Opposition in der Türkei: Wie will sie die Erdoğan-Hegemonie beenden?

Ruslan Suleimanov

Wahlkampfplakate der oppositionellen Republikanischen Volkspartei, Kemal Kılıçdaroğlu, CHP-Chef und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul, 3. Mai 2023. Bild: tolga ildun / Shutterstock.com

Erdoğan-Partei erlitt große Niederlage. Republikanische Volkspartei CHP setzt auf Erneuerung, sucht Nähe zu deutscher SPD. Steht in Türkei Machtwechsel an der Spitze an?

Die am 31. März in der Türkei abgehaltenen Kommunalwahlen waren sowohl für die Republik als auch für internationale Beobachter eine große Überraschung. Der ewige Zweite, die Republikanische Volkspartei CHP, lag nach 22 Jahren Dominanz vor Erdoğan und seiner Partei.

Die CHP arbeitet dabei nicht nur an der Steigerung ihrer Popularität vor Ort. Auch international will sie Kontakte knüpfen und Deutschland spielt dabei eine große Rolle. Doch wer ist diese CHP und wie sind ihre Chancen bei der kommenden Parlaments- und Präsidentenwahl in vier Jahren?

20 Jahre Erdoğan-Hegemonie

Mehr als zwei Jahrzehnte dauert die Hegemonie von Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an. Ihrem größten innenpolitischen Gegner CHP haftete schon lange das Image des standardmäßigen Verlierers an.

Die Partei der türkischen Gründerikone Mustafa Kemal Atatürk hat seit 1977 keine Kommunalwahl mehr im Land gewonnen. Das zeigt die historische Bedeutung des aktuellen Ergebnisses.

Der Aufschwung war schon im letzten Jahr zu spüren. Zeitweise setzten bis zur Hälfte der türkischen Bevölkerung bei Umfragen zur Präsidentschaftswahl auf die CHP, angeführt vom bereits 75-jährigen Kemal Kılıçdaroğlu.

Diese größte Oppositionskraft nahm bei der Wahl fünf weitere Kleinparteien unter ihre Fittiche, eine bunte Mischung als Demokraten, Nationalisten und Islamisten. Die Einigung gelang vor allem durch Kılıçdaroğlus Person, der seit 2010 die CHP anführt und in der Türkei sehr bekannt ist.

Säkulare Partei einte 2023 die Opposition – und enttäuschte zunächst

Die CHP konzentrierte sich davor stets ausschließlich auf Anhänger des sogenannten Kemalismus, einer Verbindung aus Säkularismus und Nationalismus. Der Partei gelang es nun jedoch zunehmend in den letzten zehn Jahren Kräfte aus der ganzen Bandbreite des politischen Spektrums in der Türkei auf ihre Seite zu ziehen. Einige glaubten der eher sanften und vorsichtigen Rhetorik des Spitzenkandidaten, andere sahen desillusioniert von der AKP außer der CHP keine Alternative.

So gelang es Kılıçdaroğlu, nicht nur mit verschiedenen politischen Fraktionen, sondern auch mit religiösen und ethnischen Minderheiten in der Türkei eine gemeinsame Sprache zu finden. "Ich bin Alevit" gab der Spitzenkandidat offen zu und bekannte sich damit zu einer religiösen Minderheit, die schon seit den Tagen Atatürks verfolgt wird. Auch die Kurden, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, unterstützten Kılıçdaroğlu bei den Wahlen 2023.

Das Ergebnis der Wahl im Mai 2023 war eine schwere Enttäuschung. Die Oppositionskoalition erhielt nur 35 Prozent der etwa 600 Sitze im Parlament. Kılıçdaroğlu unterlag Erdoğan in der Stichwahl um das Präsidentenamt.

Enttäuscht waren auch die etwa 25 Millionen Türken, die der Opposition ihre Stimme gegeben hatten – viele hielten die Wahlen für die letzte Chance, einen Diktator zu stürzen.

Nach dem Scheitern folgen die "Erneuerer"

Einige verloren den Glauben an die Möglichkeit von politischer Veränderung in der Türkei und beschlossen, Wahlen ab sofort fernzubleiben. Die Verzweiflung wuchs, als Kılıçdaroğlu die Niederlage nicht eingestehen wollte und die Regierung sowie ihre Verwaltung beschuldigte, welche Propaganda vor den Wahlen eingesetzt hatten. Der Glaube an die alte Führungsfigur der CHP, dass sie wirklich Veränderungen bewirken wollte, war erschüttert.

