Nein, Ihr Kind ist nicht krank!
Experten fordern einen neuen Umgang mit ADHS. Bild: rubberduck1951, Pixabay
Experten aus Verhaltenswissenschaften und Psychiatrie schlagen neue Richtlinien zum Umgang mit ADHS vor und plädieren für eine veränderte Sichtweise
Bereits vor einigen Monaten haben Experten von der Uniklinik Leiden und der Universität Utrecht – darunter der Kinder- und Jugendpsychiater Branko van Hulst und die Professorin für Neurowissenschaften Sarah Durston – eine Namensänderung vorgeschlagen: Man solle "Störung" aus dem Wortungetüm Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) streichen. Warum?
Einerseits suggeriere das Wort "Störung", dass man die Ursachen kenne. Andererseits provoziere so eine sprachliche Kategorie Tautologien der Form: "Er ist impulsiv, denn er hat ADHS." Oder: "Sie ist wegen ihrer ADHS oft abgelenkt." Dabei ist es schlicht so: Experten nennen seit den 1980er-Jahren Probleme wie Impulsivität und Aufmerksamkeitsmangel ADHS.
Zum Vergleich: In der Wissenschaft formalisiert man Armut oft als "niedrigen sozioökonomischen Status" (englisch: SES). Arme Menschen haben also einen niedrigen SES. Wer jetzt sagt, "Sie sind arm wegen ihres niedrigen SES", produziert wieder eine Tautologie, die sich wie ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang anhört. Dabei wurde Armut schlicht so definiert:
Ein ernster und oft übersehener Nebeneffekt dieser Praxis ist jedoch, dass solche Namen implizit eine Kausalität nahelegen. Die Begriffe, die wir zur Klassifikation verwenden, beziehen sich auf Störungen, die Symptome verursachen. Diese Begriffe legen also nahe, dass wir die Ursachen der Probleme verstehen. Das ist aber nicht der Fall.
van Hulst, Werkhoven & Durston; Übers. d. A.
Individualisierung von Problemen
Außerdem, so die niederländischen Forscher, verorte die Kategorie ADHS das Problem im individuellen Kind. Das könne dazu führen, den Kontext zu übersehen, in dem dieses Kind aufwächst: beispielsweise in Armut, einer Scheidung oder mit Schlafproblemen.
Die gerade erschienenen Richtlinien eines niederländischen Gremiums mit über 20 beteiligten Personen, darunter Ärzte, Eltern, Lehrer und Wissenschaftler, gehen weiter in der Tiefe. Begleitet von vier Professorinnen und Professoren aus Genetik, Hirnforschung, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Pädagogik wurden Berichte über ADHS aus Wissenschaft und Medien kritisch überprüft.
Laura Batstra, die ich bereits interviewte, war eine von ihnen.
Laut den Fachleuten und Eltern, die sich seit 2018 zu Gesprächen trafen, geht in Berichten über ADHS vieles schief. Beispielsweise würden Ergebnisse aus Gruppenvergleichen auf einzelne Personen übertragen. Wenn die Gruppen stark überlappen, führt das aber zu einem statistischen Fehler.
Ergebnisse von Signifikanztests würden verabsolutiert; dabei prüften diese nur, dass die Resultate nicht zufällig sind. Und auch die Ergebnisse von genetischen oder neurowissenschaftlichen Studien würden oft missverständlich präsentiert. Aus der Zusammenfassung der Richtlinien:
ADHS ist eine Klassifikation, die Verhalten beschreibt. Die Verhaltensweisen, die zu dieser Klassifikation führen können, haben verschiedene Gründe und Ursachen. Wir nennen ADHS oft ein 'multifaktorielles' Problem, weil sowohl die Veranlagung als auch bestimmte Elemente aus der Umgebung - die sogenannten 'Faktoren' - auf viele Weisen miteinander zusammenhängen können. Dabei ist die Mischung dieser Faktoren für jeden mit diesen Verhaltensweisen anders.
