Neue Partei von Sahra Wagenknecht: Welches Programm sie sich geben sollte

Seite 2: Auf diese Forderungen muss die neue Partei beharren

Die Unterstützung gewerkschaftlicher Forderungen und Kämpfe für höhere Löhne und gute Arbeitsbedingungen, geregelte und kürzere Arbeitszeiten, sozialen Schutz, möglichst flächendeckende Tarifbindung und Mitbestimmung ist unverzichtbar. Vernünftige Wirtschaftspolitik kann nur eine zugleich sozial und ökologisch nachhaltige sein.

• Schutz der industriellen Grundlagen, Schutz der sozialen Interessen und Beachtung der Mobilitäts- und Energiebedürfnisse der Bevölkerung darf nicht bedeuten, dass Klimapolitik abgelehnt oder gering geschätzt wird. Die Notwendigkeit von Klima- und Umweltschutz und einer Politik des Umbaus in Richtung Klimaneutralität darf nicht bestritten, sondern muss grundsätzlich unterstützt werden.

Auch die Gewerkschaften haben erkannt, dass auch nur so die Industrie in Deutschland dauerhaft zu sichern sein wird. Pipelinegas aus Russland ist die bessere Alternative zu LNG- und Frackinggas sowie zu Kohle und Atom als Energiequelle für den Übergang, die längerfristige und grundsätzliche Perspektive sind aber nur die regenerativen Energien.

• Forderungen nach einer Entlastung der arbeitenden Bevölkerung und ihrer Familien mit kleinen und mittleren Einkommen von Steuern und Abgaben sind grundsätzlich sinnvoll. Sie dürfen aber nicht in einer Weise formuliert und überzogen werden, dass sie neoliberalen Parolen von pauschaler Abgabensenkung ("mehr netto") und neoliberaler Politik von Sozialstaatsabbau in die Hände spielen.

Die neue Partei muss sich von dieser klar unterscheiden und abgrenzen, indem sie zugleich die Wichtigkeit öffentlicher und sozialer Leistungen und von deren Stärkung betont. Deren Abbau ist von der Verteilungswirkung her immer noch weit unsozialer als es Abgaben sind, auch wenn diese von der breite Masse gezahlt werden.

Es ist von den finanziellen Dimensionen her unvermeidbar, dass ein entwickelter Sozialstaat überwiegend von den Beschäftigten selbst bezahlt werden muss. Es muss deutlich gemacht werden, dass die Belastung der unteren und mittleren Einkommen dann am meisten gesenkt werden kann, wenn alle ihren angemessenen Beitrag leisten und insbesondere die Reichen und die Unternehmen angemessen hohe Steuern zahlen und bei ihnen Schlupflöcher geschlossen werden.

Forderungen nach einer Vermögensteuer und gerechteren Erbschaftsteuer, die auch große Betriebsvermögen erfasst, sind unverzichtbar. Die Partei muss m.E. klar eine sein, die den Sozialstaat schützen und stärken will. Es sollte deutlich werden, auch als Aufklärung über deren tatsächlich antisoziale und neoliberale Ausrichtung, dass in der Finanz- und Sozialpolitik die grundsätzlichsten Gegner die FDP und die AfD sind.

• Förderung von Bildung und auch Leistungsorientierung in Schulen auch als Bedingung für künftigen Wohlstand durch eine leistungsfähige Wirtschaft darf nicht als verstärkte Eliteorientierung und Selektion verstanden werden, sondern muss auf gleiche Chancen und die Entfaltung der Fähigkeiten möglichst aller gerichtet sein.

Die Betonung der Arbeit und einem darauf gerichteten Leistungsprinzip ist richtig und unterscheidet uns von weiten Teilen der Linken, aber sie muss abgegrenzt werden von einem neoliberalen Verständnis, das bloßen Markterfolg gleich Leistung setzt, Legenden von "jeder ist seines Glückes Schmied" erzählt und den Abbau von Sozialleistungen fordert.

Weiterhin gilt, dass extremer Reichtum nie auf eigener Arbeit beruht, sondern auf der Aneignung der Arbeit anderer, und die Einkommens- und Vermögensungleichheit innerhalb der Länder wie weltweit krass ungerecht und viel zu groß ist.

