Neuwahlen Frankreich: Radikaler Rechtsruck, Macron droht bedeutender Machtverlust

Marine Le Pen vor der Tricolore

Bild: Tennessee Witney /Shutterstock

Le Pen-Partei Rassemblement National gewinnt erste Runde mit großem Abstand. Hoffnung der Mitte und der Linken richtet sich auf die Stichwahlen.

Auf Frankreich schauen Europa und große Teile der Welt an diesem Montag, an dem das zweite Halbjahr 2024 beginnt, mit einem besonderen Interesse: Das Land ist zum Schaufenster und zum Labor für eine politische Veränderung geworden, deren Folgen nicht abzusehen sind.

Die extreme Rechte ist, nicht unerwartet, erfolgreich aus dem ersten Durchgang der Neuwahl zur französischen Nationalversammlung hervorgegangen – Staatspräsident Macron hatte die zuletzt im Juni 2022 gewählte Parlamentskammer am Abend der Europaparlamentswahl vom 09. Juni dieses Jahres aufgelöst.

Die wichtigste Partei der Rechten, der Rassemblement National (RN, "Nationale Sammlung", der frühere Parteiname bis 2018 lautete Front National), erhielt laut dem vorläufigen Endergebnis 33,1 Prozent der Stimmen. Hinzu kommt insgesamt ein Prozent für weitere, kleinere rechtsextreme Kräfte.

Damit haben sich Befürchtungen bestätigt.

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Dank des geltenden Mehrheitswahlrechts dürfte die im Oktober 1972 gegründete, damals mit Hilfe der Druckereien, Infrastruktur und des Geldes des italienischen Neofaschismus in Gestalt des seit 1946 bestehenden Movimento sociale italiano (MSI) aufgebaute französische Partei über eine Mehrheit in der kommenden Nationalversammlung verfügen.

Dabei ist derzeit noch fraglich, ob es sich um eine relative Mehrheit – über eine solche verfügte das Präsidentenlager unter Emmanuel Macron in den letzten beiden Jahren – oder aber eine absolute Mehrheit handeln wird. Die Politikerinnen und Politiker des RN werben jetzt lautstark, dies ist nachvollziehbar, für eine absolute Mehrheit in der Stichwahl, um stabil (durch)regieren zu können.

Ihr Erfolg blieb schon im Vorfeld nicht ohne Auswirkungen. Auch nach Darstellung etablierter Medien schwappte bereits in den vergangenen drei Wochen, seit dem Abend der Europaparlamentswahlen, eine in diesem Ausmaß seit längerem nicht gekannte rassistische Welle durch das Land.

In Montargis, eine Zugstunde südöstlich von Paris, wurde ein Nachbarschaftsstreit landesweit zum Politikum.

Dabei beschimpften der Ehemann, aktiv beim RN, und dessen Gattin eine neue Nachbarin – offenkundig, weil sie schwarz ist – in übelster Weise und riefen der Krankenschwester zu "Ab ins Körbchen!" (à la niche!), buchstäblich, wie man es einem Hund befiehlt. Die Ehefrau, die der ihr unbekannten Nachbarin ins Gesicht schleuderte, wegen "Leuten wie ihr" sei sie aus dem sozialen Wohnungsbau ausgezogen, ist Gerichtsbedienstete in ihrer Stadt. Justizminister Eric Dupont-Moretti hat sie vom Dienst suspendiert.

Der früheren Partei- und Fraktionschefin des RN, Marine Le Pen, fiel dazu in der Öffentlichkeit erst einmal nur ein, nichts beweise, dass die Sache etwas mit Rassismus zu tun haben könnte. "Ab ins Körbchen!" sei ja vielleicht eine Neckerei unter Nachbarn, ein örtlich üblicher Spruch.

Die letzte Polemik vor dem ersten Wahlgang prägte unterdessen, seit Donnerstag, der bisherige Anwärter des RN auf das künftig möglicherweise von ihm zu besetzende Bildungsministerium, Roger Chuneau.