Und spezifisch zur biomedizinischen Sichtweise auf ADHS fahren sie fort:
Obwohl in den letzten Jahrzehnten der biomedizinische Blick auf ADHS dominierte, nimmt die Aufmerksamkeit für Umgebungsfaktoren und auch die gesellschaftlichen Normen und Kontexte zu - warum finden wir bestimmte Verhaltensweisen störend? Dennoch ist die Aufklärung hierüber oft noch einseitig oder verwirrend.
Expertengremium, S. 3; Übers. d. A.
Auch dieses Gremium warnt davor, Definitionen mit Erklärungen zu verwechseln: "Wenn wir Konzentrationsprobleme, Hyperaktivität und Impulsivität ADHS nennen, haben wir die Verhaltensweisen aber noch nicht erklärt." Dennoch fänden sich in den Medien, Informationsmaterial für Patientinnen und Patienten sowie wissenschaftlichen Publikationen oft verwirrende Aussagen wie "ADHS beeinflusst Leistungen in der Schule und am Arbeitsplatz, das psychologische Funktionieren und soziale Fähigkeiten" oder "ADHS ist nie eine Entschuldigung für unangepasstes Verhalten, kann dafür aber eine Erklärung sein."
Biologisches Modell in der Kritik
In zwei Kapiteln beschäftigen sich die Expertinnen und Experten insbesondere mit den Ergebnissen der Hirnforschung und Genetik. Bei Letzterer kritisieren sie beispielsweise die Verbreitung von hohen Erblichkeitsschätzungen wie "ADHS ist zu 50 bis 80 Prozent erblich". Diese würden nicht bedeuten, dass die Umgebung nur einen kleinen Einfluss auf das Verhalten habe. Zur Veranschaulichung formulieren sie ein Beispiel:
Stellen wir uns eine Bevölkerungsgruppe vor, der guter Leseunterricht angeboten wird. Dann werden die Unterschiede bei den Lesefähigkeiten, die es dann noch gibt, vor allem erblich bedingt sein. Und dann ist die Erblichkeitsschätzung der Lesefähigkeiten hoch. Das bedeutet aber nicht, dass der Leseunterricht keinen Effekt auf die Lesefähigkeiten hat. Im Gegenteil: Der Unterricht – also ein Umgebungsfaktor – hat sehr wohl Einfluss gehabt, wodurch die erblichen Faktoren eine größere Chance bekommen, sich auszudrücken.
Frei übersetzt; d. A.
Oder allgemeiner gesagt: Je gleichförmiger eine Umgebung, desto stärker sind die Unterschiede, die es dann noch gibt, erblich bedingt. Was auch sonst? Das ist es, was das so oft verbreitete Erblichkeitsmaß ausdrückt. Damit steht Erblichkeit aber gerade nicht im Gegensatz zu Umwelteinflüssen, wie es meist verstanden wird. Im Gegenteil ist die Erblichkeitsschätzung selbst ein Ausdruck von Umwelteinflüssen.
Das Gremium verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Überblicksarbeit der Kinder- und Jugendpsychiaterin Anita Thapar von der Cardiff University im Vereinigten Königreich, die mit ihren Kollegen schrieb:
Schwierige soziale und familiäre Umstände wie niedrige Bildung der Eltern, soziale Klasse, Armut, Mobbing, schlechte Erziehung, Misshandlung und Zerwürfnisse in Familien hängen mit ADHS zusammen. Allerdings haben die verwendeten Studiendesigns bisher nicht zeigen können, dass dies die definitiven Ursachen von ADHS sind.
Thapar und Kollegen; Übersetzung d. A.
Der größte bekannte Faktor ist laut dem niederländischen Gremium aber das Alter bei der Einschulung. Über viele Länder hinweg sei inzwischen bestätigt, dass die jüngsten Kinder in Schulklassen mit höchster Wahrscheinlichkeit die Diagnose ADHS bekommen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür sei bis zu doppelt so hoch.
