Nach Nuland-Rücktritt: Planen USA Krieg gegen Russland oder kommt Plan B?
Kriegs-Hardlinerin ist nicht mehr da. Das könnte die Tür öffnen für Verhandlungen. Gleichzeitig laufen andere, gefährliche Vorbereitungen. Gastbeitrag.
Präsident Joe Biden begann seine Rede zur Lage der Nation mit einer eindringlichen Warnung, dass die Nichtverabschiedung seines 61 Milliarden Dollar schweren Waffenpakets für die Ukraine "die Ukraine, Europa und die freie Welt in Gefahr bringen wird".
Es hätte eine kurze Kriegsgeschichte sein können
Aber selbst wenn die Forderung des US-Präsidenten plötzlich Erfolg zeitigte, würde es den brutalen Krieg, der die Ukraine zerstört, nur verlängern und gefährlich eskalieren.
Die Annahme der politischen Elite in den USA, Biden habe einen realisierbaren Plan, um Russland zu besiegen und die Grenzen der Ukraine von vor 2014 wiederherzustellen, hat sich als ein weiterer Traum des US-Triumphalismus erwiesen, der sich in einen Albtraum gewandelt hat.
Die Ukraine ist nach Nordkorea, Vietnam, Somalia, Kosovo, Afghanistan, Irak, Haiti, Libyen, Syrien, Jemen und jetzt Gaza ein weiteres in sich geborstenes Mahnmal für den militärischen Wahnsinn Amerikas.
Es hätte einer der kürzesten Kriege der Geschichte werden können, wenn Präsident Biden einfach ein im März und April 2022 in der Türkei ausgehandeltes Friedens- und Neutralitätsabkommen unterstützt hätte, das laut dem ukrainischen Unterhändler Oleksij Arestowytsch in Kiew bereits die Sektkorken knallen ließ.
Chance auf Plan B
Stattdessen entschieden sich die USA und die Nato dafür, den Krieg zu verlängern und zu eskalieren, um zu versuchen, Russland zu besiegen und zu schwächen.
Zwei Tage vor Bidens Rede zur Lage der Nation kündigte US-Außenminister Blinken den vorzeitigen Rücktritt der amtierenden stellvertretenden Außenministerin Victoria Nuland an, eine der Hauptverantwortlichen für ein Jahrzehnt katastrophaler US-Politik gegenüber der Ukraine.
Zwei Wochen vor der Ankündigung von Nulands Rücktritt im Alter von 62 Jahren räumte sie in einem Vortrag am Center for Strategic and International Studies (CSIS) ein, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Zermürbungskrieg verkommen sei, den sie mit dem Ersten Weltkrieg verglich. Und sie gab zu, dass die Biden-Regierung keinen Plan B für die Ukraine habe, falls der Kongress nicht 61 Milliarden Dollar für weitere Waffen bereitstelle.
Wir wissen nicht, ob Nuland gezwungen wurde, ihr Amt aufzugeben, oder ob sie vielleicht aus Protest gegen eine Politik, für die sie gekämpft und die sie nicht durchsetzen konnte, gegangen ist. In jedem Fall öffnet ihr Abgang die Tür für andere, um den dringend benötigten Plan B für die Ukraine zu entwickeln.
Die Macron-Äußerung
Es muss darum gehen, einen Weg aus diesem hoffnungslosen, aber immer weiter eskalierenden Zermürbungskrieg zurück an den Verhandlungstisch zu finden, den die USA und Großbritannien im April 2022 verlassen haben – oder zumindest zu neuen Verhandlungen auf der Grundlage, die der ukrainische Präsident Selenskyj am 27. März 2022 festlegte, als er seinem Volk erklärte: "Unser Ziel liegt auf der Hand: Frieden und die Wiederherstellung eines normalen Lebens in unserem Heimatstaat so bald wie möglich."
