Online-Journalismus: Ist das Netz der Totengräber des Journalismus?

Bild: Shutterstock.com

Sinkende Nutzungszeiten und Dominanz der Big-Tech-Plattformen: Online-Journalismus verliert an Reichweite und Aufmerksamkeit. Medienforscher über Kardinalfehler.

Der Online-Journalismus ist gerade 30 Jahre alt geworden. Über seine Zukunft wird in der Fachwelt heftig diskutiert. Nach einem sehr zögerlichen Start Anfang der 1990er-Jahre, Euphorie zur Jahrtausendwende und Verwerfungen nach der geplatzten Dotcom-Blase wird der derzeitige Zustand als "Gloom and Doom" (Finsternis und Untergang) beschrieben (Thorsten Quandt).

In der Fachzeitschrift Publizistik hat nun Hektor Haarkötter das Ende des Online-Journalismus ausgerufen. Haarkötter ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. In einer Entgegnung stimmt sein Kollege Christoph Neuberger von der FU Berlin einigen Problemdiagnosen zwar zu, sieht die Zukunft aber weit weniger schwarz.

Ein Friedhof?

"Das deutschsprachige Internet (und nicht nur dieses) ist ein Friedhof", meint Haarkötter.

Heute, anlässlich seines (30.) Geburtstags, müssen wir konstatieren, dass wir innerhalb nur einer kurzen Generation sowohl den Anfang als auch das Ende jenes Journalismus erleben können, der sich in vernetzten digitalen Umgebungen und dabei hauptsächlich in dem Teil des Internets abgespielt hat, der World Wide Web genannt wird.

Hektor Haarkötter

Neben dem "Kardinalfehler (...), Inhalte online zu verschenken" sieht Haarkötter vor allem den Einfluss der großen Plattformen als Ursache für die Probleme des Online-Journalismus. Dabei verweist er u.a. auf Daten, die Martin Andree in seinem Buch "Big Tech muss weg!" 2023 veröffentlicht hat.

18 Minuten Lesezeit monatlich

Darin heißt es, mit Verweis auf ein weiteres Buch, das Andree zusammen mit Timo Thomsen geschrieben hat:

Schauen wir uns spiegel.de an, eines der erfolgreichsten journalistischen Angebote in Deutschland mit einer beeindruckenden Reichweite (49 Prozent, also etwa 29 Millionen Nutzer).

Das Problem besteht in der geringen Nutzungszeit: Die Leser verbringen hier gerade einmal 18 Minuten – nicht am Tag, sondern im Monat. Also etwa eine halbe Minute täglich. Genau deshalb liegt spiegel.de im Gesamtranking dann auch nur auf Rang 45 (...)

Schauen wir uns dagegen einmal die Süddeutsche Zeitung an: Das Angebot schafft bei den Nutzern erneut eine gute Reichweite (25 Prozent), aber nur noch knapp 9 Minuten im Monat (17 Sekunden am Tag). Der totale Kollaps des Journalismus unter digitalen Bedingungen wird deutlich, wenn wir diese Zahlen mit einer klassischen Zeitungslektüre vergleichen, die man etwa bei 40 Minuten täglich ansetzt, oder etwa 19 Stunden im Monat (...).

Martin Andree

Haarkötter folgert daraus:

Es wird vielleicht heute noch Online-Journalismus produziert, es liest ihn aber keiner mehr.

Über 90 Prozent des Traffics im deutschsprachigen Internet gingen auf das Konto der sogenannten GAFAM-Unternehmen, ein Akronym aus Google (heute: Alphabet), Amazon, Facebook (heute: Meta Platforms), Apple und Microsoft, auch die "Big Five" genannt.

Neuberger widerspricht:

Die zeitlich gewichteten Nutzungsdaten des GfK-Panels sind zwar aufschlussreich, müssen aber eingeordnet werden.

"Aufmerksamkeit zerstört"

Allerdings deutet Neuberger diese Einordnung selbst nur in einer Fußnote an. Durchschnittliche Nutzungszeiten von Angeboten, bezogen auf die Grundgesamtheit der Nutzenden, würden nichts über die Verteilung von Viel- und Wenig-Lesern aussagen.