Konkrete Empfehlungen
Die Richtlinien beruhen auf Beispielen aus dem niederländischen und englischen Sprachraum. Aus eigener Erfahrung kann ich aber bestätigen, dass die Probleme im deutschsprachigen Raum ganz ähnlich sind. Daher sollte man auch hier die konkreten Empfehlungen der Eltern, Lehrer und Wissenschaftler einmal überdenken:
ADHS sollte nicht mehr als Störung oder Krankheit beschrieben werden, sondern als ein Problem. "Es gibt keine biologischen Tests für ADHS. Sie ist bis auf Weiteres nicht in den Gehirnen oder Genen von Individuen feststellbar…" Die Verhaltensweisen, die mit der Klassifikation ADHS beschrieben werden, kämen bei allen Kindern und Erwachsenen in kleinerem oder größerem Ausmaß vor.
Man solle auch besser nicht mehr von "Symptomen" oder "Diagnosen" sprechen, da diese Wörter wiederum auf Störungen oder Krankheiten deuten. Konsequenterweise seien die Menschen dann auch keine "Patienten", sondern allenfalls "Klienten". Der einseitigen Darstellung biologischer Faktoren solle man die wissenschaftlich belegten gesellschaftlichen Faktoren - insbesondere die Familien-, Kindergarten- und Schulsituation - entgegenstellen.
Mein Erklärungsversuch
Diese neuen Berichte über ADHS sind für mich selbst nur "Symptom" einer tieferen Krise von Psychologie und Psychiatrie auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite. Seit den 1980er-Jahren haben die Möglichkeiten der Lebenswissenschaften, vor allem wegen neuer Verfahren der Genetik und Bildgebung, enorm zugenommen.
Die 1990er wurden dann vom damaligen US-Präsidenten George H. W. Bush zur "Dekade des Gehirns" aufgerufen. Gleichzeitig startete das Humangenomprojekt. 2001 wurde dessen Erfolg gefeiert. Tatsächlich dauerte die Arbeit wohl noch 20 Jahre länger, bis in dieses Jahr. 2004 erschien das deutschsprachige Manifest führender Hirnforscher. Zurzeit läuft noch das Humangehirnprojekt.
Diese neuen Verfahren haben eines gemeinsam: Sie zielen alle aufs Individuum. Das passt hervorragend in die neue politische Leitkultur, die wir nun oft "Neoliberalismus" nennen: Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen (Margaret Thatcher). Jeder ist seines Glückes Schmied. Das macht aber nicht nur die Erfolge, sondern auch das Scheitern zur Frage individueller Verantwortlichkeit.
Die biologischen Verfahren – Gentests und Hirnscans – untersuchen individuelle Variabilität. Damit dekontextualisieren sie den Menschen: Geschichte, Familie, Umgebung und Institutionen verschwinden hinter den körperlichen Mustern. Dabei sind die Effekte, die die Lebenswissenschaften wirklich finden, in aller Regel äußerst klein.
Das hindert Wissenschaftler und Journalisten aber nicht daran, sie zu verabsolutieren. Alles sei biologisch erklär- und behandelbar. Falls jemand doch einmal kritisch nachfragt, bekommt man keine besseren Daten, sondern nur ein Versprechen: Den Rest werde man in zukünftiger Forschung schon finden. Das geht nun schon seit Jahrzehnten so.
Falsches Menschenbild
Nein, das materialistisch-reduktionistische Menschenbild muss nun als hinreichend widerlegt angesehen werden. Die menschliche Subjektivität, individuelle und gesellschaftliche Probleme lassen sich in aller Regel nicht biologisch fassen, schon gar nicht molekularbiologisch. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprangen erst auf den Gen-, dann auf den Neurozug auf. Denn dort gab (und gibt) es ja das meiste Geld.
