Niederländische Sperrstunde illegal
Einschränkungen von Grundrechten im Eilverfahren außer Kraft gesetzt
Während in den Niederlanden der Schnee schon wieder schmilzt – zwischen den Tiefsttemperaturen des letzten und den frühlingshaften Aussichten des kommenden Wochenendes liegen rund 30 Grad Unterschied – hagelt es am heutigen Dienstag Gerichtsurteile von großer Tragweite: So verlor die Online-Plattform Deliveroo in Berufung gegen die Essenskuriere, unterstützt von der Gewerkschaft FNV. Das Amsterdamer Gericht kam auch in höherer Instanz zum Urteil, dass es sich bei den Arbeitsverhältnissen um Scheinselbständigkeit handelt; dem Unternehmen drohen damit Nachzahlungen.
Der Hohe Rat (Hoge Raad) in Den Haag, die letzte Instanz im Zivil- und Strafrecht, wies am gleichen Tag die Revision eines Polizisten ab, der auf einem Musikfestival in Den Haag im Sommer 2015 den Arubaner Mitch Henriquez in den Würgegriff nahm. Der Mann, der sich bedrohlich benommen haben soll, starb bei der Festnahme. Es folgten tagelange Proteste gegen Polizeigewalt.
2017 verurteilte das Gericht in erster Instanz zwei Polizeibeamte zu je sechs Monaten Bewährungsstrafe wegen Misshandlung mit Todesfolge. 2019 wurde das Urteil in Berufung gegen den Polizisten, der dem Arubaner ins Gesicht geschlagen und Pfefferspray ins Gesicht gerieben hatte, aufgehoben, das gegen den Anwender des Würgegriffs aber aufrechterhalten. Mit der Ablehnung der Revision ist diese Strafe jetzt rechtskräftig.
Erfolg für "Viruswaarheid"
Das Urteil mit dem größten Paukenschlag erging aber in dem Eilverfahren in Den Haag, das die Kritiker von "Viruswaarheid" angespannt haben. Die Gruppe lehnt viele der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus als unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte ab. Noch Ende Januar hatte die Einführung der Sperrstunde ab 21 Uhr zu landesweiten Protesten und schweren Krawallen geführt (Niederlande: Schwere Krawalle in mehreren Städten).
Das Gericht stellte am heutigen Vormittag fest, dass die Sperrstunde umgehend aufgehoben werden muss. Dabei spielten sowohl formale als inhaltliche Gründe eine Rolle.
Als schwerwiegender formaler Mangel erwies sich in dem Verfahren, dass die Maßnahme über das Gesetz für außergewöhnliche Befugnisse der bürgerlichen Befehlsgewalt - mit der griffigen Abkürzung Wbbbg - eingeführt wurde. Dieses sei aber nur für dringende Notfälle gemacht, so das Gericht. Als Beispiel für so einen Umstand wird ein Deichbruch angeführt.
Über die Sperrstunde hatte die Regierung aber im Vorfeld lange debattiert. So wollte man die Zustimmung möglichst breiter Kreise in der Gesellschaft sichern. Die schwerwiegende Maßnahme war auch nicht zuletzt innerhalb der Regierungskoalition umstritten. Nach einer Diskussion im Parlament verschob man die Sperrzeit immerhin von 20:30 auf 21:00 Uhr. Wenn man aber Tage für eine Diskussion Zeit habe, dann könne man sich nicht auf einen dringenden Notfall berufen, befand nun das Gericht.
Unklarer Nutzen
Darüber hinaus unterzog das Gericht auch den Nutzen der weitreichenden Einschränkungen einer kritischen, wenn auch nur vorläufigen Prüfung. Zwar komme der Regierung eine große Entscheidungsmacht zu. Das entbinde sie aber nicht von der Pflicht, die weitreichenden Eingriffe als unvermeidbar zu begründen.
Die Regierung berief sich hierbei auf die größere Gefahr durch Mutationen des Coronavirus, die ansteckender seien. Dem entgegnete das Gericht, dass einerseits diese Mutationen zurzeit als weniger bedrohlich scheinen, als man zunächst dachte; andererseits stehe das Gesundheitssystem momentan weniger stark unter Druck als zu früheren Zeitpunkten der Pandemie, als noch keine Sperrstunde galt.
Zudem hat sich die Regierung dadurch in eine schwierigere Beweisposition gebracht, dass sie die Einführung der Sperrstunde mit der Reduktion von Hausbesuchen auf eine Person pro Tag kombinierte. Das Gericht gelangte so zur Überzeugung, dass sich darum die Wirkung der Maßnahmen nicht getrennt beurteilen lasse. Der Vorhersage, bei Abschaffung der Sperrstunde nehme die Anzahl der Infektionen um zehn Prozent zu, folgte es daher nicht.
Wie geht es weiter?
Nach dem Urteil überschlugen sich am Dienstagnachmittag die Reaktionen in den Medien. Aus der Opposition kam die Forderung nach einer Eildebatte im Parlament. Erst letzte Woche hatten fünf Parteien, darunter Geert Wilders' PVV, gegen die Verlängerung der Sperrstunde bis zum 2. März gestimmt.
Willem Engel, einer der führenden Köpfe von "Viruswaarheid", zeigte sich erfreut über den funktionierenden Rechtsstaat. Deren Anwalt, Jeroen Pols, hatte die Einschränkung der Grundrechte zuvor mit der Periode von 1940 bis 1945 verglichen, als die Niederlande vom Deutschen Reich besetzt waren.
Während bereits hunderte Bürgerinnen und Bürger Bußgelder wegen Übertretung der Sperrstunde zurückfordern, verteidigt die Regierung ihre Maßnahme. Berufung gegen die Eilentscheidung setzt deren Wirkung aber nicht aus. Darum soll es noch am heutigen Nachmittag zu einer Eilsitzung am Den Haager Berufungsgericht kommen. Währenddessen arbeitet die Regierung unter Hochdruck an einem eigenen Gesetz zur Einführung der Sperrstunde, um zumindest den formalen Mangel aufzuheben. Ministerpräsident Rutte fordert zudem die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich weiter an die Maßnahme zu halten.
Das Chaos wäre wohl vermeidbar gewesen: Als parlamentarische Grundlage hatte man nämlich zuvor ein Corona-Gesetz beschlossen, ohne jedoch die Möglichkeit einer Sperrstunde darin aufzunehmen. Der Staatsrat, der nicht nur als oberste Instanz im Verwaltungsrecht fungiert, sondern die Regierung auch berät, hatte schon zuvor angemerkt, dass der stattdessen beschrittene Weg über die Notverordnung nicht hinreichend sein könne. Das hat offenbar das Den Haager Gericht in seiner heutigen Eilentscheidung bestärkt.
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