Doch eine neue Bewegung in der Partei wollte eben nicht alles so lassen, wie es war. Die Fraktion der "Erneuerung" wurde angeführt vom beliebten Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu. Er selbst war als Präsidentschaftskandidat im Gespräch gewesen, wurde jedoch durch die Strafverfolgung in einem manipulierten Fall von "Beleidigung der Behörden" daran gehindert. Dieser wurde von Erdoğan selbst initiiert, um den für ihn gefährlich werdenden Konkurrenten aus dem Präsidentschaftsrennen auszuschließen.

Die Erneuerer erhielten in der CHP die Oberhand nach der Wahlschlappe. Der 49-jährige Apotheker Özgür Özel setzte sich bei der Wahl zum Vorsitzenden gegen Kılıçdaroğlu durch. Zu seinen Unterstützern zählte Imamoğlu. Nun bei den Kommunalwahlen musste die Partei ohne Bundesgenossen auskommen – jeder kämpfte für sich um die Stimmen.

Viele wählten die CHP aus wirtschaftlicher Enttäuschung

Dass es für die Republikanische Volkspartei dabei so gut lief, hatte eher weniger mit ideologischen Vorlieben der Wähler zu tun, vielmehr mit ihren leeren Geldbörsen. Erdoğans endlose Versprechen, die Wirtschaftslage zu verbessern, verärgerten seine Zielgruppe.

In den zehn Monaten nach seiner Wiederwahl stieg die Inflation im Land von 39 auf 67 Prozent und die türkische Lira setzte ihren Sturz auch bei den Wechselkursen fort.

So gelang es der CHP am 31. März wieder, Anhänger der unterschiedlichsten politischen Richtungen auf ihre Seite zu ziehen, darunter auch Minderheiten wie die Kurden. Die Wahl wurde zu einer Protestabstimmung.

Selbst im konservativen Istanbuler Stadtteil Üsküdar, wo Erdoğan selbst gemeldet ist, gewann die CHP-Kandidatin. Im Wahlkampf ließ die CHP dabei erfolgreich ideologische Klischees hinter sich. Der säkulare und prowestliche Imamoğlu beteiligte sich etwa aktiv am Iftar, dem feierlichen Abendessen während des Fastenmonats Ramadan.

Kontakte zur deutschen SPD

Parallel reiste Parteichef Özel viel ins Ausland, im Dezember 2023 nach Deutschland. Dort traf er sich mit Bundeskanzler Scholz und trat auf dem Parteitag der SPD auf – und sprach auf Deutsch. Die deutschen Sozialdemokraten bildeten in den 1920er-Jahren eines der Vorbilder bei der Entstehung der CHP.

Özel holte in seiner Rede vor den Sozialdemokraten weit aus:

Menschliche Tragödien, wirtschaftliche Probleme werden durch das neoliberale System verursacht: Es geht um soziale Ungerechtigkeit, die fehlende Gleichberechtigung der Geschlechter, den Aufstieg von Rassismus und Rechtsextremismus, die Migrations- und die globale Klimakrise.

Man sei mit all diesen Problemen und Gefahren zugleich konfrontiert. Özel verwies diesbezüglich auch auf den Krieg mit der Ukraine.

CHP und seine internationale Ausrichtung

Özel und seine Partei bereiten in Gedanken bereits die bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2028 vor. Erdoğan könnte hier noch auf die Option vorgezogener Neuwahlen setzen.

Doch das birgt für den 70-Jährigen mit angegriffener Gesundheit Gefahren. Özel muss derweil der internationalen Gemeinschaft zeigen, dass auch er etwa die Rolle als Vermittler zwischen Russland und dem Westen ausfüllen kann.

Unmittelbar nach dem aktuellen Wahlsieg kündigte er an, dass er neben Washington und Brüssel auch in Moskau und Beijing (Peking) Repräsentanzen seiner CHP eröffnen wolle. Westliche Politiker täten gut daran, sich die Agenda der Partei anzuschauen.

In den nächsten vier Jahren wird auf der politischen Landkarte der Türkei Rot eine dominierende Farbe sein. Es ist die Farbe der CHP. Zur aktuellen Stimmung in der Türkei passt ein bekanntes Lied der türkischen Popsängerin Hande Yener, das in den letzten Tagen vor Ort häufig zitiert wurde: "Rot steht Dir gut."