Stattdessen erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron am 26. Februar auf beunruhigende Weise – und zeigte damit, wohin die derzeitige Politik der Nato führt –, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen in Paris die Entsendung einer größeren Anzahl westlicher Bodentruppen in die Ukraine erörterten.
Macron wies darauf hin, dass die Nato-Mitglieder ihre Unterstützung kontinuierlich auf ein Niveau erhöht haben, das zu Beginn des Krieges noch undenkbar war. Er hob das Beispiel Deutschlands hervor, das der Ukraine zu Beginn des Konflikts nur Helme und Schlafsäcke zur Verfügung stellte und nun sagt, die Ukraine brauche mehr Raketen und Panzer.
Die Leute, die heute „niemals“ sagen, sind die gleichen, die sagten „niemals“ Flugzeuge, „niemals“ Langstreckenraketen, „niemals“ Fahrzeuge. All das haben sie schon vor zwei Jahren gesagt,
… erinnerte Macron. "Wir müssen Demut zeigen und erkennen, dass wir immer sechs bis acht Monate zu spät dran waren.“
Der Aufschrei
Macron deutete an, dass die Nato-Länder im Zuge der Eskalation des Krieges möglicherweise ihre eigenen Streitkräfte in die Ukraine entsenden müssen. Er argumentierte, dass sie das eher früher als später tun sollten, wenn sie die Initiative in diesem Krieg zurückgewinnen wollen.
Allein die Vorstellung, dass westliche Truppen in der Ukraine kämpfen könnten, löste einen Aufschrei sowohl innerhalb Frankreichs – von der rechtsextremen Rassemblement National bis zur linksgerichteten La France Insoumise – als auch in anderen Nato-Ländern aus.
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Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz betonte, dass die Teilnehmer des Treffens "einhellig" gegen die Entsendung von Truppen seien. Russische Beamte warnten, dass ein solcher Schritt einen Krieg zwischen Russland und der Nato bedeuten würde.
Doch als der Präsident und der Premierminister Polens am 12. Februar zu einem Treffen im Weißen Haus nach Washington reisten, erklärte der polnische Außenminister Radek Sikorski vor dem Parlament in Warschau, dass die Entsendung von Nato-Truppen in die Ukraine "nicht undenkbar" sei.
Wollte Macron Geheimhaltung beenden?
Macrons Absicht mag genau darin bestanden haben, diese Debatte in die Öffentlichkeit zu tragen und die Geheimhaltung zu beenden bezüglich der nicht-offizielle Politik der schrittweisen Eskalation hin zu einem umfassenden Krieg mit Russland, die der Westen seit zwei Jahren verfolgt.
Macron versäumte es, öffentlich zu erwähnen, dass die Nato-Truppen bereit beim derzeitigen politischen Kurs tief in den Krieg verwickelt sind. Unter den vielen Lügen, die Präsident Biden in seiner Rede zur Lage der Nation erzählte, bestand er darauf, dass sich "keine US-Soldaten in der Ukraine im Krieg befinden".
Die im März 2023 durchgesickerten Pentagon-Dokumente gehe jedoch davon aus, dass bereits mindestens 97 Nato-Spezialeinheiten in der Ukraine im Einsatz sind, darunter 50 Briten, 14 Amerikaner und 15 Franzosen.
Admiral John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates in den USA, hat auch eine "kleine US-Militärpräsenz" in der US-Botschaft in Kiew bestätigt, die versuche, den Überblick über Tausende Tonnen von US-Waffen zu behalten, die in der Ukraine ankommen.
Westliche Streitkräfte befinden sich bereits im Krieg
Aber noch viel mehr US-Streitkräfte, ob innerhalb oder außerhalb der Ukraine, sind an der Planung ukrainischer Militäroperationen beteiligt, liefern Satellitenaufklärung und spielen eine wichtige Rolle beim Einsatz von US-Waffen.
