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Neue Studien zu "nuklearer Hungersnot"

Selbst ein "begrenzter" Atomkrieg könnte zu einer globalen Abkühlung führen. Weltweite Hungerkatastrophe mit bis zu 2,5 Milliarden Toten droht. Wie die Gefahr durch den Ukraine-Krieg unterschätzt wird.

Die deutsche Sektion der Ärzte- und Friedensorganisation IPPNW hat Mitte des Monats einen 27-seitigen Bericht mit vielen eindrucksvollen Abbildungen und instruktiven Tabellen mit dem Titel "Nukleare Hungersnot [1]" veröffentlicht. Es handelt es sich um die deutsche Übersetzung einer Arbeit, die von einem Team der Physicians for Social Responsibility, der US-amerikanischen Sektion der IPPNW, unter Leitung des Arztes, Wissenschaftlers und Journalisten Matt Bivens erstellt worden ist [2].

Auf diesen Bericht soll dieser Artikel aufmerksam machen. Er schließt sich inhaltlich an meinen letzten Telepolis-Artikel an, der darauf hinweist, dass seit Beginn des Ukraine-Krieges die Gefahr eines Atomkrieges wieder real ist.1 [3] Dort habe ich im Abschnitt "Schlussfolgerungen" auch auf eine neuere Arbeit über mögliche ökologische Folgen eines Atomkrieges hingewiesen.

Seit Langem ist bekannt, dass ein großer Atomkrieg die moderne Zivilisation zerstören und einen Großteil der Menschheit auslöschen könnte. Aber was ist mit einem "begrenzten" Atomkrieg, der nur in einer Region der Erde stattfindet oder bei dem bloß ein kleiner Teil des weltweiten Arsenals zum Einsatz kommt?

Auch ein begrenzter Atomkrieg führt zu einem Temperatursturz

Dieser IPPNW-Bericht fasst die jüngsten wissenschaftlichen Studien zusammen, die zeigen, dass sich ein sogenannter "begrenzter" oder "regionaler" Atomkrieg weder begrenzt noch nur regional auswirken würde. Ganz im Gegenteil, er hätte Auswirkungen auf den gesamten Planeten.

"Ein großer Prozentsatz der Menschen wird verhungern", wird Lili Xia, Klimawissenschaftlerin an der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, in einem aktuellen Nature-Artikel zu diesem Thema zitiert.2 [4]

Er wäre tatsächlich gefährlicher, als uns bis vor wenigen Jahren bewusst war. Auch wenn bei einem Krieg nur drei Prozent, das heißt weniger als ein Zwanzigstel der weltweiten Atomwaffen, detonieren würde, kämen das Klima, die globalen Nahrungsmittelketten und wahrscheinlich die öffentliche Ordnung zum Erliegen. Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen kämen durch Hungersnöte und Unruhen ums Leben.

"In einem Atomkrieg käme es durch auf Städte und Industriegebiete abgeworfene Bomben zu Feuerstürmen, und das würde große Mengen an Ruß in die Atmosphäre befördern, die sich dann rasch verbreiten und den Planeten abkühlen würden", sagt die oben genannte Wissenschaftlerin in der richtungsweisenden, im August 2022 in Nature Food veröffentlichten Studie, deren Ergebnisse in dem IPPNW-Bericht an vorderster Stelle angeführt sind.3 [5]

Das von Xia an der Rutgers Universität geleitete internationale Team hat anhand von fünf verschiedenen Szenarien eines begrenzten Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan untersucht, wie viel sonnenverdunkelnder Ruß entstehen würde.4 [6]

Berechnet wurde, wie stark die globalen Temperaturen im Ergebnis fallen würden, was mit dem Nahrungsmittelanbau passieren würde und letztendlich, wie viele Menschen wahrscheinlich verhungern würden.

Die Ergebnisse: So grauenvoll es in der Kriegszone mit den vielen Millionen unmittelbaren Todesfällen selbst auch sein würde – die Zahl dieser regionalen Todesopfer würden in den darauffolgenden Monaten und Jahren gering erscheinen im Vergleich mit der riesigen Zahl an Hungertoten weltweit.

Selbst ein kleiner Konflikt, in dem sich zwei Länder gegenseitig mit Atomwaffen bekämpfen, könnte zu einer weltweiten Hungersnot führen, wie diese neuen Forschungsergebnisse nahelegen.

"Hunger könnte ein Drittel der Erdbevölkerung töten", schreiben die Autorinnen und Autoren der genannten Studie, und das schon als Folge eines Krieges zwischen Indien und Pakistan, bei dem weniger als drei Prozent des globalen atomaren Arsenals zum Einsatz kämen.

Größere und kleinere Szenarien

Ein Atomkrieg hat eine Reihe tödlicher Auswirkungen, von der direkten Tötung von Menschen durch die Atomexplosionen bis hin zu den anhaltenden Auswirkungen von radioaktiver Strahlung und anderen Formen der Umweltschädigung.