Im Hyperwettbewerb um die einflussreichen Stellen gibt das den Ausschlag: Wer die meisten Mittel einwerben, die teuersten Maschinen, das meiste Personal anstellen kann, der hat die längste Publikationsliste. Das diene angeblich der Bestenauslese; in Wirklichkeit führt es zu Opportunismus und Anpassung. Das zeigen die Forschungsdaten nun mehr als deutlich.
Dabei finden die wichtigsten Entscheidungen – wer den Zuschlag für Fördermittel, wer die begrenzten Publikationsplätze, wer die seltenen Professuren bekommt – hinter verschlossenen Türen statt. Sie sind meist nicht einmal hinterher öffentlich einsehbar. Würden Gerichte so arbeiten, dann nennen wir das wohl "Totalitarismus".
Umgang mit Kritikern
Bei alldem verdienen die Hersteller der teuren Maschinen und natürlich die pharmakologische Industrie Milliarden. Zu welcher Markt- und Lobbymacht das führt, können wir wahrscheinlich nicht einmal erahnen. Kritiker wie der angesehene Psychiatrieprofessor David Healy, die schon in den 1990ern auf die zweifelhaften Praktiken hinwiesen, bekamen Steine in den Weg gelegt.
Schließlich verklagte Healy die Universität Toronto (Kanada) – mit Erfolg. Diese hatte seine Berufung auf einen einflussreichen Lehrstuhl im letzten Moment zurückgezogen. Zuvor hatte der Psychiater auf Probleme mit dem Antidepressivum Prozac (Fluoxetin) hingewiesen, das vom Pharmariesen Eli Lilly vertrieben wird; und Eli Lilly ist wiederum Spender der Universität Toronto.
Noch viele Jahre später berichtete die hier erwähnte Laura Batstra von Einschüchterungsversuchen und Druck auf ihre Vorgesetzten an der Universität. Sie hatte es gewagt, das vorherrschende biologische Modell in der Psychiatrie und insbesondere die Medikamentenverschreibungen für ADHS zu kritisieren. Und darauf basieren eben die Karrieren führender Psychiater und die Profite einflussreicher Firmen.
Ich selbst bekomme in Reaktion auf meine Kritik selten guten Argumente – sondern hin und wieder schlechte Gutachten von Kollegen, die sich hinter ihrer Anonymität verstecken. Es ist aber Fakt, dass die neuen Berichte bestätigen, was ich seit Jahren schreibe: zum Beispiel 2016 über die politische Komponente der Individualisierung, 2017 über den Effekt der Einschulung auf ADHS-Problematik, der auch in Deutschland nachgewiesen ist, oder die auffälligen Missverständnisse zur Erblichkeit.
"Aber die Medikamente wirken doch!", rufen jetzt vielleicht ein paar Betroffene. Nun ja – bei ADHS geht es um Substanzen, die andere als Partydroge verwenden (z.B. Speed/Amphetamin). Ich kann mir vorstellen, dass damit langweilige Arbeiten interessanter erscheinen. Und ich esse auch mal ein Stück Schokolade oder trinke eine Tasse Kaffee, wenn ich keine Lust mehr habe.
Vergessen wir nicht, dass die Unterscheidung von Genussmitteln, Medikamenten und Drogen eine soziale Konvention ist.
Systemsicht
Man sollte aber auch dieses Problem nicht zu sehr individualisieren, sondern im Kontext und System betrachten: Dieses System erwartet von Medizinern, Therapeuten und Wissenschaftlern mit Karriereambitionen schier Unmögliches. Da kommt es zu "strategischen Anpassungserscheinungen".
Bevor man mit dem Finger auf andere zeigt, sollte man sich fragen, wie man sich selbst unter diesen Bedingungen verhalten würde.
Die gute Nachricht ist aber, dass diese Systemregeln von Menschen gemacht – und deshalb auch revidierbar sind. Weniger Märchen über Exzellenz und Bestenauslese; mehr feste und unabhängige Stellen in Forschung und Wissenschaft. Den letzteren Schritt haben die Niederlande gerade vollzogen. Wann folgt das große Nachbarland im Osten?
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog Menschen-Bilder des Autors.