Neuartige Gleitbomben für die Ukraine?
Russland setzt sehr erfolgreich Gleitbomben ein. Nun wollen die USA eine ähnliche Waffe für ukrainische F-16 entwickeln. Wird das die Waage zugunsten von Kiew neigen?
Russische Gleitbomben haben sich in den letzten Monaten zur militärisch herausragendsten Waffe in der Ukraine erwiesen. Bisher ist es den ukrainischen Streitkräften nicht gelungen, diese Bomben abzufangen oder selbst ein Analogon einzusetzen, da das gelieferte US-Material unter den Bedingungen eines Krieges mit einem militärisch mindestens ebenbürtigen Gegner weitgehend versagt.
Russlands Fähigkeiten im Bereich der elektronischen Kriegsführung neutralisiert die US gefertigte Präzisionsmunition auf breiter Front.
Jetzt hat Washington bekannt gegeben, dass es offenbar speziell für die Ukraine eine Art reichweitengesteigerte Gleitbombe oder Mini-Marschflugkörper entwickeln und ausliefern möchte. Laut des Fachportals Army Recognition veröffentlichte die US-Luftwaffe am 10. Juli 2024 eine Ausschreibung für die Entwicklung einer neuen flugzeuggestützten Waffe mit der Bezeichnung "Extended Range Attack Munition" (ERAM).
Elektronisch geschützte Gleitbomben sollen her
Für die Ausschreibung sind 16 Unternehmen ausgewählt worden, die bis zum 24. Juli Konzepte einreichen können. Die Anforderungen der US-Luftwaffe umfassen die Entwicklung einer Waffe der 250-Kilo-Klasse, die eine Reichweite von mindestens 250 nautischen Meilen (463 km) haben und eine Geschwindigkeit von mindestens 0,6 Mach (716 km/h) erreichen soll.
Besonderer Wert wird darauf gelegt, ein Navigationssystem zu entwickeln, das in Umgebungen mit GPS-Störungen und anderen Einwirkungen der elektronischen Kriegsführung funktioniert und dabei im Endanflug immer noch eine Treffergenauigkeit von 10 Metern aufweist. 1000 Stück dieser Waffen sollen innerhalb von 24 Monaten nach Auftragsvergabe produziert werden können.
Es wird sich dabei wahrscheinlich um eine Hybrid-Waffe handeln, und zwar um eine Mischung aus einer Gleitbombe und einem Marschflugkörper. Das behautet zumindest das Fachportal Bulgarian Military.
Überlegene russische elektronische Kriegsführung
Die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte im Bereich der elektronischen Kriegsführung (Eloka) haben die Nato-Militärs überrascht. Die GPS-geführte Munition Excalibur, das Himars-System, JDAM-ER, GLSDB, SDB – alle diese US-Waffen ereilt das gleiche Schicksal: Sie werden aufgrund der russischen Eloka entweder nicht mehr eingesetzt, oder haben stark an Genauigkeit verloren.
Das gleiche scheint auch für die französisch/britische Scalp/Storm Shadow zu gelten. Nicht nur US-Medien berichten von diesem Debakel, wie etwa der Business Insider. Ein weiterer wichtiger Indikator für die zunehmende Wirkungslosigkeit der oben genannten Nato-Waffen ist das Ausbleiben von Schlägen mithilfe dieser Wirkmittel gegen russische Ziele. Auf Pro-Ukrainischen-Kanälen lassen sich nahezu keine Videos finden, auf denen ein Einsatz dieser Waffen dokumentiert ist. Selbst Einsätze der neuen ATACMS bleiben aus.
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Die Nato-Doktrin sieht die Bekämpfung des Gegners vor, indem es ihn mit überlegener Waffentechnologie angreifen kann, Klasse statt Masse sozusagen. Im Gegensatz dazu sind russische Waffen in der Regel einfacher, robuster und vor allem billiger konstruiert, ein Konzept, was sich im Ukraine Krieg als überlegen zu erweisen scheint.
Die neue ERAM-Waffe wird wahrscheinlich für die sich bereits im Zulauf befindlichen F-16 Kampfjets optimiert sein. Denn anders als die russische Luftwaffe werden die F-16 in einem stark herausfordernden Luftraum operieren: Russland konnte in den vergangenen Monaten die absolute Luftherrschaft über den westlichen Luftraum der Ukraine erringen.
Keine ukrainische Flugabwehr mehr vorhanden
Man kann russische Erdkampfflugzeuge vom Typ Suchoi Su-25, die Freifallbomben unmittelbar über ukrainische Stellungen an der Front abwerfen, ohne auch nur von einem Nahbereichs-Flugabwehrsystem angegriffen zu werden.
Zudem ist es den russischen Streitkräften gelungen, nahezu die gesamte Luftwaffe der ukrainischen Luftstreitkräfte zu zerstören. Es ist schwierig zu schätzen, wie viel Kampfjets der ukrainischen Führung noch zur Verfügung stehen. Man kann aber kaum noch Einsätze der ukrainischen Luftwaffe wahrnehmen, daher dürfte die Anzahl der verbliebenen Jets sehr überschaubar sein. Es kann spekuliert werden, dass die Zahl weniger als 20 Maschinen beträgt.