• Die von bürgerlich-akademisch Linksliberalen betriebene Politik des "Wokeismus", der überzogenen Sprach- und Verhaltensvorschriften und einer "Cancel-Culture" ist abzulehnen, aber zugleich muss wirklichem, absichtsvollen, im schlimmsten Fall gewalttätigem Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Feindlichkeit gegen anderen Religionen oder Volksgruppen, Sexismus, Queerfeindlichkeit, jeder Art von Menschenfeindlichkeit und Benachteiligung von Menschen aufgrund persönlicher Merkmale klar entgegengetreten werden

Humanistische und linke Positionen

Es gilt der Kern einer humanistischen und linken Position: Alle Menschen haben im Grundsatz gleiche Würde und Rechte, ungleiche Behandlung und soziale Ungleichheit müssen sachlich begründet sein. Aus Kulturkämpfen sollte sich die neue Partei weitgehend heraushalten und weder in die eine noch die andere Richtung besonders profilieren. Sie kann da immer nur mehr verlieren als gewinnen.

• Eine unreflektiert und rein moralisch getriebene Einwanderungspolitik, die "offene Grenzen für alle" propagiert und von den realen negativen Folgen unkontrollierter Massenmigration in den Zielländern wie in den Herkunftsländern nichts wissen und nicht darüber reden will, ist verantwortungslos.

Eine Politik, die Tausende im Mittelmeer ertrinken oder in Lagern verelenden lässt und nichts wirksam gegen Fluchtgründe tut, sondern sie oft durch Sanktionen und das Schüren von Konflikten bis hin zu Kriegen sogar vergrößert, ist menschenverachtend. Eine vernünftige und verantwortungsvolle Migrationspolitik muss beide genannten Herangehensweisen ablehnen und sich den Problemen stellen und sie möglichst human und sozial zu bewältigen versuchen.

Auch kann ein drohender oder bereits bestehender Mangel an Arbeitskräften nicht durch eine massive Fachkräfteeinwanderung gelöst werden, sondern muss vor allem durch Qualifizierung und bessere Bedingungen zur Integration von bisher Erwerbslosen und unfreiwillig nicht oder nur wenig Erwerbstätigen in die Arbeitswelt angegangen werden.

Gleichzeitig wird aber wie bisher auch Einwanderung einen Beitrag leisten müssen, um den Rückgang der einheimischen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zu mildern, sie muss von besserer Integrationspolitik begleitet werden. Rechter und rassistischer Propaganda für ein vermeintlich reines deutsches Volk und gegen Eingewanderte und ihre Nachkommen muss entgegentreten werden.

• Die Nationalstaaten bzw. Territorialstaaten sowie ihre Regionen und Kommunen bleiben die zentrale Ebene demokratischer politischer Gestaltung. Vorstellungen einer Überwindung der Nationalstaaten zugunsten einer "Republik Europa" oder gar einer Weltbürgerschaft haben keine reale Grundlage. Die Europäische Union muss klar kritisiert werden, weil sie einen neoliberalen Kapitalismus befestigt, Aufrüstung und Konfrontationspolitik gegen Russland, China und andere betreibt, und weil sie undemokratisch funktioniert und politische Gestaltungsmöglichkeiten in den Mitgliedstaaten einschränkt.

Deshalb müssen ihre Vertragsgrundlagen und Politik grundlegend umgestaltet werden. Forderungen nach einer Auflösung der EU oder einem Austritt Deutschlands sind aber nicht sinnvoll, sie würden die Basis einer neuen Partei spalten und verkleinern.

• Eine Politik für Frieden und gegen Militarismus und Imperialismus muss gegen die herrschende Politik im eigenen Land, in der EU, aber insbesondere auch gegen die Nato und ihre Führungsmacht USA vertreten und durchgesetzt werden.

Es muss daher eine deutliche Kritik an der westlichen internationalen Politik und an den USA und der Nato vorgetragen werden, aber sachlich und argumentativ. Forderungen nach einem Austritt aus den Militärstrukturen der Nato und einem Abzug der USA und aller ausländischen Truppen aus Deutschland sind richtig, ob und wie sie von der neuen Partei programmatisch und in Wahlkämpfen vertreten werden sollten, muss diskutiert werden, um die notwendige Breite der Partei nicht zu gefährden.