Er kommentierte in einer Talkshow bei BFM TV, eine frühere Ministerin wie Najad Vallaud-Belkacem – die junge Frau, gewiss keine Kopftuch-, sondern eher Minirock-Trägerin, besitzt neben der französischen auch die marokkanische Staatsangehörigkeit – hätte wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft nichts im Amt verloren gehabt.

Vallaud-Belkacem war seine frühere Vorgesetzte, der Mann ist hoher Beamter im Schulministerium. Marine Le Pen distanzierte sich eilfertig, so habe sie es nicht gemeint gehabt, als ihrer Partei sich gegen Doppelstaatsangehörige in "sensiblen" öffentlichen Ämtern einsetzte. Erstmals würde dadurch eine juristische Ungleichbehandlung unter französischen Staatsangehörigen. Im Hinblick auf die Nationalitât eingeführt.

Zum Vergleich: 33,1 Prozent, das ist bis auf die Dezimale genau der Stimmenanteil der NSDAP bei der Reichstagswahl im November 1932.

Nein, ansonsten sind beide historischen Situationen nicht identisch miteinander. Das heutige Frankreich ist weder Italien 1922 noch Deutschland 1933: Die Gewalt der Krisendynamik ist nicht dieselbe.

Im Italien der frühen Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts kam es zu heftigen bewaffneten Konfrontationen zwischen Grund- und Fabrikbesitzern einerseits und Landbesetzern sowie Streikenden andererseits, wobei die frühen Faschisten sich zu Rettern der Eigentümer aufschwangen und sich zugleich mit sozialer Demagogie an die Unterklassen richteten, und Deutschland nach 1929 war von den brutalen Verwerfungen einer extremen Weltwirtschaftskrise geprägt.

Vor allem aber verfügten etwa die frühen italienischen Faschisten über einen jederzeit zum Einsatz auch tödlicher Mittel bereiten, aktivistischen Kern, bestehend aus Frontkämpfern des damals erst seit kurzem beendeten Ersten Weltkriegs. Ihre Speerspitze bestand aus den Arditi, den Angehörigen freiwillig dienender Sturmtruppen an der italienisch-österreichischen Kriegsfront. Ein solches, in extremer Weise gewaltgewöhntes und -erprobtes Potenzial mit frischer Weltkriegserfahrung existiert heute schlichtweg nicht.

Ähnlich wie Sozialdemokraten des Jahres 2024 oder Kommunisten des Jahres 2024 treten auch Neofaschisten im Jahr 2024 nicht auf wie ihre politischen Vorgänger vor genau einhundert Jahren. Insofern ist es selbstverständlich falsch, zwei völlig unterschiedliche Situationen in einen Topf zu werfen.

In allernächster Zukunft könnte Frankreich – je nach Ausgang des zweiten Wahlgangs – durch Faschisten und ihren Verbündeten (reaktionären Konservativen, Karrieristen) regiert werden, jedoch nicht vor einem rapiden Umbau des Systems wie in Italien von 1922 zum 1925 zum faschistischen Staat stehen.

So tief ist die heutige Krise nicht. Wie viel Schäden für Demokratie und Menschenrechte hingegen in einem schleichenden Prozess verursacht werden können, wird entscheidend auch von den künftigen Widerständen abhängen.

2.500 Führungskräfte im Bildungsministerium unterschrieben etwa bereits eine Petition, die erklärt, künftig werde man Anordnungen verweigern, wenn diese auf verfassungswidrige Ungleichbehandlung unter Schülerinnen und Schülern hinausliefen.

Entscheidend wird aber noch ausfallen, wie sich nun bürgerliche Rechte – jener Teil der Konservativen, welcher sich nicht bereits mit Eric Ciotti offen zum Verbündeten des RN machte, und das Macron-Lager – positionieren, um eventuell durch Stimmbündnisse die Rechtsextremen in den Stichwahlen aufzuhalten.

In rund 300 von insgesamt 577 Wahlkreisen, respektive rund fünfhundert, da 81 Sitze bereits in der ersten Runde vergeben wurden, können drei Bewerberinnen oder Bewerber die Stichwahl unter sich austragen ("Dreieckswahl"), in rund 200 werden es nur zwei Kandidaturen in der Stichwahl sein. Um in diese einzuziehen, waren knapp zwanzig Prozent der abgegebenen Stimmen erforderlich.

