Niederländischer Teil-Lockdown weitgehend akzeptiert
Nur vereinzelt Proteste und Krawalle. Der "Aufstand" der Gaststätten ist vor allem ein Medienphänomen. Menschen im Grenzgebiet weichen nach Deutschland und Belgien aus
Am Freitag kündigte die geschäftsführende Regierung der Niederlande - ein Abschluss der historisch längsten Koalitionsverhandlungen ist immer noch nicht in Sicht - unter Premierminister Mark Rutte überraschend einen neuen Teil-Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie an. Sogenannte nicht-essentielle Geschäfte und Dienste wie Modeläden oder Frisiersalons müssen nun schon um 18 Uhr schließen. Im "essenziellen" Bereich wie Supermärkten, Drogerien oder Gaststätten dürfen die Türen bis um 20 Uhr offenbleiben.
Zu Hause soll man maximal vier Gäste am Tag empfangen. Bei Infizierten im eigenen Haushalt gilt nun wieder eine Quarantäne für alle. Angestellte sollen so viel wie möglich im Homeoffice arbeiten. Bei Sportveranstaltungen dürfen vor Ort keine Zuschauer mehr anwesend sein. Kinos, Konzertsäle und Theater bleiben offen, wenn jeder einen festen Sitzplatz hat und der Impf- oder Teststatus überprüft wird. Im Bildungssektor gilt eine maximale Gruppengröße von 75 Personen.
Diese und einige weitere Maßnahmen sollen vorerst für drei Wochen gelten. Damit will man die Verbreitung des Coronavirus hemmen. Für die Zeit danach wird erwartet, dass der Zugang zu "nicht-essenziellen" Geschäften auf Geimpfte und Genesene beschränkt wird. Über die Maßnahmen wird das Parlament am kommenden Dienstag debattieren.
Vereinzelte Proteste und Krawalle
Wie schon bei vorherigen Pressekonferenzen zu Corona-Maßnahmen waren die wesentlichen Punkte im Vorfeld an die Medien durchgestochen worden. Noch während der Live-Übertragung am Freitag ab 19 Uhr begannen in der Nähe des Justizministeriums in Den Haag Krawalle. Dabei warfen einige Personen Feuerwerkskörper oder Pflastersteine auf die Polizei. Es kam zu fünf Festnahmen. Bei Verkündung der Sperrstunde im Januar hatten schwere Krawalle nächtelang das Land überzogen.
Insbesondere Unternehmer sahen die neuen Maßnahmen sehr kritisch. Der Sprecher des Gaststättengewerbes kündigte gar an, man werde sich vielerorts nicht an die Schließungszeiten halten.
Am Freitagabend haben viele Niederländerinnen und Niederländer erst noch einmal ausgiebig gefeiert, bevor die Verschärfungen am Folgetag in Kraft traten. In der Studentenstadt Utrecht fielen mir Zustände auf, wie man sie sonst nur aus den Einführungswochen zu Semesterbeginn kennt. So musste man auf den Radwegen im Stadtzentrum besondere Rücksicht auf betrunkene Studierende oder andere Feiernde nehmen.
Der angekündigte Aufstand des Gaststättengewerbes entpuppte sich am gestrigen Samstag dann aber weitgehend als Medienphänomen. In der Provinzhauptstadt Leeuwarden im nordwestlichen Friesland kündigten Gastwirte erst vollmundig an, sich nicht an die Schließungszeiten zu halten. Daraufhin zogen Unternehmer im südlichen Breda und östlichen Zwolle nach. In Leeuwarden und vielen anderen Städten gab man aber nach Gesprächen mit den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern klein bei. Diese bestanden auf der Durchsetzung der Regeln.
Am Ende fiel eigentlich nur Breda, bekannt für seinen Karneval (und für Drogenkriminalität), aus dem Rahmen: Rund 80 Kneipen blieben bis Mitternacht (statt bis um vier Uhr morgens) geöffnet. Gastwirte berichteten von "gigantischen Reihen" vor ihren Läden. Der Bürgermeister erteilte Verwarnungen und kündigte Bußgelder für den Wiederholungsfall an.
In Leeuwarden feierten hunderte Gäste nach 20 Uhr vor dem Gerichtsgebäude weiter. Später kippte aber die Stimmung und Polizeibeamte wurden mit Pyrotechnik beworfen. Beim Einsatz der Mobielen Einheit für Protestkontrolle kam es zu mehreren Festnahmen.
Ausweichen ins Ausland
Vor allem im niederländischen Grenzgebiet dürften nun mehr ausgehfreudige Menschen ins deutsche und belgische Ausland ausweichen. In Medienberichten wurde beispielsweise der Aachener Club Apollo als beliebtes Reiseziel genannt, in dem Samstagnacht ab 23 Uhr eine große Feier stattfand. Im angrenzenden Belgien stehe wegen Reservierungsanfragen das Telefon kaum noch still und man sei über Wochen ausgebucht, hieß es.
Diese psychologisch nachvollziehbaren Ausweichtendenzen laufen natürlich den Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus entgegen, denn damit will die Regierung ja gerade die Mobilität und vor allem die Anzahl der Kontakte reduzieren.
Bei der besagten Pressekonferenz kam allerdings auch die gesunkene Anzahl der verfügbaren Intensivbetten zur Sprache. In der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendung NOS op 3 heißt es, deren Anzahl sei von 2100 auf (optimistisch geschätzte) 1350 gesunken. Das liege vor allem am Personalmangel. Ein Amsterdamer Intensivmediziner erklärte zudem, dass nun immer mehr Personal wegen der Dauerbelastung ausfalle.
Der kritische Zustand des niederländischen Gesundheitssystems dürfte damit nicht nur am Coronavirus liegen, sondern ebenfalls an der harten Sparpolitik, für die Ruttes Regierung auch im europäischen Ausland bekannt ist. In einem kritischen Kommentar auf der Nachrichtenseite NRC ging die Mikrobiologin Rosanne Hertzberger kürzlich hart mit dem Pragmatismus und der Sparpolitik ins Gericht: Man unterschätze die sozialen Folgekosten der Maßnahmen. Prinzipiellen ethischen Diskussionen gehe man aus dem Weg. Mit beißendem Zynismus merkte sie an: "Wir Niederländer, wir würden vielleicht sogar noch die Todesstrafe einführen, wenn das Kosten spart" (dt. Übers. d. A.).
Rutte bleibt einstweilen auf Sparkurs. Noch bei den bereits erwähnten schweren Krawallen im Januar schloss er eine Diskussion ihrer möglichen sozialen Ursachen kategorisch aus. Bei den Parlamentswahlen im März blieb seine VVD relativ stabil mit 22 Prozent die stärkste Fraktion in der Den Haager "Tweede Kamer".
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