Notoperation vorerst gescheitert

Weltgipfel der Informationsgesellschaft scheitert an der Alternative Geld und Menschenrechte, die Zivilgesellschaft wird nun eine eigene Erklärung vorlegen

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Auch die kurzfristig anberaumte Notoperation, mit der die festgefahrenen Vorbereitungen für den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) wieder flottgemacht werden sollten, ist gescheitert. Die einwöchige PrepCom3bis hat sich im Kreis gedreht und wurde in der Nacht zum Samstag ohne Ergebnisse beendet. Nun sollen hochrangige Beamte wenige Tage vor den Gipfel eine Lösung finden, um 62 Staats- und Regierungschefs - darunter Bundeskanzler Schröder - und über 6.000 Delegierten aus 180 Ländern eine Deklaration und einen Aktionsplan zu präsentieren. Die Zivilgesellschaft hat sich mittlerweile von diesem "Diplomatenschacher" verabschiedet und wird dem Gipfel eine eigene Deklaration vorlegen.

Die drei "Cs" globaler Konferenzdiplomatie, so der Schweizer Ex-Pråsident Alfred Ogi, der jetzt als Krisenmanager durch die Welt reist, seien "Conflict", "Crisis" und "Consensus". Dem würde dann meistens als viertes "C", die "Congratulations", folgen, meint der Mann aus Bern.

Ogis Erfahrungen mit Weltgipfeln machen ihn gelassen. Doch die Möglichkeit, dass er diesmal irrt und bei WSIS das dritte und vierte "C" mit "Chaos" und "Collaps" buchstabiert wird, ist so groß wie nie zuvor. Noch ist WSIS nicht verloren, die Zeichen stehen aber weit mehr auf "Confrontation" denn auf "Cooperation".

Menschenrechte vs. Solidaritätsfonds?

Als der Hausmeister am Samstag morgen das Licht im Genfer Kongresszentrum ausknipste und die noch in der Lobby diskutierenden Diplomaten und Beobachter im Finsteren stehen ließ, war das wie ein symbolischer Akt. Die "Extra-Woche" hat wenig gebracht, Weder WSIS-Deklaration noch WSIS-Aktionsplan sind auch nur annähernd unterschriftsreif.

Dabei sind neben der langen Liste nach wie vor offener Sachkonflikte jetzt vor allem zwei grundlegende gesellschaftspolitische Streitpunkte in den Vordergrund getreten. Einerseits beharren die Chinesen darauf, dass in der Frage der Interpretation der Informationsfreiheit in der Informationsgesellschaft ihre nationalen Interessen Priorität vor universellen Rechten haben und sie in ihrer souveränen Entscheidungsmacht nicht eingeschränkt werden. Im Klartext heißt das: Wer durch unbotmäßige Äußerungen chinesische Gesetze verletzt, bestimmen wir. Andererseits beharren die Entwicklungsländer darauf, dass die Zusagen des Nordens, die digitale Kluft zu schließen, über bloße Lippenbekenntnisse hinausgehen und zu materiell sicht- und spürbaren Transferleistungen führen. Hier heißt der Klartext: Ein Geldhahn muss aufgedreht werden.

In beiden Bereichen hat der Westen seine Schmerzgrenze klar definiert. Nichts geht unter den Standard, den die 1948 verabschiedete UN Menschenrechtsdeklaration formuliert hat. Und bevor das Reform- und Effizienzpotential bestehender Finanzmechanismen nicht ausgereizt ist, wird es kein neues Geld geben.

Dass bei unüberbrückbaren Streitpunkten übliche diplomatische Verfahren - man ist sich einig, dass man sich uneinig ist, und klammert das Thema aus - funktioniert jedoch bei WSIS nicht. Ein Deklaration zur Informationsgesellschaft ohne eine Erwähnung von Massenmedien und Informationsfreiheit wäre so etwas wie eine Konferenz zur Zukunft der Landwirtschaft, bei der man die Themen Bauern und Saatgut ausklammert. Und ein Aktionsplan zur Schließung der digitalen Kluft ohne materielle Untersetzung wäre wie das Drehen von Locken auf einer Glatze.

Der Konflikt wurde bei PrepCom3bis nicht nur nicht entschärft, sondern hat sich fundamentalisiert. Dabei sind die anderen kritischen Probleme - geistige Eigentumsrechte, Internetverwaltung, Spam, Open Source, Cybersicherheit etc. - erst einmal in den Hintergrund getreten, wobei es auch bei diesen Kontroversen mehr Stillstand als Bewegung gab.

Das Fatale an dieser Konfliktkonstellation ist, dass nicht nur das Ausklammern nicht funktioniert, es funktioniert auch nicht mehr der bislang übliche Gipfel-Tauschhandel "Gib Du mir ein paar Menschenrechte, dann gebe ich Dir ein paar Dollar". Die Chinesen unterstützen zwar die Idee des senegalesischen Präsidenten nach einem "Digital Solidarity Fund", aber für sie ist der Geldtransfer keine oberste Priorität. Die afrikanischen und lateinamerikanischen Länder wiederum unterstützen die chinesische Forderung nach verstärkten nationalen Souveränitätsrechten, würden sich aber bei einer materiellen Untersetzung der "Digital Solidarity Agenda" beim Thema Menschenrechte durchaus flexibel zeigen. Der Bilateralismus wird zum Trilateralismus, der "Kuhhandel" zum "Billardspiel über Bande".

