Nord-Stream: Ist ukrainischer Militäroffizier für Anschlag verantwortlich oder nur Sündenbock?
Ukrainischer Ex-Geheimdienstler Roman Tscherwynsky soll den Sabotageakt organisiert haben. Das sagen Washington Post und Spiegel. Wie wahrscheinlich ist das?
Es ist schwer, noch durchzublicken, was an Szenarien und möglichen Abläufen zu den Sabotageakten, bei denen die Nord Stream Pipelines gesprengt wurden, die Gas von Russland nach Deutschland transportierten, bereits existiert. Jetzt gibt es eine neue Version, ein neues Puzzlesteinchen dazu.
Das Puzzlesteinchen wurde geliefert in Form einer Enthüllung der Washington Post gemeinsam mit Der Spiegel, die am Wochenende veröffentlicht wurde (Telepolis hat darüber berichtet).
Danach soll der 48 Jahre alte Militäroffizier und dekorierte Oberst, Roman Tscherwynsky, der für die ukrainischen Spezialeinheiten gearbeitet hat, den Anschlag koordiniert, nicht jedoch geplant haben. Tscherwynsky sitzt bereits wegen anderer Vorwürfe im ukrainischen Gefängnis.
Ihm wird in einem anderen Fall vorgeworfen, eine Verschwörung angeführt zu haben, die einen russischen Piloten dazu bringen wollte, sich auf die Seite der Ukraine zu schlagen. Doch das Ganze endete mit einem russischen Angriff, bei dem ein ukrainischer Soldat und weitere 17 Menschen getötet wurden.
Nach Angaben der nun publizierten Medienrecherchen soll er auch bei Nord Stream eine entscheidende Rolle gespielt haben.
Bisher gibt es verschiedene Erklärungsmodelle und Theorien darüber, wie es zu der Sprengung der Gas-Pipelines in der Ostsee am 26. September letzten Jahres gekommen ist. Zuerst wurde Russland beschuldigt, für die Sprengung verantwortlich zu sein. Diese Erklärung wurde vor allem in den USA lange vertreten, auch noch, als klar war, u.a. durch Einschätzungen im Zuge einer schwedischen Untersuchung, dass es ein staatlicher Akteur gewesen sein muss, aber wahrscheinlich nicht Moskau.
Am 8. Februar dieses Jahres erschien dann der ausführliche Bericht des investigativen, preisgekrönten US-Journalisten Seymour Hersh. Er stützte sich bei seiner detaillierten Rekonstruktion der Ereignisse auf eine interne Quelle, um darzulegen, dass ein im Geheimen operierendes US-Taucherteam der Navy, mit Autorisierung durch US-Präsident Joe Biden, die Sabotage durchgeführt hat.
Umgehend wurde im westlichen Mainstream, von Medien und Regierungen, eine Gegenerzählung etabliert. Man fokussierte auf eine abtrünnige, auf eigene Rechnung operierende pro-ukrainische Gruppe. Das Segelschiff Andromeda soll dabei eine zentrale Rolle bei der Durchführung gespielt haben.
Alle diese unterschiedlichen Versionen sind bisher nicht beweisbar und werden von den verschiedenen Akteuren auch unterschiedlich bewertet. Die Hersh-Story wurde von den großen US-Medien und auch von deutschen als unglaubwürdig zurückgewiesen, da lediglich eine anonyme Quelle, die mit der Operation vertraut gewesen sein soll, zitiert wurde.
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Andererseits wirft die Theorie, dass eine abtrünnige pro-ukrainische Gruppe die Anschläge mit einem Segelschiff durchgeführt hat, viele Fragen auf. Vor allem lässt es sich, wie sehr früh festgestellt wurde, nicht vereinbaren damit, dass nur ein staatlicher Akteur über die Möglichkeiten verfügt, solch eine komplexe Operation durchzuführen.
Allerdings behauptet der Spiegel in seiner jüngsten Enthüllungsstory (englischsprachige Version): "Es ist inzwischen so gut wie sicher, dass eine sechsköpfige Einheit, bestehend aus Tauchern und Sprengstoffspezialisten, in Rostock die Segeljacht Andromeda gechartert und zu einer fast dreiwöchigen Operation aufgebrochen ist."
Die Behauptung, dass der verhaftete ukrainische Offizier hinter dem Anschlag steckt, verstärkt nun die im Westen favorisierte Version, dass die Spuren in die Ukraine führen. Allerdings gibt es weiter Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Erklärung. So schreibt Jon Askonas, Professor für Politikwissenschaften an der Catholic University of America in Arizona, USA:
Jetzt, wo DC [Washington D.C.] den Ukraine-Krieg eindämmen will, weil andere Schauplätze sich aufheizen (ganz zu schweigen von den Wahlen), erhält die Washington Post einen Exklusivbericht von "Personen, die mit der Planung vertraut sind" über den ukrainischen Bombenanschlag auf Nord Stream. Läuft wie ein Uhrwerk.
Die Frage stellt sich aber, ob die Anschuldigungen belastbar sind oder Tscherwynsky nur als bequemer Sündenbock, als Ablenkung benutzt wird. Es ist jedenfalls auffällig, dass nach einem Jahr intensiver Recherchen und Untersuchungen, diverser Medien-Enthüllungen und Geheimdienst-Nachforschungen in den USA und auch in Deutschland, plötzlich diese Information auftaucht.
Zudem beruhen die jüngsten Anschuldigungen auf Aussagen von nicht benannten "Personen, die mit der Planung vertraut sind", wie die Washington Post mitteilt. Als Hersh seine Theorie veröffentlichte, wurde ihm vorgeworfen, einer anonymen Quelle zu vertrauen.
Diese Kritik und Zurückweisung von Anschuldigungen aufgrund der prekären Quellenlage ist bei den jüngsten Enthüllungen jedoch in westlichen Medien nicht zu beobachten.