Olympisches Frauenboxen: Wie viel Geopolitik steckt im Gender-Streit?

Boxverband IBA schloss vermeintliche Transfrauen aus. Ihm wird Kreml-Nähe vorgeworfen. Erübrigt sich damit die Fairness-Debatte im Frauensport?

Im Streit um die Teilnahmebedingungen beim olympischen Boxwettbewerb der Frauen schwingt große Geopolitik mit: Die Information, dass die Boxerinnen Imane Khelif (Algerien) und Lin Yu-Ting (Taiwan) XY-Chromosomen und dadurch erhöhte Testosteronwerte hätten, stammt vom Internationalen Boxverband IBA, der beide Athletinnen zuletzt bei den Weltmeisterschaften disqualifizierte.

Der IBA darf allerdings aufgrund von Korruptionsvorwürfen den olympischen Boxwettbewerb in Paris nicht ausrichten und wird von einem Russen geleitet, den unter anderem das ZDF als "Putin-Freund" bezeichnet. Das Portal Queer.de nennt den IBA "von Russland kontrolliert".

Der olympische Boxwettbewerb findet nun unter der Schirmherrschaft der Boxabteilung Paris 2024 des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) statt. Hier dürfen Khelif und Lin antreten, was für Kontroversen um sportliche Fairness, aber auch für rechtspopulistische Ausfälle gegen tatsächliche und vermeintliche Transpersonen sorgt.

Der Bundeschef der Jungen Union, Johannes Winkel, bezeichnete die angeblichen Transfrauen im Boxring auf der Plattform X als "kranke Männer", womit er aber nicht generell Transsexuelle gemeint haben wollte, sondern nur Athletinnen, die sich aus seiner Sicht für Medaillen "als Frauen ausgeben".

XY-Chromosomen machen noch keinen Mann

IOC-Sprecher Marc Adams hat inzwischen betont, dass die Betroffenen Khelif und Lin laut ihrer Pässe Frauen sind – in Algerien ist eine Änderung des Geschlechtseintrags auch nicht wie in Deutschland möglich.

Der russische IBA-Präsident Igor Kremlev war es, der seinerzeit der Nachrichtenagentur Tass mitgeteilt hatte, DNA-Tests hätten bewiesen, dass die Khelif und Lin "XY-Chromosomen haben und daher von den Sportveranstaltungen ausgeschlossen wurden".

XY-Chromosomen sind im Normalfall für die Herausbildung männlicher Geschlechtsmerkmale verantwortlich, doch diese Entwicklung ist nicht zwangsläufig. Zahlreiche Medien, darunter auch die feministische Zeitschrift Emma, gingen in ihrer Berichterstattung über Khelifs Sekundensieg am Donnerstag davon aus, dass die Boxerin eine Transfrau sei. Hinweise auf eine Geschlechtsangleichung finden sich aber nirgends.

Die italienische Gazetta dello Sport zitiert hingegen Professor Gianluca Aimaretti, Präsident der Italienischen Gesellschaft für Endokrinologie, der bestätigt, dass auch Frauen in seltenen Fällen XY-Chromosomen haben können.

Keine Transgender-Sportlerin

In manchen Fällen verhindert eine Androgenresistenz die Herausbildung männlicher Geschlechtsmerkmale; die Betroffenen werden bei der Geburt als Mädchen identifiziert und wachsen als solche auf. Zum Teil fällt erst in den Teenager-Jahren auf, dass kein weiblicher XX-Chromosomensatz vorliegt.

Professor Aimaretti rät davon ab, in solchen Fällen von Intersexualität zu sprechen, wie es auch die Gazetta dello Sport zunächst im Fall Khelif getan hatte.

Intersexualität und andere Dispositionen: Mediziner klärt auf

Imane Khelif ist keine Transgender-Sportlerin, sie wurde als Frau geboren, ich finde den Begriff Intersexualität an sich nicht schön. Es sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Prof. Gianluca Aimaretti, Endokrinologe, im Gespräch mit der Gazetta dello Sport

Die medizinischen Unterlagen der Sportlerin seien offenbar nicht bekannt. Während sie im Netz eine Welle von Hassnachrichten erhält, kursieren auch Kinderfotos, die sie als kleines Mädchen zeigen sollen.

Italienische Boxerin plädiert für respektvollen Umgang

Andere argumentieren, Transfeindlichkeit werde nicht dadurch besser, dass es sich in Khelifs Fall um einen Irrtum handelt. Immer wieder wird Khelif als "Mann" gelabelt, als der sie weder geboren wurde noch "gelesen" werden möchte.

Die italienische Boxerin Angela Carini, die nach 46 Sekunden im Ring mit Khelif unter Tränen aufgab, wünscht sich eine respektvollere Diskussion um die Regeln für den Frauensport und entschuldigte sich inzwischen dafür, ihrer Gegnerin den Handschlag verweigert zu haben.

"Wenn sie nach Meinung des IOC kämpfen darf, respektiere ich diese Entscheidung", sagte die 25-Jährige der Gazzetta dello Sport. Sie habe versucht, die Diskussion auszublenden. "Diese Kontroversen haben mich auf jeden Fall traurig gemacht und es tut mir leid für die Gegnerin, die auch nur hier ist, um zu kämpfen."

Zu dem zunächst verweigerten Handschlag sagte sie: "Das war keine absichtliche Geste, ich entschuldige mich bei ihr und bei allen. Ich war wütend, weil die Olympischen Spiele für mich vorbei waren."

Komplexes Dilemma: Zum Glück nicht für den Männersport?

"Das Problem ist alles andere als einfach", betonte Prof. Aimaretti gegenüber der italienischen Zeitung.

Denn die Frage der Fairness stellt sich für Sportlerinnen mit XX-Chromosomen unabhängig von Geopolitik und rechter Hetze. Denn hohe Testosteronwerte, wie sie von Natur aus eher Menschen mit XY-Chromosomen erreichen, bedeuten in Kraft- und Kampfsportarten einen immensen körperlichen Vorteil für den Muskelaufbau.

Synthetisches Testosteron gilt aber als Doping-Mittel, für dessen Gebrauch die Athletinnen disqualifiziert werden. Da es zugleich gesundheitsschädlich ist, wäre eine Lockerung dieser Regel aber auch indiskutabel.

Aus feministischer Sicht stellt sich jedenfalls die Frage, ob nicht längst eine Lösung gefunden worden wäre, wenn das Fairness-Problem in erster Linie den Männersport beträfe. Aber sogenannte Cis-Männer haben von Transmännern eben keine Nachteile zu befürchten.

Wissenschaftliche Studien haben laut einem Bericht des Guardian ergeben, dass die durchschnittliche Schlagkraft bei Personen, die eine männliche Pubertät durchlaufen haben, um 162 Prozent höher ist als bei Frauen.