Nord-Stream-Anschläge: Diese wichtigen Fragen werden nicht gestellt
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Die Aufregung ist groß, nachdem die New York Times und ein Verbund deutscher Redaktionen neue Erkenntnisse zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines Ende September vergangenen Jahres veröffentlicht haben. Die Berichte erschienen Anfang dieser Woche, fast genau einen Monat, nachdem der US-Journalist und Pulitzer-Preis-Träger Seymour Hersh die US-Regierung für den Sabotageakt verantwortlich gemacht hat.
Die Zeit, der SWR und das ARD-Magazin Kontraste hatten am Dienstag berichtet, die Ermittler aus Deutschland, Dänemark, Schweden, den Niederlanden und den USA hätten ein Schiff identifizieren können, das möglicherweise für den Angriff auf die Pipeline verwendet wurde. Es handele sich um ein Segelschiff, das kurz vor dem Angriff von einer Gruppe gechartert worden war. Die Identität der Besatzungsmitglieder sei noch nicht geklärt. Fragen bleiben offen.
Der Redaktionsverbund berichtet damit maßgeblich über die Ergebnisse offizieller Ermittlungen. Die beteiligten Medien geben aber auch die These wieder, eine "proukrainische Gruppe" könne für den Anschlag verantwortlich sein. Darauf deuteten "geheimdienstliche Hinweise" hin, zudem "soll ein westlicher Geheimdienst bereits im Herbst, also kurz nach der Zerstörung, einen Hinweis an europäische Partnerdienste übermittelt haben".
Hersh hatte sich auf "eine Quelle mit direkten Kenntnissen über die operative Planung" des mutmaßlichen US-Anschlags gestützt. Die New York Times und die deutschen Medien, die ihre Recherchen zeitgleich zum US-Bericht publik machten, stützen ihre These einer mutmaßlich verantwortlichen "proukrainische Gruppe" auf anonyme westliche Geheimdienstquellen.
Das ist journalistisch ebenso problematisch wie die Akzeptanz derart lancierter Theorien in der Öffentlichkeit. Geht man davon aus, dass die Quelle der CIA angehört, dann hätte sie nach der Debatte über den Hersh-Bericht ein unmittelbares Interesse, die Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Doch weder die deutschen Rechercheure noch die New York Times gehen auf die Frage ein, weshalb der ominöse westliche Geheimdienst seit den Tagen nach den Anschlägen von der Ukraine-Spur gewusst haben will, diese Information aber erst jetzt – vier Monate später – über Leitmedien in den USA und der EU streut.
Richtig ist, dass alle Thesen bislang mit dem Adjektiv "mutmaßlich" versehen werden müssen, weil sie sich auf unbekannte Quellen stützen. Anders ist das bei nachvollziehbaren und dokumentierten Ermittlungsergebnissen. Oder natürlich bei möglichen künftigen Gerichtsbeschlüssen.
Immerhin hat die Debatte über die jüngsten Medienberichte Unterhaltungswert. Ralf Stegner von der SPD prognostizierte in einem Konditionalsatz "politische Turbulenzen, die sich gewaschen haben dürften". Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz warf dem Sozialdemokraten daraufhin vor, "als MdB Propaganda für Putin gemacht" zu haben, sollte sich die Ukraine-Spur nicht bewahrheiten.
Es geht noch krasser: Der CDU-Obmann für Außenpolitik, Roderich Kiesewetter, hielt den beteiligten Medien vor, "wenn auch nur indirekt, unbelegte Verbindungen zwischen der ukrainischen Regierung und der Explosion der Nord-Stream-Pipelines" hergestellt zu haben. Kiesewetter: "Das nutzt vor allem der russischen Propaganda!" Und weiter: "Im Zweifel für die angegriffene Ukraine."
Der Co-Geschäftsführer der Lobbyorganisation "Zentrum Liberale Moderne", Ralf Fücks, hieß die Anschläge auf die zivile europäische Energieinfrastruktur gut: Wer auch immer #NordStream den Rest gegeben hat: (…) Gut, dass dieses Kapitel definitiv beendet ist." Ob das die Bürger auch so sehen, die unter steigenden Energiepreisen ächzen? Übrigens, die gleichen Bürger, die über ihre Steuern Fücks‘ Gehalt und Wirken mitfinanzieren.
Was bleibt? Wir wissen, dass gut 450 Kilo Sprengstoff auf einem 15 Meter langen Segelschiff mit Dieselmotor, wohl aber ohne Kran, transportiert worden sein soll; dass vier Taucher die massive Fracht in 80 Meter angebracht haben sollen, offenbar ohne Dekompressionskammer; dass Reisepässe gefunden wurden.
Telepolis wird die Entwicklung natürlich weiter im Blick behalten. Uns ist wichtig, dass wir für Sie die Theorien professionell einordnen und zugleich die mediale und politische Debatte abbilden. Wir werfen auch in diesem Fall einen Blick auf die blinden Flecken der Berichterstattung und hinterfragen politische Interessen.
Kurze Notiz, bevor wir den Medienjournalisten Friedrich Küppersbusch einspielen:
1. Warum zeigten sich Bundesregierung und BND unmittelbar nach den Anschlägen bereits unisono davon überzeugt, dass nur ein staatlicher Akteur zu einer solchen fähig, also dafür verantwortlich sein könne? (Unter Verdacht stand Russland.)
1 a. Und wie passt das zu der Aussage von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die auf die neuen Thesen erwiderte, sie wolle "nicht voreilig Schlüsse ziehen", während Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in auffällig ähnlicher Formulierung davor warnt, "voreilige Schlüsse zu ziehen". (Unter Verdacht steht nun die Ukraine.)
2. Weshalb ist die These von Hersh mit einer anonymen Quelle "substanzlos" (Handelsblatt) und der Autor ein "früherer US-Enthüllungsreporter" (Merkur)?
2 a. Und wie passt das dazu, dass die Theorie einer "proukrainischen Gruppe" in westlichen Medien und Politik ungleich ernster genommen wird, obwohl sie sich lediglich auf anonyme "US-Beamte" stützt, die laut New York Times zwar darauf beharren, "dass keine US-amerikanischen oder britischen Staatsangehörigen beteiligt waren", sich aber weigern, "die Art der Informationen, wie sie erhalten wurden, oder Details zur Schlüssigkeit der darin enthaltenen Beweise offenzulegen".
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