Open Source Intelligence: Auch eine neue Waffe im Informationskrieg
Video von Misshandlungen durch russischen Soldaten in der Ukraine hat Konsequenzen. Experten ermitteln Beteiligte. Doch die Analyse öffentlicher Quellen birgt auch Gefahren.
Die Art und Weise, wie kriegerische Konflikte heutzutage ausgetragen und beeinflusst werden, wandelt sich rapide. Ein Motor dieser Veränderung ist die Open Source Intelligence (Osint). Diese Informationsquelle ist zu einem entscheidenden Faktor in der Kriegsführung geworden. Dies zeigt sich insbesondere im Ukraine-Krieg, aber auch in anderen globalen Krisenherden.
Osint oder "Open Source Intelligence" (etwa: "Erkenntnisse aus offenen Quellen") bezeichnet die Sammlung und Analyse von Informationen, die aus öffentlich zugänglichen Quellen stammen. Diese Quellen können etwa das Internet, soziale Medien, Nachrichten, wissenschaftliche Veröffentlichungen, öffentliche Regierungsdokumente und vieles mehr umfassen.
Die Macht der offenen Quellen
In einem jüngsten Fall von Misshandlungen von Kriegsgefangenen in der Ukraine waren es – was häufig vorkommt – Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken. Binnen eines Tages nach Veröffentlichung eines Videos am 2. Juni dieses Jahres, das Misshandlungen von Kriegsgefangenen durch einen russischen Soldaten in der Ukraine zeigte, konnten Osint-Experten den beteiligten russischen Militär identifizieren und seine Armeekarriere über ein Jahrzehnt hinweg rekonstruieren.
Die ukrainischen Behörden nutzten diese Informationen, um die Vorfälle bei internationalen Organisationen wie dem Roten Kreuz und den Vereinten Nationen anzuzeigen. Das kann den Grundstein für künftige Strafverfahren bilden.
Information in Echtzeit
Die Demokratisierung von Information und Nachrichtenverbreitung durch Online-Plattformen ermöglicht es nun Bürgern weltweit, Entwicklungen in Echtzeit zu teilen. Mithilfe kommerzieller Satelliten können Bewegungen von Truppen und Fahrzeugen erkannt und georeferenzierte Bilder und Videos zur Zielortung genutzt werden.
Telepolis selbst hatte vor wenigen Tagen über eine Untersuchung des US-Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS) zu mutmaßlichen chinesischen Abhörstationen in Kuba berichtet.
Eine Analyse von Satellitenbildern weist demnach darauf hin, dass China seine globalen Aufklärungskapazitäten offenbar massiv ausgebaut und sich damit bis an die Schwelle der USA gewagt hat. Telepolis schrieb zum Kontext:
Das ist neu. Traditionell hatte ein Bündnis zwischen Kuba und der Sowjetunion bestanden. Die Verbindungen sind nach 1990 massiv zurückgegangen, wurden in den vergangenen Jahren aber wieder reaktiviert.
Solche Recherchen sind nicht die einzige Anwendung von Osint. Der US-australische Journalist John P Ruehl schreibt dazu:
Es gibt einen natürlichen Anreiz für Regierungen, Osint gegen ihre Bevölkerung einzusetzen. Durch die Sammlung und Analyse öffentlich zugänglicher Informationen und anderer Daten können Regierungen wertvolle Einblicke in das Leben, das Verhalten und die Ansichten ihrer Bürger gewinnen.
Dies geht jedoch mit einem erheblichen Eingriff in die Privatsphäre einher und kann Einzelpersonen und Gruppen ungerechtfertigter Überwachung aussetzen. Die Strafverfolgungsbehörden setzen Osint zunehmend für Ermittlungen ein.
Doch kann Osint auch manipuliert werden, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, wie der Fall des "Geistes von Kiew" während des russisch-ukrainischen Konflikts gezeigt hat, der das Missbrauchspotenzial von Osint für Propagandazwecke verdeutlichte.
John P Ruehl
Historischer Kontext und moderne Anwendungen
Bereits im Zweiten Weltkrieg wurde die Auswertung öffentlicher Quellen vom BBC Monitoring Service ab dem Jahr 1939 und dem Research and Analysis Branch der USA nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor zur Sammlung von Informationen über Kriegsgeschehnisse genutzt.
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Heute umfasst Open Source Intelligence nicht nur öffentlich verfügbare Informationen (PAI), sondern auch kommerzielle Daten, Netzwerkfunktionen und Algorithmen zur Organisation der Informationen.
Ukraine-Konflikt als Osint-Schauplatz
Im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat Osint eine tragende Rolle übernommen. So geben Vertreter des Portals Bellingcat an, Russlands Beteiligung am Abschuss von Malaysia Airlines Flug MH17 im Jahr 2014 aufgedeckt zu haben.
Doch gerade Bellingcat ist ein Beispiel für die Politisierung dieser Informationsquelle. Ende 2020 hatte das Portal offensichtlicher Falschinformationen über die Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) veröffentlicht und damit eine Kampagne gegen OPCW-Whistleblower unterstützt. Telepolis schrieb damals:
Bellingcat veröffentliche vor wenigen Tagen einen angeblich geleakten Brief des OPCW-Generaldirektors Fernando Arias an einen von zwei ehemaligen Chemiewaffen-Inspekteuren, die heftige Kritik an den Duma-Berichten geäußert hatten. In diesem Zusammenhang wurden seither zahlreiche Dokumente geleakt, die eine andere Sicht auf die Geschehnisse in Duma bieten, als sie die OPCW präsentiert. Der Auszug eines maschinellen Schreibens, das in fünf Absätzen einige Thesen der umstrittenen Duma-Berichte wiederholt, belege, "dass ein Chemiewaffenangriff stattgefunden hat" und "dass jede Vorstellung einer Vertuschung durch die OPCW falsch ist", während "die Organisation entsprechend ihrem Mandat gehandelt hat", so Bellingcat. Das Problem ist nicht alleine, dass der geleakte Text eine solch weitreichende Interpretation gar nicht zulässt. Das Problem ist bisher nicht einmal, dass Bellingcat in einem anonymen Text den bisher namentlich nicht bekannten Inspekteur mit vollem Namen nennt. Das eigentliche Problem ist, dass das angebliche Schreiben von Arias an den ehemaligen OPCW-Inspekteur nie abgeschickt wurde.
