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Nato-Doppelbeschluss: Nachts, als die Raketen kamen

Pershing-II-Rakete und Werfer mit Zugmaschine vom Typ MAN M 1001. Bild: US-Army

Auf die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen folgten Proteste in ganz Westdeutschland. Dann nahm die Geschichte eine unerwartete Wendung. (Teil 1)

Am 21. November 1983 sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Deutschen Bundestag in Bonn:

Unsere Sicherheit, der Schutz unserer Freiheit gebieten nunmehr, mit der Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen zu beginnen.

Er sagte dies zu Beginn der zweitägigen Debatte über die Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen. Nach hitziger Debatte stimmte die Koalition aus CDU, CSU und FDP dem Antrag zu: Die Nachrüstung begann.

Erste Raketenteile kommen an

In der westdeutschen Friedensbewegung, die seit Anfang der 1980er-Jahre mit zum Teil spektakulären Aktionen gegen die Nachrüstung gekämpft hatte, machte sich Frustration breit, und für die US-Amerikaner war dies der Startschuss, mit der Nachrüstung endlich ernst zu machen und das Ziel zu erreichen, bis zum Jahresende eine einsatzbereite Pershing-II-Batterie zu stationieren.

Eile war geboten. Und so rumpelten schon wenige Tage nach der Bundestagsdebatte – mitten in der Nacht – Militärkonvois über die Hornberger Straße im kleinen Ort Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd, um die ersten Raketenteile in die dortige Missile Storage Area (MSA) zu transportieren.

Von da an lief alles wie am Schnürchen. Bereits Ende 1985 konnte General Raymond Earl Haddock, der damalige Chef der Aktion "Pershing II-Nachrüstung", seinen Vorgesetzten Vollzug melden: Der Pershing-Verband mit seinen geplanten 108 Raketen war aufgestellt und einsatzbereit.

Doch der Höhepunkt läutete zugleich sein Ende ein.

Pershing: Das Ende eines Waffensystems

Im Mai 1987 startete das 56th Field Artillery Command in Schwäbisch Gmünd, der Verband, in dem alle Pershing-II-Einheiten zusammengefasst waren, das größte Manöver mit Pershing-II-Raketen in Baden-Württemberg seit der Umsetzung des Nato-Nachrüstungsbeschlusses von 1983.

Vergessen war der Unfall vom Januar 1985 auf der Heilbronner Waldheide, bei dem eine Raketenstufe explodierte und drei Soldaten ums Leben kamen. Es war eine Art Aufmarsch zum letzten Gefecht.

Eben in diesen Monaten legten US-amerikanische und sowjetische Diplomaten in Genf letzte Hand an einen Abrüstungsvertrag, der die vollständige Abschaffung des Waffenarsenals vorsah, mit dem die Soldaten aus Neu-Ulm, Mutlangen und Heilbronn gerade ins Feld gezogen waren.

Der ganze Popanz, den die Nato ein Jahrzehnt lang in Sachen Pershing II, Raketenlücke und Nachrüstung veranstaltet hatte, drohte mit einer Unterschrift von Reagan und Gorbatschow in die Asservatenkammer der Militärgeschichte zu wandern. Die Ära der Pershings war vorbei.

Kein anderes nukleares Waffensystem hat die Deutschen so beunruhigt

Es war der Höhepunkt und zugleich das Ende eines Waffensystems, das in den 1960er-Jahren – von der Öffentlichkeit kaum bemerkt – bei den US-Streitkräften und der Bundeswehr eingeführt worden war und schließlich in den 1980er-Jahren auf einen fulminanten Höhepunkt und ein historisches Finale zusteuerte.

Kein anderes nukleares Waffensystem hat die Deutschen so beunruhigt wie die Pershing-Nuklearrakete – allerdings erst rund zwanzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen in der Bundesrepublik. Erst im Zuge der Nachrüstung 1983 bewegte dieses Waffensystem die Menschen in der Bundesrepublik in einem Ausmaß, das allenfalls mit der Anti-Atomwaffen-Bewegung der späten 1950er-Jahre (Kampf dem Atomtod) vergleichbar ist.

