicht geht bei einem – einstweilen noch halbgar – erklärten Gegner.

Die USA sind da schon weiter, gehen gegen China wesentlich härter vor. Die bange Frage daher der Europäer: Müssen wir da komplett mitziehen oder können wir uns eine etwas vorteilhaftere Sonderbeziehung zu dem asiatischen Großreich leisten?

Stand aktuell: So wie es Deutschland lange mit Russland praktiziert hat, wird es wohl mit China nicht laufen – also keine einträglichen Handelsverträge und keine besondere Mittlerrolle zwischen den Großmächten. Hinsichtlich China folgen EU und Deutschland weitestgehend den USA, dem Hegemon.

"Multipolar" wird da erst einmal nichts. Daran arbeitet umso mehr der Gegner aus dem Fernen Osten. Er schart dabei eine Reihe von Staaten um sich, die wegen dauerhaft schlechter Erfahrungen mit dem Westen nach Alternativen suchen.

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