Nutzung freier Technologien: "Da sehe ich ein Wissensdefizit in der Bevölkerung"
Warum wir eine digitale Gegenwelt brauchen und wie diese sich auch gegen eine übermächtige Konkurrenz durchsetzen kann. Die Rolle der IT-Freelancer. Interview mit Stefan Mey.
In seinem Buch "Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten [1]" (C. H. Beck, 2023) entwirft IT-Investigativjournalist Stefan Mey ("Darknet [2]", 2017) eine "Typologie der Digitalen Gegenwelt", die die Errungenschaften der Informationstechnologie gegen staatliche sowie privatwirtschaftliche Angriffe verteidigt und dem kommerziellen Softwareangebot der digitalen Großkonzerne eine gemeinfreie Alternative entgegensetzt.
Neben Kurzporträts einzelner Initiativen und Anwendungen sowie einem Anhang, der Interviews mit bedeutenden Protagonisten der Commons-Szene enthält, liefert Meys Buch [3] zugleich einen Einblick in die Organisationsstrukturen, die Herausforderungen und die soziale Dynamik innerhalb der non-kommerziellen, meist ehrenamtlichen Projekte der digitalen Zivilgesellschaft.
"Eine kleine, feine Szene von digitalen Projekten, die anders funktionieren"
Telepolis hat mit dem Autor über die Herausforderungen gesprochen, vor denen die Gegenwelt steht, wenn sie ein wirkliches Gegengewicht zu den etablierten Strukturen bilden will.
Die haben sich die wichtigsten Märkte aufgeteilt. Sie dominieren unter anderem den Markt der Suchmaschinen, der Betriebssysteme, der Browser, der App-Marktplätze, der Onlinewerbung oder der Cloud-Dienste.
Dem gegenüber steht eine kleine, feine Szene von digitalen Projekten, die anders funktionieren: Sie sind meistens nicht-kommerziell, allerdings nicht immer. Typischerweise sind sie datensparsamer, transparenter und demokratischer organisiert.
Sie alle produzieren Gemeingüter, die unter freien Lizenzen stehen und deshalb von allen für alle Zwecke genutzt werden können. Ich nenne dieses Ökosystem die digitale Gegenwelt.
"Wie viel Datenerfassung ist vertretbar, und wo liegen die Grenzen?"
Man muss also stets sorgfältig abwägen: Wie viel Datenerfassung ist vertretbar, und wo liegen die Grenzen, die Unternehmen und Regierungen respektieren müssen?
Ich persönlich bin der Meinung, dass man den Datenschutz hoch hängen sollte. Ich bin in der DDR geboren. Dort gab es den berüchtigten Inlandsgeheimdienst Stasi. Der hat mit kläglichen technischen Mitteln und einer Armada von Spitzeln versucht, seine Bevölkerung auszuspähen. Das entstandene Bild war stets lücken- und fehlerhaft.
Allein beim Alphabet-Konzern würden wenige Klicks in Datenbanken und Archiven genügen, um über viele Menschen der Welt herauszufinden, wie sie politisch ticken, wie ihre Religion und sexuelle Orientierung ist, wie es ihnen gesundheitlich und wirtschaftlich geht, wen sie kennen und teilweise sogar, wann sie sich wo aufgehalten haben.
Ich halte das für gefährlich. Macht über Daten ist Macht über Menschen. Und Macht kann stets missbraucht werden.
Riesige Abteilungen hier und Ehrenamtliche dort: "Eine David-gegen-Goliath-Konstellation"
Bei vielen Projekten bewegt sich die Nutzung aber tatsächlich im niedrigen einstelligen Prozent – oder gar im Promillebereich.
Die IT-Konzerne verfügen über riesige Abteilungen, in denen sie innovative Funktion entwickeln und testen und an der berühmten Usability arbeiten können. Deshalb machen die Programme und Dienste der Big-Tech-Unternehmen so viel Spaß. Und sie können auf große Budgets für Marketing zurückgreifen.
Einige Projekte der digitalen Gegenwelt haben durchaus Geld, etwa Wikipedia, Firefox und Signal. Die meisten bewegen sich Ressourcen-technisch aber auf einem extrem niedrigen Niveau. Viel Arbeit spielt sich ehrenamtlich ab.
Große Unternehmen oder Unternehmensverbände sind auch gefragt
Wie kann die "Gegenwelt" dann überhaupt mit den großen Konzernen in Wettbewerb treten?
Vielleicht könnten auch große Unternehmen oder Unternehmensverbände eigene Fördertöpfe aufsetzen. Auch die hadern mit den aktuellen Machtverhältnissen in der digitalen Welt und haben denen – anders als die freien Projekte – kaum Konzepte entgegenzusetzen.
"Mehr Aufklärung"
In dem Punkt könnte es mehr Aufklärung geben. Da sehe ich auch meine eigene Rolle als Journalist. Und ich glaube, dass es Sinn machen könnte, wenn gesellschaftliche Multiplikatoren in die Nutzung freier Technologien einsteigen.