Xia und ihre Kolleginnen und Kollegen dagegen wollten die Folgen eines Atombombeneinsatzes weiter weg vom unmittelbaren Kriegsschauplatz untersuchen, um zu verstehen, auf welche Weise auch Menschen auf der ganzen Welt von einem lokalen Atomkrieg betroffen sein könnten. Die Wissenschaftler modellierten, wie sich das Klima in verschiedenen Teilen der Welt nach einem Atomkrieg verändern und welche Auswirkungen dies auf die Getreideernten und den Fischfang haben würde.

Sie analysierten dabei sechs Kriegsszenarien, bei denen unterschiedliche Mengen an Ruß in die Atmosphäre gelangen und die Oberflächentemperaturen zwischen einem und 16 Grad Celsius absinken würden. Die Auswirkungen könnten ein Jahrzehnt oder länger anhalten.

Ein begrenzter Atomkrieg, etwa zwischen Indien und Pakistan, der vielleicht wegen der umstrittenen Kaschmir-Region ausgelöst werden würde, könnte zwischen fünf und 47 Millionen Tonnen Ruß in die Atmosphäre schleudern, je nachdem, wie viele Sprengköpfe eingesetzt und wie viele Städte zerstört worden sind. Die Anzahl der Hungertoten würde in diesen Szenarien zwischen 260 Millionen und 2,5 Milliarden Menschen betragen.

Ein umfassender Nuklearkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, das sechste Szenario, das von Xia et al. untersucht worden ist, könnte sogar 150 Millionen Tonnen Ruß produzieren. Die den Globus umkreisende Rußwolke würde viele Jahre bestehen bleiben, bis sich der Himmel wieder lichten würde. In der Folge könnten 5 Milliarden Menschen an Hunger sterben.

Die Folgen des Atombombeneinsatzes: eine nukleare Hungersnot

Anhand von Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen berechnete Xias Team, wie sich sinkende Ernte- und Fischereierträge nach einem Atomkrieg auf die Anzahl der Gesamtkalorien auswirken würden, die den Menschen weltweit im Durchschnitt zur Verfügung stehen würden.

Die Wissenschaftler untersuchten mehrere Optionen, ob etwa die Menschen weiterhin Vieh züchteten oder ob sie stattdessen einige oder alle für das Vieh bestimmten pflanzlichen Produkte selbst verbrauchten.

Die Studie ging davon aus, dass es in einem gewissen Umfang eine Wiederverwendung für den menschlichen Verzehr von Pflanzen geben würde, aus denen jetzt Biokraftstoffe hergestellt werden, und dass die Menschen die Lebensmittelverschwendung reduzieren oder beseitigen würden.

In der Studie wurde auch angenommen, dass der internationale Handel zum Erliegen kommen würde, da viele Länder sich dafür entscheiden würden, zuallererst die Menschen innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu ernähren, anstatt Nahrungsmittel zu exportieren.

Xia et al. stellten fest, dass die Studie auf vielen Annahmen und Vereinfachungen darüber beruht, wie das komplexe globale Nahrungsmittelsystem auf einen Atomkrieg reagieren würde.

Aber die Zahlen, die dabei herausgekommen sind, ergeben ein krasses Bild. Selbst für das kleinste Kriegsszenario, einen indisch-pakistanischen Konflikt, der "nur" zu fünf Millionen Tonnen Ruß führt, könnte die Kalorienproduktion auf der ganzen Welt in den ersten fünf Jahren nach dem Krieg um sieben Prozent sinken.

In einem 47-Millionen-Tonnen-Ruß-Szenario sinken durchschnittlichen Kalorienmengen, die noch zur Verfügung stehen, um bis zu 50 Prozent.

Im schlimmsten Szenario, dem eines Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, sinkt die Kalorienproduktion in den drei bis vier Jahren nach dem Krieg um 90 Prozent.

Länder unterschiedlich stark betroffen

Die am stärksten betroffenen Länder in diesem Modell sind diejenigen in mittleren bis nördlichen Breitengraden, die bereits jetzt nur eine kurze Saison für den Anbau von Getreide zur Verfügung haben und die sich nach einem Atomkrieg dramatischer abkühlen würden als tropische Regionen.

Großbritannien zum Beispiel würde einen stärkeren Rückgang der verfügbaren Nahrungsmittel verzeichnen als ein Land wie Indien, das sich in geografisch niedrigeren Breiten befindet.

Aber auch Frankreich, das ein wichtiger Exporteur von Nahrungsmitteln ist, würde relativ gut abschneiden – zumindest in den Szenarien mit niedrigeren Emissionen –, denn wenn der Handel gestoppt würde, hätte es mehr Nahrungsmittel für seine eigene Bevölkerung zur Verfügung.