Ganz klar muss sein, aber die Orientierung für sofortige Beendigung von Kriegen durch Verhandlungen, für Abrüstung, Entspannung und Zusammenarbeit statt Konfrontationspolitik und gegen westliche Heuchelei und Doppelstandards.

• Die Positionen müssen möglichst in populärer, nachvollziehbarer und zugespitzter Form vorgetragen und vertreten werden, sie müssen Verstand und Emotionen der Menschen ansprechen. Zugleich ist aber nötig, dass sie sachlich und fachlich fundiert, seriös und grundsätzlich realisierbar sind und dass auf persönliche Abwertung Andersdenkender möglichst verzichtet wird. Überzogener Moralismus und Anforderungen an Einzelne sind abzulehnen, aber zugleich sind ethisch-moralische Grundlagen und Kriterien und die Vermittlung von Orientierungen für das vor allem politische Handeln der Einzelnen wichtig.

Neben der medienvermittelten oder der Ansprache der Öffentlichkeit auf größeren Veranstaltungen ist es auch wichtig, dass Positionen der Partei, bzw. die mit ihr verbunden werden, in fachlichen, wissenschaftlichen, gewerkschaftlichen und Bewegungsdiskursen vertreten werden und dass eine auch theoretisch fundierte Diskussion in der Partei stattfindet. Das sind verschiedene Ebenen und Sphären der politischen Diskussion und Kommunikation, die nicht gegeneinander gestellt werden dürfen, sondern die eine Partei alle bedienen und miteinander kombinieren muss.

Es gibt noch weitere Punkte, bei denen politische Widersprüchlichkeiten auftreten. Sie können nicht einseitig aufgelöst werden, weder in die eine noch die andere Richtung, sondern müssen diskutiert und bearbeitet werden, Abwägungen und ein Spektrum von Antworten sind nötig.

Sahra Wagenknecht wird in der neuen Partei und insbesondere für ihre Darstellung in der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle einnehmen. Daneben sind aber auch etliche weitere Personen notwendig, um die Partei nach außen und in verschiedenen Zusammenhängen zu vertreten, um das ganze politische Spektrum und die verschiedenen sozialen Gruppen und Diskursebenen anzusprechen. Viele weitere Personen sind zudem nötig, um die Partei zu organisieren, zu leiten und die vielen praktischen Anforderungen vor Ort zu erledigen.

Es ist unvermeidbar und auch sinnvoll, um verschiedene Gruppen anzusprechen, dass dabei von verschiedenen Personen der Partei auch im Einzelnen andere oder anders betonte Positionen öffentlich vertreten werden, so wie das in allen Parteien der Fall ist.

Auch Widerspruch und sachlich, respektvoll und inhaltlich fundiert ausgetragene kontroverse Diskussionen müssen innerhalb der Partei möglich sein und sind auch erforderlich. Die neue Partei muss sich von der Linken auch dadurch unterscheiden, dass sie das verwirklicht.

Zugleich ist aber erforderlich, dass die in diesen verschiedenen Sphären und Diskursen und von den verschiedenen Personen vertretenen Positionen nicht unvereinbar sind, sondern in einem gemeinsamen Rahmen zusammenpassen. Deshalb ist neben den in der Satzung festzuschreibenden allgemeinen politischen Grundlagen ein Programm der Partei erforderlich.

Zudem sind Programme zu den Wahlen erforderlich, an denen sich die Partei beteiligt. Diese Programme sollten nicht übermäßig lang und detailliert sein, sondern sich auf Schwerpunkte und zentrale Aussagen und möglichst populäre Botschaften konzentrieren und in einer allgemein verständlichen Sprache abgefasst werden.

Ralf Krämer war 2004 einer der Initiatoren der Bildung der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit WASG, die sich 2007 mit der PDS zur Partei DIE LINKE vereinigt hat. Er war viele Jahre im Parteivorstand und hat in der Programm- und Redaktionskommission am Erfurter Parteiprogramm der LINKEN mitgeschrieben. 2022 trat er aus der Partei aus. Weiteres dazu findet sich auf seiner Website.

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