Die Schweizer, die als Gastgeber eine "Cancunisierung" von WSIS, das heißt: ein Scheitern nach dem Muster der geplatzten WTO-Konferenz von Cancun im September 2003, vermeiden wollen, sind jetzt mit aller Macht als Krisenmanager gefordert. Nächste Woche fliegt der Schweizer Präsident nach Peking, um die Sache "von oben" zu bewegen. Gleichzeitig versuchen sie, in die "Geldfrage" Substanz zu bringen, um damit die Entwicklungsländer zu ermutigen, Druck auf die Chinesen auszuüben, damit die dann beim Thema Menschenrechte einlenken. Im "Best Case Scenario", so ein optimistischer Schweizer Diplomat, könnte das am Schluss sogar zu einer "Win-Win-Situation" führen: Geld und Menschenrechte.

Alternative zivilgesellschaftliche Deklaration

Bei diesem diplomatischen Jonglieren bleiben die Vorstellungen und Interessen der Beobachter zwangsläufig auf der Strecke. Erstmalig waren ja bei einem UN-Weltgipfel private Industrie und Zivilgesellschaft in den Vorbereitungsprozess mit eingebunden worden. Der gelieferte "Input" hatte jedoch nur zu einem begrenzten "Impact" geführt, und die Frustrationen insbesondere bei der Zivilgesellschaft über das halbherzige Bekenntnis einiger Regierungen zum "multistakeholder approach" waren mit Fortdauer des Vorbereitungsprozesses ständig gewachsen.

Die Zivilgesellschaft hat nun nach der abermals gescheiterten PrepCom3bis ihre eigenen Konsequenzen gezogen und erklärt, dass sie sich in dieser Phase nicht weiter an der Ausarbeitung der staatlichen Dokumente beteiligt, sondern ihre eigene Deklaration zur Zukunft der globalen Informationsgesellschaft auf dem Gipfel vorlegen wird. Den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts könne man nicht mit einer Diplomatie des 20. Jahrhunderts bewältigen, bei der die Interessen der Bürger denen einzelner Regierungen untergeordnet würden, hieß es sehr selbstbewusst zum Ende von PrepCom3bis. Notwendig sei die Formulierung einer Vision von der globalen Informationsgesellschaft, bei der der Mensch im Mittelpunkt stehe. Wenn die Regierungen dazu nicht in der Lage sind, müsse die Zivilgesellschaft ihrer Verantwortung gerecht werden und ein eigenes Angebot machen. Die Menschen könnten dann vergleichen, welche Visionen die Regierungen und welche die Zivilgesellschaft zur Zukunft der Informationsgesellschaft haben.

Es sei Zeit, nicht nur die globalen Prioritäten neu zu formulieren, es müssten auch andere, innovative Verfahren für globale Politikentwicklung und Entscheidungsfindung gefunden werden, die einen lebensfähigen Konsensus unter Einbeziehung der Betroffenen und Beteiligten und nicht über deren Köpfe hinweg ermöglichen. WSIS mit seinem "multistakeholder approach" sei zwar ein versprechender Anfang gewesen, die Praxis sei aber noch weit entfernt von einem offenen und transparenten "bottom up policy development process".

Mit der Ankündigung, eine eigenständige Erklärung auf dem Gipfel vorzulegen, dynamisiert sich der bereits mit der Bildung von arbeitsfähigen Strukturen der Zivilgesellschaft eingeleitete Emanzipationsprozess weiter. Die Absicht, die eigenen Visionen und Prinzipien unabhängig von den Regierungen zu formulieren, sei dabei kein spektakulärer Auszug aus dem WSIS-Prozess, sondern ein notwendiger Schritt, um das Konzept des "multistakeholder approach" auf dem Weg zur 2. Phase des Gipfels, der für November 2005 in Tunis geplant ist, weiter auszubauen. Man fahre eine Doppelstrategie, hieß es auf der abschließenden Pressekonferenz. Man wolle das tun, was innerhalb WSIS möglich ist, aber dabei seine Eigenständigkeit nicht verlieren.

Interessanterweise erhielten hinter vorgehaltener Hand dabei die zivilgesellschaftlichen Gruppen von einer ganzen Reihe von Regierungen eher Ermutigungen als Belehrungen. "Die können wenigsten Klartext reden", meinte ein Diplomat, der nach vier Nachtsitzungen entnervt auf seinen noch immer nicht konsensualen Paragrafen schaute.

Wie weit diese "Regenbogenkoalitionen" gehen, wie stabil sie bei der Umsetzung von konkreten Aktionen sind und welche mittelfristigen Konsequenzen sich daraus für die globale Politik des 21. Jahrhunderts ergeben, steht jedoch auf einem anderen Papier. Gerade aber weil durch den WSIS-Prozess solche Fragen immer stärker gestellt werden und ins öffentliche Bewusstsein drängen, wäre es in der Tat eine vertane Chance, würde der Pförtner im Genfer Konferenzzentrum nicht nur das Licht ausmachen, sondern dem WSIS-Patienten auch noch den Sauerstoff abklemmen.