Neben dem größten Teil von Südamerika und weiten Teilen Afrikas ist Australien eine weniger betroffene Weltregion. Nach einem Atomkrieg vom Handel isoliert, würde Australien hauptsächlich auf Weizen als Nahrungsmittel angewiesen sein. Und Weizen würde in dem dann kühleren Klima, das durch atmosphärischen Ruß induziert wird, relativ gut wachsen.5 [7]

Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit

Ein begrenzter Atomkrieg würde zwar nicht zum Aussterben der Menschheit führen. Aber er wäre mit großer Sicherheit das Ende der modernen Zivilisation. Eine Abfolge von "Jahren ohne Sommer" mit Missernten, Hamsterkäufen und massenhafter Hungersnot würden alles auf den Kopf stellen, vom Welthandel bis zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung.

Keine Zivilisation könnte einem Schock dieser Größenordnung standhalten. Es gibt allen Grund anzunehmen, dass die meisten wirtschaftlichen, politischen und technischen Systeme, die für uns selbstverständlich sind, zusammenbrechen würden.

Frühere Studien, die sich mit den Auswirkungen des Einsatzes kleinerer Atombomben befasst haben, gingen von bis zu zwei Milliarden Menschen aus, die durch die globale Abkühlung und die dadurch bedingten Ernteausfälle bei einem begrenzten regionalen Krieg vom Hungertod bedroht wären.

Die neueren Studien modellieren Explosionen mit größerer Sprengkraft, die größere Städte in Brand setzen. Sie kalkulieren andere größere Faktoren wie den Zusammenbruch der Wirtschaft, die Zerstörung der Ozonschicht und die Auswirkungen der Strahlung, aber auch weiterhin nicht mit ein. Und dennoch übertreffen ihre Vorhersagen die bisherige Berechnungen.

Ein größerer regionaler Atomkrieg, der immer noch nicht den massiven Umfang des russischen oder amerikanischen Arsenals ins Spiel bringt, aber eine signifikante Menge eines Arsenals einer zweitrangigen Atommacht wie z.B. Indien, China, Pakistan, Israel, das Vereinigte Königreich oder Frankreich, würde um die 2,5 Milliarden Menschen töten.6 [8]

Ein häufiges Argument ist, dass etwas so offensichtlich Schreckliches niemals geschehen kann, weil es niemals zugelassen werden würde. Wir Ärztinnen und Ärzte kennen diese Art von magischem Denken gut – von Patientinnen und Patienten mit Realitätsverweigerung. Wir wissen, dass lebensbedrohliche Krankheiten wie zum Beispiel Bluthochdruck oder Darmkrebs jahrelang ignoriert werden können, dass sie aber, wenn sie erkannt worden sind, behandelt werden können und so eine Katastrophe vermieden werden kann.

Im Fall eines Atomkrieges gibt es jedoch keine wirksame Behandlung. Hier sind wir ausschließlich auf die Prävention angewiesen. Und der einzige Weg sicherzustellen, dass Atomwaffen niemals eingesetzt werden, ist, sie komplett abzuschaffen. Der von der UN-Generalversammlung am 7. Juli 2017 verabschiedete Atomwaffenverbotsvertrag, der am 22. Januar 2021 in Kraft getreten ist, bietet eine rechtliche und moralische Grundlage zur Abschaffung von Atomwaffen.

Schlussgedanken

Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto eher besteht aufgrund von Stellungnahmen von anerkannten Politik-Experten wie John Mearsheimer die Gefahr, dass hier auch Atomwaffen zum Einsatz kommen und eines der bedrohlichen Szenarien seinen Anfang nimmt, das im vorliegenden IPPNW-Bericht beschrieben wird.

Deshalb muss der Ukraine-Krieg so schnell wie möglich auf diplomatischem Wege beendet werden. Dazu gibt es Vorschläge aus der Friedensbewegung [9], die kürzlich vorgelegt wurden.

Waffenlieferungen aus Deutschland können den Krieg nur verlängern und dazu beitragen, dass das Sterben in der Ukraine weitergeht und die von dort ausgehende nukleare Bedrohung auch des Lebens von uns allen weiter besteht.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomwaffen/2022_Nukleare_Hungersnot_final_web.pdf
[2] https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomwaffen/Nuclear-Famine-Report-online-version-FINAL.pdf
[3] https://www.heise.de/tp/features/Neue-Studien-zu-nuklearer-Hungersnot-7240037.html?view=fussnoten#f_1
[4] https://www.heise.de/tp/features/Neue-Studien-zu-nuklearer-Hungersnot-7240037.html?view=fussnoten#f_2
[5] https://www.heise.de/tp/features/Neue-Studien-zu-nuklearer-Hungersnot-7240037.html?view=fussnoten#f_3
[6] https://www.heise.de/tp/features/Neue-Studien-zu-nuklearer-Hungersnot-7240037.html?view=fussnoten#f_4
[7] https://www.heise.de/tp/features/Neue-Studien-zu-nuklearer-Hungersnot-7240037.html?view=fussnoten#f_5
[8] https://www.heise.de/tp/features/Neue-Studien-zu-nuklearer-Hungersnot-7240037.html?view=fussnoten#f_6
[9] https://friedensratschlag.de/2022/06/baf-positionspapier-ukrainekrieg/