Ein hoher Anteil an Kurzzeitbesuchen ist typisch für das Internet. Dem kann immer noch eine erhebliche Zahl regelmäßiger Leser*innen gegenüberstehen. Darüber sagt die Studie nichts. Außerdem ist es plausibel, dass sich das Nutzungsrepertoire erweitert hat, also mehr Angebote parallel genutzt werden als in den klassischen Medien, was auf die Gesamtnutzung einzahlt.

Christoph Neuberger

Haarkötter sieht durch die intensive Nutzung der großen Plattformen auch das Vermögen, journalistische Produkte überhaupt zu nutzen, beeinträchtigt.

Es gebe ernstzunehmende Hinweise, "dass die Aufmerksamkeit schlechterdings zerstört worden und damit beim Publikum die Fähigkeit abhandengekommen ist, sich auf Texte und Inhalte kognitiv einlassen zu können, die länger sind als ein durchschnittliches Social-Media-Posting".

Selbst wenn es demnach eine ökonomische Zukunft für Online-Journalismus gebe – wobei Haarkötter vor allem an öffentlich finanzierte Modelle denkt – fehle es an Rezipienten, zumindest im Textbereich.

Eine verengte Sicht auf den Journalismus

Neuberger verweist demgegenüber darauf, dass die Zahl der hauptberuflich tätigen Journalisten nicht dramatisch gesunken sei, von 54.000 (Studie 1993) auf knapp 40.000 (Studie 2022/2023). Derzeit seien nur sieben Prozent ausschließlich für Online-Angebote tätig.

Neubergers Lösungsvorschläge:

Neben einer engeren Verbindung zwischen Wissenschaft und journalistischer Praxis ist eine Reihe weiterer Maßnahmen erforderlich, um die Zukunft des Journalismus zu sichern (...): eine bessere Vermarktung, die Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Auftrags und Angebots, eine Regulierung, die sich an der verfassungsrechtlichen Aufgabe des Journalismus orientiert, eine Vermittlung von Medienkompetenz, die deutlich macht, worin Qualitätsunterschiede im Netz bestehen, sowie ein Qualitätsdiskurs, in dem neue Digitalformate und -konzepte diskutiert und bekannt gemacht werden.

Christoph Neuberger

Haarkötters Beitrag möchte er als "Weckruf" verstanden wissen. Für einen "Abgesang" oder "Nachruf" sei es womöglich noch zu früh.

Ein Problem beider Beiträge: Wo immer sie von Journalismus sprechen, meinen sie nur die Vermittlung politischer Nachrichten.

Diese verengte Sicht ist in der Debatte weit verbreitet, meist daran zu erkennen, wenn seine Notwendigkeit für die Demokratie beschworen wird, wie auch von Haarkötter und Neuberger.

Ignoranz: Was nicht gesehen wird

Natürlich kann man in allem auch eine politische Dimension sehen, und sei es über einige Umwege. Ein Problem der Journalismusforschung (um die es in beiden Beiträgen auch ausführlich geht) ist jedoch weniger die Fokussierung auf Online-Journalismus (meist wohl schlicht der leichten Zugänglichkeit geschuldet), sondern das Ignorieren aller Special-Interest-Publikationen, der Fachzeitschriften, Videokanäle, Podcasts.

Ein Blick in die ausladenden Regale eines Presseshops in einem deutschen Hauptbahnhof zeigt die Vielfalt noch vorhandenen Print-Journalismus. Der Online-Bereich ist entsprechend noch deutlich größer, vor allem vielfältiger.

Für die politische Kommunikation hingegen wird man sich tatsächlich neue Modelle ausdenken müssen. Denn die sogenannten Alternativmedien sind, wie auch Video- und Audio-Podcasts, überwiegend Kommentarangebote, die ihre Faktenbasis aus Vollprogrammen wie einer Tageszeitung oder der Nachrichtensendung im Fernsehen beziehen.

Der sogenannte Bürgerjournalismus wird immer nur Einzelaspekte selbst investigativ publizieren können, aber keine kontinuierliche und verlässliche Beobachtung der Welt leisten.

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