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Nahost-Konflikt fordert erste (politische) Opfer in Deutschland

Zerstörter Bus in Israel nach dem Einschlag einer Rakete aus Gaza. Bild: @idf

Militärische Eskalation zwischen Israel und Palästinensern. Netanjahu kündigte anhaltende Operation an. Konflikte um Reaktionen auch hierzulande

Angesichts der massivsten militärischen Eskalation seit 2019 zwischen Israel und palästinensischen Organisationen wird der UN-Sicherheitsrat am heutigen Mittwoch zusammenkommen. Die Unterredung wird nach Angaben aus diplomatischen Kreisen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass das höchste UN-Gremium Einfluss auf die Lage nehmen kann: Im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern sind die ständigen Mitglieder politisch gespalten.

Während die Eskalation in der internationalen Presse zumeist der palästinensischen Seite zugeschrieben wird – so heißt es in einer deutschen Agenturmeldung, Israels politische und militärische Führung habe "nach massiven Raketenangriffen militanter Palästinenser (…) harte Gegenangriffe angekündigt" – zeichnen Nahost-Fachmedien und politische Beobachter vor Ort mitunter ein anderes Bild.

Nach Angaben des Online-Portals [1] Middle East Monitor hatten Aktivisten der palästinensischen Unabhängigkeitsbewegung im Gazastreifen am Montag ein einstündiges Ultimatum an die israelischen Besatzungsbehörden gestellt. Diese seien aufgefordert worden, "ihre monatelange Aggression gegen muslimische Gläubige in der Al-Aksa-Moschee zu beenden, die Räumung palästinensischer Familien in Sheikh Jarrah zu unterlassen und palästinensische Gefangene freizulassen".

Hannes Alpen, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem, erklärte die jähe Eskalation im Inforadio des Rundfunks Berlin-Brandenburg [2] mit der "enormen Frustration der Palästinenser". Der Vertreter der SPD-nahen Stiftung verwies zugleich darauf, dass Israel Ost-Jerusalem seit 1967 besetzt halte, obgleich dieses Besatzungsregime international nicht anerkannt sei. Seinen Beobachtungen nach provoziere Israel die palästinensische Bevölkerung gezielt, auch im derzeitigen Fastenmonat Ramadan.

Auf der anderen Seite instrumentalisiere die Hamas die Proteste der Menschen im Gazastreifen, fügte Alpen an. Die dortigen Demonstrationen bezeichnete er als spontan und von der Bevölkerung ausgehend. Grund für die "Graswurzelproteste" seien neben den Zwangsräumungen von palästinensischen Familien und einem Angriff auf die Al-Aksa-Moschee auch die willkürliche Sperrung des wichtigsten öffentlichen palästinensischen Platzes in Ost-Jerusalem durch israelische Kräfte. "Dort haben die Proteste dann auch begonnen", erklärte Alpen.

Netanjahu spricht von langer Militäroperation

Nach tagelangen Demonstrationen in den palästinensischen Gebieten war die Hamas zuletzt dazu übergegangen, Ziele in Israel anzugreifen. Sie selber sprach davon, 130 Raketen auf Tel Aviv und andere Städte abgefeuert zu haben. Nach israelischen Angaben starben dabei mindestens zwei Frauen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte harte Reaktionen an. Die Palästinenserorganisationen Hamas und Islamischer Dschihad würden einen hohen Preis für ihre Angriffe bezahlen. Die Militäroperationen der israelischen Streitkräfte werde Zeit brauchen, so Netanjahu, aber sie werde den Bürgern Israels die Sicherheit zurückbringen.

Der konservative Politiker inszenierte sich damit einmal mehr als starker Mann im Konflikt mit den palästinensischen Organisationen. Davon wird er ohne Zweifel profitieren: Netanjahus Partei Likud befindet sich derzeit in Koalitionsverhandlungen, zudem laufen gegen den Ministerpräsidenten Ermittlungen und Verfahren wegen mutmaßlicher Korruptionsdelikte. Ebert-Stiftung-Vertreter Alpen sagte dazu im Radiointerview, Netanjahu sei durch die militärische Eskalation und angesichts seiner innenpolitischen Probleme "da wo er gerne wieder ist, als Quasi-Beschützer der Nation".

