Networker im Zeitalter der Postkutschen

Der Universalgelehrte Albrecht von Haller führte bereits im 18. Jahrhundert ein Leben im Netz

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Eine Ausstellung im Berner Museum für Kommunikation präsentiert Albrecht von Haller als einen Vorläufer der heutigen "Netjunkies". Der Universalgelehrte betätigte sich in so verschiedenen Disziplinen wie Botanik, Dichtung oder Anatomie. Zu seinem profunden Fachwissen gelangte von Haller nur dank einem europaweiten Netz von 1200 Korrespondenten.

Nicht erst seit der Einführung elektronischer Kommunikationsmedien ist "Networking" ein karriereentscheidender Faktor. Der Aufklärer und Universalgelehrte Albrecht von Haller machte lange vor unserer Zeit vor, wie wissenschaftliche Effizienz und ein enormes Fachwissen in verschiedenen Wissenschaftszweigen dank einem dicht gewobenen Kontaktnetz erlangt werden kann. Der 1708 in Bern geborene Haller studierte zunächst in Tübingen und Leiden Medizin, bevor er nach Jahren als praktizierender Arzt in seiner Geburtsstadt als Professor der Anatomie, Botanik und Chirurgie an die Universität in Göttingen berufen wurde. Insgesamt 17 Jahre verbrachte Haller in der deutschen Universitätsstadt., bevor er wieder in die Schweiz zurückkehrte. Unter dem Titel "Ferngespräche - die 17'000 Briefe des Universalgelehrten Albrecht von Haller" widmet sich das Berner Museum für Kommunikation der umfangreichen Korrespondenz des Wissenschaftlers und vergleicht sein nicht-elektronisches Networking mit zeitgenössischen Kommunikationsformen.

Wie Ulrich Schenk, Konservator am Museum für Kommunikation und Projektleiter der Ausstellung "Ferngespräche" erklärt, lässt sich Hallers Kommunikationsverhalten in zwei Phasen aufgliedern: Schon als Student suchte der junge Haller die Kontakte aktiv und schrieb die für seinen Wissensdurst relevanten Persönlichkeiten an, ab der zweiten Lebenshälfte musste der inzwischen europaweit bestens bekannte Wissenschaftler nicht mehr aktiv an seinem Kommunikationsnetz weben, er wurde mit Anfragen regelrecht überhäuft; dies nahm allerdings solche Ausmaße an, dass Haller in seinen letzten Lebensjahren die umfangreiche Korrespondenz zum Teil nur noch mit Müh und Not bewältigen konnte.

Die Kommunikationsinfrastruktur war im Europa des 18. Jahrhunderts in Form der privaten Fischer-Post und anderer Kurierdienste gewährleistet. Der deutschsprachige Raum, aber auch entferntere Destinationen wie etwa St. Petersburg konnten innerhalb weniger Tage erreicht werden. Bezahlt wurde die Transportdienstleistung damals in der Regel vom Empfänger. Da dies für den Vielkommunizierer von Haller ins Geld ging - in seinem Nachlass befinden sich 17'000 Briefe -, beauftragte er Studenten, die von Universität zu Universität unterwegs waren, seine Korrespondenz zu transportieren. Der enorme Output - Haller erhielt und schrieb während seines Erwachsenenlebens einen Brief pro Tag, daneben verfasste er zwei Druckseiten, nicht eingerechnet die 9000 Rezensionen - schlug sich auch formal nieder. Wie sich heutzutage beim E-Mail-Verkehr eine Verluderung der Groß/Klein- und der Rechtschreibung beobachten lässt, waren Hallers unter Zeitdruck verfassten Briefe zunehmend unleserlich - im Alter noch verstärkt durch eine Lähmungserscheinung im Arm. Einen Sekretär wollte Haller nicht, da die Verzögerung beim Diktat das ungestüme Denkverhalten des Wissenschafters gehemmt hätte. Sogar beim Essen schrieb Haller, oder wenn er nicht schrieb, dann las er. Hierzu ist die Anekdote überliefert, wonach Haller in der Linken das Buch hielt, in der Rechten die Gabel. Die Speisen im Teller wurden ihm zuvor von Bediensteten mundgerecht zubereitet.