Dagegen hat die russische Luftwaffe wahrscheinlich unter 10 Prozent ihrer Luftwaffe verloren, wie das Fachmagazin Air & Space Forces Magazine im April schätzte. Die weiter zunehmenden Aktivitäten der russischen Luftwaffe könnten diese Einschätzung unterstützen: Den russischen Streitkräften gelingt es weiterhin, den Einsatz ihrer Gleitbomben, die zwingend von einem Kampfjet aus zum Einsatz gebracht werden müssen, weiter zu steigern.
Ukrainische Luftwaffe am Ende
Daher ist die Reichweite der konzeptionierten neuen ERAM-Waffe so wichtig: mit 463 Kilometern Reichweite könnten die F-16 als deren Waffenträger außerhalb der Reichweite der weitverbreiteten russischen S-400 Flugabwehrsystem operieren, die eine Reichweite von bis zu 400 Kilometern aufweist. Die neueste Weiterentwicklung des mächtigen S-400 Komplexes, das S-500 "Prometheus", hat allerdings eine Reichweite von 500 Kilometern.
Etwa 400 Kilometer weit kommt auch die neueste im Einsatz befindliche russische Luft-Luft-Langstreckenrakete, die von einem Flugzeug abgefeuert wird.
Es kann daher angenommen werden, dass die neu zu entwickelnde ERAM-Waffe weit hinter den eigenen Linien zum Einsatz gebracht werden soll, um nicht der starken russischen Luftabwehr ausgesetzt zu sein. Daher also die vergleichsweise große Reichweite der neuen Waffe.
Einsatz von weit hinter den eigenen Linien aus
Die ERAM wird nur von Kampfjets abgefeuert werden können. Doch genau das kann einem möglichen Erfolg der Waffe entgegenstehen, denn die F-16, die der ukrainischen Luftwaffe bald zur Verfügung stehen wird, gilt bereits jetzt als veraltet und als leichte Beute für die russische Luftwaffe in Zusammenspiel mit der weltweit stärksten bodengestützten Flugabwehr.
Militärexperte Harrison Kass bezweifelt in seinem Artikel für die US-Publikation National Interest die Überlebensfähigkeit der F-16 in der Ukraine:
Sobald die Ukrainer in den von Russland kontrollierten Luftraum eindringen würden, würde der Wert der F-16 deutlich sinken, ebenso wie ihre Überlebenschancen.
Der F-16 könnte zudem ein ähnliches Schicksal drohen, wie es den US-Abrams-Panzer ereilt hat. Dieser ist technisch anfällig, benötigt eine umfangreiche Logistik und ist mit seinem deutlichen Übergewicht nicht für den Einsatz auf den Böden der Ukraine geeignet.
Auch die F-16 ist logistisch anspruchsvoll. Und sie benötigt exzellent gewartete Fliegerhorste, hier vor allem eine glatte Rollbahn. Denn der große, tief liegende Lufteinlauf ihres Triebwerkes ist anfällig für Verschmutzungen der Start- und Landebahn, die leicht eingesaugt werden und so das Triebwerk beschädigen können, ähnlich wie bei einem Vogelschlag.
Die F-16 ist logistisch anspruchsvoll
Deshalb muss man abwarten, wie effektiv sich die F-16 in einem stark umkämpften Umfeld erweisen wird. Die russischen Streitkräfte hatten Monate Zeit, um sie auf die Ankunft der US-Jets vorzubereiten. Dazu gehört auch die Ausweitung ihrer strategischen Luftkampagne auf die Infrastruktur der ukrainischen Luftstreitkräfte. Ukrainische Fliegerhorste werden jetzt regelmäßig zum Ziel russischer Raketen und Langstreckendrohnen.
1000 Stück der neuen ERAM-Waffe sollen in 24 Monaten produziert werden. Das wäre eine Produktionsrate von gerundet 1,37 Stück pro Tag. Im Vergleich dazu kann die russische Luftwaffe zurzeit wahrscheinlich mehr als 100 ihrer Gleitbomben jeden Tag zum Einsatz bringen. Auch aufgrund dieser schieren Masse spricht der österreichische Oberst Markus Reisner gegenüber der Telepolis von einer "FAB-Krise".
Allerdings ist noch völlig unbekannt, wann die neue US-Waffe an die Ukraine übergeben werden kann. Der äußerst kurze Zeitrahmen für die Abgabe von Konzepten im Rahmen der Ausschreibung kann allerdings dafür sprechen, dass die ERAM möglichst schnell in die Produktion gehen soll.
Effektivität wird sich erst noch erweisen müssen
Die Neutralisierung wichtiger, zentraler Nato-Waffen durch die russischen Mittel der elektronischen Kriegsführung muss für das US-dominierte Militärbündnis ein Schock sein. Fieberhaft scheint man jetzt nach Lösungen zu suchen.
Aufgrund der überwältigenden russischen Luftüberlegenheit, der schwierigen Ausbildungssituation der ukrainischen F-16-Piloten, der speziellen Anforderungen der US-Kampfflugzeuge und des langen Zeitraums für den Zulauf der Flugzeuge ist der Erfolg eines zukünftigen Einsatzes der ERAM nicht gesichert.
Russland konnte sich über Monate auf einen F-16 Einsatz vorbereiten. Da die ERAM aber ausschließlich von einem Flugzeug zum Einsatz gebracht werden kann, hängt die Effektivität der Waffe zu 100 Prozent von der Überlebensfähigkeit der Trägerplattform ab. Und diese wird sich in den nächsten Monaten erst noch beweisen müssen.
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