Auch große zivilgesellschaftliche Akteure wie Kirchen oder Umwelt-Verbände könnten sagen: Wir schauen nicht nur, dass der Strom, den wir beziehen, ökologisch sauber und die Schokolade, die wir essen, fair gehandelt ist. Wir legen auch Wert darauf, dass wir freie Digitalprojekte nutzen und damit diese Welt stärken.
Die produktive Rolle von Open-Source-Geschäftsmodellen
Hinzu kommt die produktive Rolle von Open-Source-Geschäftsmodellen. Die digitale Gegenwelt ist auch deshalb so groß, weil Unternehmen bereitwillig Ressourcen bereitstellen. Hinter dem freien Content-Management-System Wordpress steht maßgeblich das Milliarden-schwere Unternehmen Automattic.
Im Linux-Kosmos tummeln sich zwar viele Menschen, die sich als anti-kommerzielle Hacker verstehen, Hoodies tragen und am liebsten in Hacker Spaces abhängen. Unternehmen spielen aber ebenfalls eine Schlüsselrolle. Linux Ubuntu, Fedora sowie openSuse sind allesamt Gemeinschafts-Entwicklungen von Firmen und Communities.
Und auch auf der Ebene von Einzelpersonen gibt es Open-Source-Geschäftsmodelle.
Leute in der analogen Zivilgesellschaft können von einer solchen Dynamik nur träumen. Wer sich bei der Letzten Generation, der Freiwilligen Feuerwehr oder der Antifa engagiert, profitiert davon nicht automatisch in seinem Erwerbsleben.
"Viel läuft in IT-Projekten über Meritokratie"
Andererseits geht es aber nicht gänzlich ohne formale Machtstrukturen. Die stellen sicher, dass die Qualität der Software oder des Inhalteprojekts stimmt und dass nicht undemokratische, informelle Strukturen den Ton angeben.
Viel läuft in IT-Projekten über Meritokratie. Dieses "Wer mitmacht, darf mitbestimmen"-Prinzip ist meiner Meinung nach der sinnvollste und fairste Mechanismus, Macht zu verteilen. Auf der deutschsprachigen Wikipedia beispielsweise hat man ab 150 eigenen Beiträgen Schreibrecht: Eigene Veränderungen sind sofort sichtbar und müssen nicht erst von anderen freigeschaltet werden. Ab 300 Beiträgen ist man "Sichter" und kann Änderungen von Neulingen freischalten oder verwerfen.
Das wichtigste Machtgremium bei Libreoffice ist das Mitglieder-Kuratorium, das den Vorstand der Stiftung The Document Foundation wählt. Anspruch auf einen Sitz in diesem Kuratorium hat laut Satzung, wer "dem Stiftungszweck über mehr als drei Monate nachweisbar Zeit und geistige Arbeit gewidmet hat."
Neben den Communities gibt es oft Organisationen als zweite Säule des Projekts. Bei denen muss man genau hinschauen, wie offen oder geschlossen die Machtstrukturen sind.
Offene Machtstrukturen
Bei der Organisation hinter dem Browser Firefox hingegen ist das oberste Machtgremium ein Vorstand, der sich ausschließlich selbst ernennt und kontrolliert.
Die Strukturen bei den freien Projekten sind nicht immer so offen und partizipativ, wie man es erwarten könnte. Auch das ist in der analogen Zivilgesellschaft nicht per se anders.
Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten [6] herausfordern
236 S. C. H. Beck, 2023, 18 Euro
ISBN 978-3-406-80722-0
Zuletzt erschien von Stefan Mey ("Darknet [7]", 2017) das Buch "Der Kampf um das Internet – Wie Wikipedia, Mastodon und Co. die Internet-Giganten herausfordern" (C. H. Beck, 2023). Darin entwirft er eine "Typologie der Digitalen Gegenwelt", die die Errungenschaften der Informationstechnologie gegen staatliche sowie privatwirtschaftliche Angriffe verteidigt und dem kommerziellen Softwareangebot der digitalen Großkonzerne eine gemeinfreie Alternative entgegensetzt.
Neben Kurzporträts einzelner Initiativen und Anwendungen sowie einem Anhang, der Interviews mit bedeutenden Protagonisten der "Commons"-Szene enthält, liefert Meys Buch zugleich einen Einblick in die Organisationsstrukturen, die Herausforderungen und die soziale Dynamik innerhalb der non-kommerziellen, meist ehrenamtlichen Projekte der digitalen Zivilgesellschaft.
Telepolis hat einen Auszug veröffentlicht: "Wer das freie Internet gegen Staat und Konzerne verteidigt [8]"
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9586709
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[1] https://www.amazon.de/dp/3406807224/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[2] https://www.amazon.de/dp/3406777074/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[3] https://www.telepolis.de/features/Wer-das-freie-Internet-gegen-Staat-und-Konzerne-verteidigt-9585983.html
[4] https://www.heise.de/news/Hamburger-Datenschuetzer-Prinzip-der-Datenminimierung-nicht-mehr-zu-halten-8146938.html
[5] https://prototypefund.de/
[6] https://www.amazon.de/dp/3406807224/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[7] https://www.amazon.de/dp/3406777074/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[8] https://www.heise.de/tp/features/Wer-das-freie-Internet-gegen-Staat-und-Konzerne-verteidigt-9585983.html
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