Andere Formen der "Simultanarbeit" waren etwa das Verfassen von Briefen, während er Studenten unterrichtete, oder bei medizinischen Konsultationen pflegte von Haller Abhandlungen zu lesen und gleichzeitig den Schilderungen der Patienten zuzuhören. Das Kommunikationsgenie Albrecht von Haller legte dank solchen und anderen Kniffen eine wissenschaftliche Arbeitseffizienz an den Tag, mit der kein Zeitgenosse mithalten konnte.

Als Botaniker etwa legte Haller ein Herbar mit rund 10 000 Pflanzen an, wovon er einen beträchtlichen Teil von befreundeten Gelehrten aus ganz Europa per Brief zugeschickt erhielt - sozusagen als Vorläufer der heutige Attachements. Auch gab er Aufträge und ließ gezielt nach Pflanzen suchen. Was heute in Form von internationalen Forschungsprojekten Gang und Gäbe ist, hat seine Vorläufer in der Zeit der Aufklärung. Haller erzielte dank seinen Partnern für diese Zeit wegweisende Ergebnisse. So stellte er zum Beispiel dank der Kenntnis der Resultate einer botanischen Expedition im Auftrag der russischen Zarin nach Sibirien als erster einen Zusammenhang zwischen der Vegetation in höheren Lagen der Alpen und dem Norden Eurasiens her.

Den direktesten Bezug zu aktuellen Formen der Vernetzung zeigt sich in Hallers Tätigkeit als praktizierender Arzt. Wie sich heute medizinischer Rat aus der Ferne per Telefon und E-Mail einholen lässt, so haben die zeitgenössischen Behandlungsmethoden im 18. Jahrhundert die Ferndiagnose begünstigt. Der Arzt erteilte damals in erster Linie Ratschläge, verschrieb aufgrund des geschilderten Krankheitsbilds Heilmittel und untersuchte den erkrankten Körperteil nur in den seltensten Fällen. Als Networker mit einer Fülle von Kontakten betätigte sich von Haller auch als Vermittler von medizinischen Dienstleistungen - dabei allerdings stets auch auf den eigenen Ruhm bedacht. Ein Ratsherr aus der Stadt Lausanne litt am grauen Star und bat Haller um Rat. Dieser empfahl das Augenleiden beim Chirurgen Jacques Daviel in Paris behandeln zu lassen. Die Behandlung gelang und in der Folge entstand ein Briefwechsel zwischen dem Theoretiker Haller und dem Praktiker Daviel. Dieser bittet die Korrespondenz in einer Fachzeitschrift abdrucken zu dürfen, was Haller gewährt, da so nicht zuletzt auch sein Name im Gespräch bleibt.

Als Schriftsteller und Dichter wandte sich Haller gezielt an seine Leser; das damals aufkommende Interesse in breiteren Bevölkerungskreisen an Literaturerzeugnissen begünstigte die Kommunikation zwischen Autor und Leser. Haller erhielt von seiner Leserschaft Reaktionen auf seine Gedichte. Diese frühe Form von "Fanpost" wird in der Ausstellung "Ferngespräche" der Website "Lyrikmaschine" des Wiener Autors Martin Auer gegenübergestellt.

Die Fülle des Haller'schen Schaffen und Forschens ist bis heute noch nicht endgültig erfasst und dokumentiert. Der Umfang der Hinterlassenschaft beschäftigt an der Universität Bern seit nunmehr fast 10 Jahren ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das mit umfangreichen Datenbanken das Werk des "letzten Universalgelehrten" systematisch aufarbeitet.