Ein ukrainischer Beamter erklärte gegenüber der Washington Post, dass die ukrainischen Streitkräfte so gut wie nie Himars-Raketen abfeuern, ohne von den US-Streitkräften in Europa mit präzisen Zieldaten versorgt zu werden.
All diese US- und Nato-Streitkräfte befinden sich ganz eindeutig "im Krieg in der Ukraine".
In Ländern Krieg zu führen, wobei nur wenige eigene Truppen vor Ort sind, ist ein Markenzeichen der US-Kriegsführung des 21. Jahrhunderts, wie jeder Navy-Pilot auf einem Flugzeugträger oder jeder Drohnenbetreiber in Nevada bestätigen kann.
Langsam aber sicher
Aber es ist genau diese Doktrin des "begrenzten" Krieges und des Stellvertreterkrieges, die Gefahr läuft, in der Ukraine außer Kontrolle zu geraten und den Dritten Weltkrieg auszulösen, den Präsident Biden zu verhindern gelobt hat.
Die Vereinigten Staaten und die Nato haben versucht, die Eskalation des Krieges durch eine bewusste, schrittweise Ausweitung der von ihnen bereitgestellten Waffentypen und eine behutsame, verdeckte Aufstockung ihres eigenen Engagements unter Kontrolle zu halten.
Diese Taktik wurde mit dem "Kochen eines Frosches" verglichen, bei dem die Hitze allmählich erhöht wird, um ruckartige, plötzliche Bewegungen zu vermeiden, die eine russische "rote Linie" überschreiten und einen vollumfänglichen Krieg zwischen der Nato und Russland auslösen könnten.
Aber wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Dezember 2022 warnte: "Wenn die Dinge schiefgehen, können sie furchtbar schiefgehen".
Vorbereitungen für Bodenkrieg mit Russland
Die eklatanten Widersprüche in der Politik der USA und der Nato verunsichern schon seit einiger Zeit. Einerseits sollen wir Präsident Biden Glauben schenken, wenn er sagt, er wolle keinen Dritten Weltkrieg vom Zaun brechen. Andererseits führt seine Politik der schrittweisen Eskalation unaufhaltsam in diese Richtung.
Die Vorbereitungen der USA in Bezug auf den Krieg mit Russland stehen schon jetzt im Widerspruch zu dem existenziellen Gebot, den Konflikt einzudämmen. Im November 2022 berief sich das Reed-Inhofe Amendment zum National Defense Authorization Act (NDAA) für das Haushaltsjahr 2023 auf Notstandsbefugnisse, um den außergewöhnlichen Kauf von Waffen zu genehmigen, wie sie an die Ukraine geliefert worden sind. Man schloss mehrjährige Verträge in Milliardenhöhe mit Waffenherstellern ohne Ausschreibung, um die zehn- bis zwanzigfache Menge an Waffen zu kaufen, die die Vereinigten Staaten tatsächlich an die Ukraine lieferten.
Der pensionierte Marineoberst Mark Cancian, ehemaliger Leiter der Abteilung für die Streitkräftestruktur und Investitionen im Büro für Verwaltung und Haushalt im US-Kongress, erklärte:
Das ist kein Ersatz für das, was wir [der Ukraine] gegeben haben. Es geht um den Aufbau von Vorräten für einen größeren Bodenkrieg [mit Russland] in der Zukunft.
Sieht Biden nun endliche die Gefahren?
Die Vereinigten Staaten bereiten sich also auf einen großen Bodenkrieg mit Russland vor, aber es wird Jahre dauern, die Waffen für diesen Krieg zu produzieren, und mit oder ohne sie könnte das schnell zu einem Atomkrieg eskalieren.
Nulands vorzeitiger Rücktritt könnte darauf zurückzuführen sein, dass Biden und sein außenpolitisches Team endlich beginnen, die existenziellen Gefahren der von ihr vertretenen aggressiven Politik zu begreifen.