Die Spannungen eskalieren: Der Raketenwettlauf

Die Debatte um die Nachrüstung im Mittelstreckenbereich begann - wieder einmal - mit einer Lücke. Waren es in den 50er-Jahren die Bomberlücke und Anfang der 60er-Jahre die Raketenlücke, die jeweils eine neue Runde im Rüstungswettlauf einläuteten, so war es Mitte der 1970er-Jahre der Bereich der Mittelstreckenwaffensysteme, in dem Politiker und Militärs eine Lücke zu entdecken glaubten.

Die UdSSR begann 1976, ihre in den 1960er-Jahren stationierten Mittelstreckenraketen SS-4 Sandal und SS-5 Skean durch Raketen des Typs SS-20 Saber zu ersetzen. Diese mobile, zweistufige Rakete war eine Weiterentwicklung der dreistufigen Interkontinentalrakete SS-16, verfügte über einen Feststoffantrieb und konnte drei MIRV-Atomsprengköpfe mit einer Sprengkraft von je 150 Kilotonnen ins Ziel bringen.

Die UdSSR begründete diesen Schritt damit, dass die Nato in Form der dem SACEUR unterstellten SSBN der USA sowie der französischen und britischen Nuklearwaffen ebenfalls über ein entsprechendes Potenzial verfügte.

Helmut Schmidts Rolle als Wegbereiter der Nachrüstung

Die Nato wiederum sah in der sowjetischen SS-20-Rüstung eine neue Dimension der nuklearen Bedrohung, die entsprechende Gegenmaßnahmen erforderte. Einer der Wortführer dieser Argumentation war der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD).

Seine Rede vor dem International Institute for Strategic Studies in London am 28. Oktober 1977 wird von vielen als Auftakt der Nachrüstungsdebatte angesehen.

Die Kernaussage seiner Rede lautete: Wenn es nicht gelinge, die unkontrollierte Aufrüstung im Bereich der Mittelstreckenraketen in die Rüstungskontrollverhandlungen der Supermächte (SALT) einzubeziehen, könne die Sowjetunion das bestehende strategische Gleichgewicht unterminieren.

Indirekt forderte Schmidt die Nato zu entsprechenden Gegenmaßnahmen auf. Die Rede Helmut Schmidts quasi als Initialzündung für die Nachrüstung zu sehen, entspricht allerdings nicht ganz den historischen Abläufen. So begann die Weiterentwicklung der Pershing-I-Rakete zur Pershing II (höhere Treffgenauigkeit und Reichweite) bereits 1971.

Rüstungsgeschichte: Die Entwicklung der Raketen und der Zugzwang

Auch die Entwicklung der Marschflugkörper, der zweiten Komponente der Nachrüstung, begann bereits Anfang der Siebzigerjahre. Der Rüstungskonzern General Dynamics begann mit der Entwicklung des Marschflugkörpers BGM-109 Tomahawk, der im Rahmen der Nato-Nachrüstung eingesetzt wurde, bereits 1972, als noch kein einziger SS-20 stationiert war.

Es war also wie so oft in der Rüstungsgeschichte der beiden Blöcke: Der militärisch-industrielle Komplex entwickelte ein neues Waffensystem. Gleichzeitig lief die Lobbyarbeit für dessen Einführung auf Hochtouren. Diverse Studien einschlägiger Denkfabriken genügten, um die Politik unter Zugzwang zu setzen.

Nato im Krisenmodus

Hinzu kam, dass die gescheiterte Initiative zur Einführung der Neutronenbombe die Nato erneut in den Krisenmodus versetzt hatte, was die beteiligten Politiker zusätzlich unter Druck setzte. Eine Demonstration der Geschlossenheit war dringend erforderlich.

Mit der Einsetzung einer Hochrangigen Gruppe (HLG) durch die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der Nato am 12. Oktober 1977, die die Grundlagen für den späteren Nato-Doppelbeschluss erarbeiten sollte, nahm die Entwicklung einen offiziellen Charakter an.

Im Presidential Review Memorandum 38 (PRM) vom 22. Juni 1978 wurde die Notwendigkeit der Stationierung weitreichender Nuklearwaffen in Europa von US-Präsident Jimmy Carter offiziell bestätigt, und am 5. und 6. Januar 1979 trafen sich die Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland und der USA auf der Karibikinsel Guadeloupe zu einer Konferenz, bei der die Frage der Nachrüstung im Mittelpunkt stand.