Die entscheidende Frage lautet nun: Wird das bürgerliche Lager wenig aussichtsreiche, da (nach der ersten Runde) drittplatzierte Kandidaturen vor der Stichwahl zurückziehen, um das stärkere, innerlich heterogene Linksbündnis gegen die Neofaschisten zu favorisieren? Oder verweigert es eine solche Strategie?

Am gestrigen Wahlabend erhielt das Linksbündnis Nouveau front populaire insgesamt 27,99 Prozent der abgegebenen Stimmen, das Macron-Lager seinerseits 21 Prozent. Aus den Reihen des sehr diversen Linksbündnisses kündigte der Chef der linkspopulistischen Wahlplattform La France Insoumise (Das unbeugsame Frankreich), Jean-Luc Mélenchon, schon kurz nach 20 Uhr an, alle in ihren Wahlkreisen nur drittplatzierten Kandidaten – neben Bürgerlichen und Rechtsextremen – unverzüglich aus dem Rennen zu nehmen.

Hingegen kam noch am Wahlabend von der konservativen Partei Les Républicains (LR), und zwar jenem Teil, der nicht bereits unter Eric Ciotti mit dem RN zusammen kandidierte, die Ankündigung, man werde sich "Weder – Noch" positionieren.

Also auf keinen Fall eine Kandidatur aus der heterogenen Linken gegen den RN favorisieren, auch nicht umgekehrt.

Das Macron-Lager seinerseits zögert und kündigte weitere Beratungen im Laufe des Montags an. Voraussichtlich wird es Wahlempfehlungen für Linkskandidaturen dort aussprechen, wo es sich um sozialdemokratische oder grüne Kandidatinnen und Kandidaten handelt; jedoch verweigern, wenn diese von der linkspopulistischen Wahlplattform LFI kommen.

LFI vertritt in sozialer Hinsicht radikalere Forderungen als Sozialdemokratie oder Grüne. Zugleich schienen ihre außenpolitischen Stellungnahmen bisweilen fragwürdig, viel diskutiert wurde ihr aus der Sicht von Vielen mitunter zu wenig – bezüglich der Haltung zu dortigen islamistischen Kräften – differenzierten Positionen zum Gazakrieg Israels.

Dabei war LFI auch innerlich gespalten, Bewerber wie François Ruffin und andere kritisierten schnell auch den Terror der Hamas gegen israelische Zivilisten, andere zögerten und kritisieren eher einseitig das israelische staatliche Vorgehen.

Dazu kann man sich kritisch äußern oder kontrovers diskutieren. Einem Teil des konservativen Lagers dient dieser Vorwand jedoch nun dazu, mit einem geradezu pathologisch guten Gewissens für eine Gleichsetzung zwischen einer sehr heterogenen Linken und einer aus dem Neofaschismus kommenden Partei einzutreten, ja sogar Letztere zu favorisieren, weil es angeblich die Linke sei, die als antisemitisch zu bezeichnen sein (aufgrund ihrer außenpolitischen Stellungnahmen).

Wenn ein RN-Agitator wie Julien Odoul permanent gegenüber linken Talkshow-Kontrahenten nun auf den Knopf "Ihr seid antisemitisch!" drückt, ist das höchst durchsichtig. Aber es tun ihm auch Bürgerliche gleich, wie François-Xavier Bellamy, der bereits im Laufe der Vorwoche erklärte, bei Stichwahlen ohne zu zögern den RN gegen eine LFI-Kandidatur zu wählen.

Bellamy hatte allerdings bereits 2021, anlässlich des bevorstehenden Ausschlusses der Partei des Ungarn Viktor Orban aus der Europaparlamentsfraktion der Konservativen (EVP) vehement gegen den Ausschluss der völkisch-konservativen ungarischen FIDESZ getrommelt. Seine Positionierung ist also weder neu, noch den linken Debatten und vielleicht auch Verirrungen während des Gazakriegs geschuldet.

Das politische und moralische Desaster wird noch näher zu betrachten sein.