In der Zwischenzeit hat die Eskalation durch Russland, von der ursprünglich begrenzten "militärischen Spezialoperation" zum derzeitigen Einsatz von sieben Prozent des BIPs für den Krieg und die Waffenproduktion, die Eskalationsbemühungen des Westens übertroffen. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Waffenproduktion, sondern auch in Bezug auf das Personal und die tatsächlichen militärischen Fähigkeiten.
Man könnte behaupten, dass Russland den Krieg gewinnt. Aber das hängt davon ab, was die tatsächlichen Kriegsziele sind.
Russland stürmt jetzt nicht auf Kiew zu
Es klafft eine große Lücke zwischen der Darstellung Bidens und anderer westlicher Staats- und Regierungschefs der russischen Pläne, in andere Länder Europas einzumarschieren, und der Einigung, die Moskau bei den Gesprächen in der Türkei im Jahr 2022 bereit war einzugehen, als man zustimmte, sich im Gegenzug für eine simple Verpflichtung der Ukraine, neutral zu bleiben, auf die Vorkriegspositionen zurückzuziehen.
Trotz der äußerst schwachen Position der Ukraine nach der gescheiterten Offensive 2023 und der kostspieligen Verteidigung sowie dem Verlust von Awdijiwka stürmen die russischen Streitkräfte nicht auf Kiew, auch nicht auf Charkiw, Odessa oder die natürliche Grenze, den Fluss Dnipro, zu.
Das Reuters-Büro in Moskau berichte, dass Russland Ende 2023 monatelang versucht hat, neue Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten aufzunehmen, dass aber im Januar 2024 der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan diese Tür mit einer klaren Absage an Verhandlungen über die Ukraine zuschlug.
Die einzige Möglichkeit, herauszufinden, was Russland wirklich will oder womit es sich zufriedengeben würde, ist die Rückkehr an den Verhandlungstisch. Alle Seiten haben sich gegenseitig dämonisiert und maximalistische Positionen eingenommen.
Nach Nuland-Exit und Macron-Statement: Zeit der klugen Köpfe?
Aber so gehen nun einmal Nationen vor, die sich im Krieg befinden, um die Opfer zu rechtfertigen, die sie ihrer Bevölkerung abverlangen, und um ihre Ablehnung diplomatischer Alternativen zu rechtfertigen.
Ernsthafte diplomatische Verhandlungen sind jetzt unabdingbar, um die Frage zu klären, was nötig ist, um der Ukraine Frieden zu bringen. Wir sind sicher, dass es innerhalb der Regierungen der USA, Frankreichs und anderer Nato-Staaten klügere Köpfe gibt, die dies ebenfalls hinter verschlossenen Türen sagen.
Und genau das könnte der Grund sein, warum Nuland entlassen wurde und warum Macron so offen darüber spricht, wohin die derzeitige Politik führt.
Wir hoffen sehnlichst, dass das der Fall ist und Bidens Plan B zurück an den Verhandlungstisch und dann zum Frieden in der Ukraine führen wird.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Online-Magazin Common Dreams. Dort findet er sich im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Medea Benjamin ist die Mitbegründerin von Codepink und der Menschenrechtsgruppe Global Exchange. Seit mehr als 40 Jahren setzt sie sich für soziale Gerechtigkeit ein. Sie ist Autorin von zehn Büchern, darunter "Drone Warfare: Killing by Remote Control", "Kingdom of the Unjust: Behind the US-Saudi Connection" und "Inside Iran: The Real History and Politics of the Islamic Republic of Iran". Ihre Artikel erscheinen regelmäßig in Zeitungen wie Znet, The Guardian, The Huffington Post, CommonDreams, Alternet und The Hill.
Nicolas J. S. Davies recherchiert für Codepink Women for Peace und ist Buchautor, u.a. von "Blood On Our Hands: the American Invasion and Destruction of Iraq". Zusammen mit Medea Benjamin hat er gerade "War in Ukraine: Making Sense of a Senseless Conflict" veröffentlicht.