Israels Generalstabschef Aviv Kochavi kündigte an, die laufende Militäroperation "Wächter der Mauern" - wenn nötig - auszuweiten. Seit Montag seien bereits 500 Ziele im Gazastreifen angegriffen worden. Ziel sei, den militärisch-politischen Organisationen auf der palästinensischen Seite einen harten Schlag zu versetzen. Bei einem gezielten Angriff wurde nach bisherigen Angaben ein Gebäude mit Büros der Hamas komplett zerstört.

Kontroversen auch in Deutschland

Ahmed Abul Gheit, der Generalsekretär der Arabischen Liga, machte Israel für die Gefechte und Angriffe verantwortlich. Er forderte den UN-Sicherheitsrat zum Handeln auf. In den vergangenen Wochen habe es keinen einzigen Vorfall gegeben, "bei dem die Gewalt von der Seite der Palästinenser ausging", erklärte der ägyptische Diplomat am Dienstag in einer Videokonferenz des Staatenbundes [3].

Die Arabische Liga bezeichnete die Angriffe Israels als "willkürlich" und "unverantwortlich", ohne auf den palästinensischen Raketenbeschuss einzugehen. Zu den 22 Mitgliedern der Allianz gehört auch die Verwaltung der Palästinensischen Autonomiegebiete.

Die Eskalation im Nahen Osten hat auch in Deutschland politische Konsequenzen. In Frankfurt forderte der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker ein Verbot palästinensischer Proteste. Die Organisatoren hatten für Samstag in Frankfurt am Main eine Demonstration zum sogenannten Nakba-Tag angemeldet, an dem die Palästinenser der Massenvertreibungen der arabischen Bevölkerung nach der Gründung des israelischen Staates gedenken. "Diese antisemitische Anti-Israel-Demonstration darf in Frankfurt nicht stattfinden", so Becker.

In Berlin wurde die Christdemokratin Ayten Erdil aus dem Vorstand und Landesverband der dortigen CDU ausgeschlossen [4], nachdem sie auf Facebook einen israelkritischen Kommentar veröffentlich hatte. In dem mittlerweile gelöschten Posting hatte Erdil Israel und das militärische Vorgehen als "Verbrecher und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet.

Zu einem Schlagabtausch kam es zudem zwischen der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg und dem deutschen Grünen-Politiker Volker Beck. Nachdem Thunberg auf Twitter die Israel-Kritik der Aktivistin Naomi Klein [5] geteilt hatte, kritisierte Beck dies in mehreren [6] Kommentaren [7]. Thunberg stellte daraufhin klar: "Ich bin nicht ‚gegen‘ Israel oder Palästina". Sie wende sich gegen jede Form von Gewalt oder Unterdrückung. Überdies sei es "niederschmetternd, die Entwicklungen in Israel und Palästina zu verfolgen" [8].


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https://www.heise.de/-6044218

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.middleeastmonitor.com/20210511-palestinian-resistance-imposes-new-rules-of-engagement-on-israel/
[2] https://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/int/202105/11/562874.html
[3] http://www.leagueofarabstates.net/ar/councils/lascouncil/Pages/LasCouncilMinistrialDetails.aspx?RID=192&fbclid=IwAR3ft4Y_cTDgoe27u8n27zfICzOr72czwzGk-WwG_Rz91phalAvqSs9QYP8
[4] https://www.bz-berlin.de/berlin/nach-anti-israel-post-cdu-berlin-distanziert-sich-von-vorstandsmitglied-ayten-erdil
[5] https://twitter.com/GretaThunberg/status/1391835641219014656
[6] https://twitter.com/Volker_Beck/status/1391883459413659651
[7] https://twitter.com/Volker_Beck/status/1391883848334651395
[8] https://twitter.com/GretaThunberg/status/1392112286479917061