Bellingcat blamiert sich mit Fake-Leak über OPCW, Telepolis, 06.11.2020
Ungeachtet solcher offensichtlich politisch motivierten Manipulationen von Osint-Quellen und ihren Nutzern, verweist Ruehl darauf, dass durch öffentliche Informationen die Identität zahlreicher Russen enttarnt werden konnte, die seit 2014 für private Militär- und Sicherheitsfirmen in der Ukraine tätig waren.
Vor der russischen Invasion 2022 nutzten Organisationen wie das Conflict Observatory Osint, um potenzielle Angriffsziele russischer Kräfte zu identifizieren.
Die Schattenseiten von Open Source Intelligence
Die verstärkte Nutzung von Osint birgt jedoch auch Risiken für die nationale Sicherheit und die persönliche Privatsphäre. Durchaus auch aus der Sicht Washingtons: Die öffentliche Verfügbarkeit und Kommerzialisierung von Daten im Westen haben etwa die Positionen und Bewegungen von US-Militärpersonal enthüllt, was die globale militärische Macht der USA untergraben könnte.
China indes nutzt Osint-Bilder von US-Kriegsschiffen für KI-Trainingsdatensätze, um detaillierte computergestützte Bilder von US-Schiffen und jenen alliierter Staaten zu erstellen.
Einsatz im Nahen Osten und Datenschutz
Auch in Konflikten im Nahen Osten wurde Osint intensiv genutzt. So konnten etwa Huthi-Rebellen im Jemen über soziale Medien und Satellitenbilder Operationen der Saudi-geführten Koalition verfolgen und angreifen. In Israel nutzte die Hamas Osint, um über die offene Medienlandschaft Israels Informationen zu sammeln, während israelische Kräfte Osint einsetzten, um Hamas-Aktivitäten zu verfolgen.
Die Zukunft von Osint
In Anbetracht der zunehmenden Kommerzialisierung und Instrumentalisierung von Osint wird deutlich, dass die sich wandelnde Lage verstärkte Aufmerksamkeit in Bezug auf die Ethik großangelegter Datensammlung und die Bedrohung der Privatsphäre erfordert.
Osint hat positive Auswirkungen, wie die Koordination von Evakuierungen und humanitärer Hilfe, aber die Fokussierung auf Konflikte und Inlandsüberwachung sowie die rapide Integration in maschinelles Lernen erweitern seine Fähigkeiten rapide.
Ruehl sieht in diesem Zusammenhang einen "natürlichen Anreiz für Regierungen, Osint gegen ihre Bevölkerung einzusetzen. Durch die Sammlung und Analyse öffentlich zugänglicher Informationen und anderer Daten können Regierungen wertvolle Einblicke in das Leben, das Verhalten und die Ansichten ihrer Bürger gewinnen". Und weiter:
Dies geht jedoch mit einem erheblichen Eingriff in die Privatsphäre einher und kann Einzelpersonen und Gruppen ungerechtfertigter Überwachung aussetzen. Die Strafverfolgungsbehörden setzen Osint zunehmend für strafrechtliche Ermittlungen ein.
Weiterhin kann Osint manipuliert werden, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, wie der "Geist von Kiew" während des russisch-ukrainischen Konflikts zeigte, der deutlich machte, dass Osint zu Propagandazwecken missbraucht werden kann.
Osint wird zunehmend zu einem wichtigen Bestandteil der Überwachungswirtschaft, in der Unternehmen persönliche und öffentliche Daten gewinnbringend verkaufen. Zu den großen Namen in der Osint-Industrie gehören Palantir Technologies, Recorded Future und Babel Street.
Diese und zahlreiche kleinere Unternehmen treiben das Marktwachstum und die Innovation voran. Diese Anwendungen von Osint gehen über die herkömmliche Informationsbeschaffung hinaus, wobei die zunehmende Verfeinerung des gezielten Marketings eine Folge davon ist.
Fälle des Missbrauchs von Osint durch die Öffentlichkeit sind weitverbreitet und reichen von Forschern, die fälschlicherweise Kriegsverbrecher identifizieren, bis zu Hackern, die Osint zu ihrem Vorteil ausnutzen.
Osint hat jedoch auch wichtige positive Auswirkungen, wie die Koordinierung von Evakuierungen und humanitärer Hilfe, die Warnung der Zivilbevölkerung vor Bedrohungen und die Möglichkeit, ihre Erfahrungen zu dokumentieren, was ein Gegengewicht zu den traditionellen Medien darstellen oder diese ergänzen kann.
John P Ruehl
Dennoch konstatiert Ruehl, dass Osint bislang nach wie vor auf die Überwachung von Konflikten verwendet werde. Da Osint zunehmend als Waffe eingesetzt und kommerzialisiert werde, müsse den ethischen Aspekten der massenhaften Datenanhäufung und der Bedrohung der Privatsphäre größere Aufmerksamkeit geschenkt werden, meint er.