Dort teilte der amerikanische Präsident seinen europäischen Kollegen seine Entscheidung zur Nachrüstung der Mittelstreckenwaffen mit.

Beschluss zur Stationierung

Endgültig beschlossen wurde die Stationierung im sogenannten Doppelbeschluss der Nato auf einer Ratssitzung am 12. Dezember 1979. Der Beschluss der 14 Außen- und Verteidigungsminister sah die Stationierung von 108 Pershing II-Raketen und 464 Cruise-Missiles BGM-109 Tomahawk in der Bundesrepublik, Italien, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien vor.

Das Nachrüstungsprogramm sollte mit einer Reduzierung des Bestandes an nuklearen Gefechtsköpfen in Europa um tausend verbunden werden, wobei die 572 Gefechtsköpfe in diesem reduzierten Bestand untergebracht werden sollten.

Gleichzeitig bot der Beschluss der UdSSR Verhandlungen über die Reduzierung aller nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa an. Nur wenn diese Verhandlungen zu keinem Ergebnis führten, sollten die US-Systeme ab Ende 1983 stationiert werden.

Verhandlungen in Genf

Diese Verhandlungen begannen jedoch erst im November 1981. Der neu gewählte US-Präsident Ronald Reagan präzisierte am 18. November 1981 die US-Verhandlungsposition: Doppel-Null-Lösung: Beide Seiten sollten weltweit auf landgestützte Mittelstreckenraketen verzichten.

Die USA würden keine Pershing-II-Raketen und landgestützten Marschflugkörper stationieren, die Sowjetunion müsste im Gegenzug alle SS-20, SS-4 und SS-5 verschrotten - ein Angebot, das die Sowjetunion nur ablehnen konnte.

Dennoch begannen am 30. November 1981 die Verhandlungen im Palais des Nations in Genf. Verhandlungsführer der USA war Paul Nitze, ein bekannter Hardliner des Washingtoner Establishments, die Delegation der UdSSR wurde von Julij A. Kvicinskij geleitet. Die Verhandlungen zogen sich bis Ende 1983 hin, ohne dass ein Ergebnis erzielt wurde.

Zwei konkrete Vorschläge wurden jedoch ausgearbeitet – und abgelehnt.

Der Vorschlag der Sowjetunion

Der von der Sowjetunion am 25. Mai 1982 vorgelegte Kompromiss enthielt folgende Eckpunkte:

• Keine Stationierung von neuen Mittelstreckensystemen in Europa.

• Reduzierung aller am 1. Juni 1982 in Europa vorhandenen nuklearen Mittelstreckensysteme (Raketen und Mittelstreckenbomber) der Nato und der Staaten des Warschauer Pakts mit einer Reichweite von mehr als 1000 Kilometern auf maximal 300 Systeme.

• Die 255 britischen und französischen Sprengköpfe werden aufseiten der USA angerechnet.

• Marschflugkörper mit mehr als 600 Kilometern Reichweite sowie ballistische Luft-Boden-Raketen werden weltweit verboten.

Der Waldspaziergang und ein neuer Vorschlag

Ein weiterer Vorschlag wurde von den beiden Leitern der Verhandlungsdelegationen im Rahmen eines Spaziergangs in den Wäldern hoch über dem Genfer See (Waldspaziergang) diskutiert.

Dabei schlug Nitze seinem sowjetischen Partner folgenden Abrüstungsplan vor:

• Reduzierung der sowjetischen SS-4, SS-5 und SS-20 in Europa auf 75

• Begrenzung der SS-20 der UdSSR im Fernen Osten auf 90

• Begrenzung der nuklearfähigen Flugzeuge der UdSSR auf 150

• Keine Stationierung von Pershing-II-Raketen durch die USA

• Stationierung von maximal 75 Startsystemen für je vier Marschflugkörper durch die USA.

• Begrenzung der US-Mittelstreckenbomber F-111 und FB-111 auf maximal 150.

Beide Vorschläge führten letztlich jedoch zu keinem Ergebnis und mit Beginn der Nachrüstung im Herbst 1983 brach die Sowjetunion die Verhandlungen in Genf ergebnislos ab.

Teil 2: Pershing II in Deutschland: Die Kosten des Kalten Krieges und die Suche nach Frieden [1]


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