Orbán erinnert die geopolitische EU an ihr Demokratiedefizit

Vikctor Orbán und Donald Tusk beim Tallinn Digital Summit. Foto (2017): Arno Mikkor (EU2017EE) / CC BY 2.0 Deed

Vorfall um Ukraine-Veto legt Verdrängtes offen. Was das mit der polnischen Medien-Offensive und dem Aufbau der EU durch die USA zu tun hat. Beitrag zur Debatte.

Viktor Orbán ist ein Heuchler. Einerseits sägt er seit Jahren am politischen Fundament der Europäischen Union, andererseits hat er sich nun vom schnöden Mammon derselben EU bestechen lassen, als es um den Beitritt der Ukraine ging.

Der Preis für die Standhaftigkeit des ungarischen Premiers sind offenbar die 10 der insgesamt 30 Milliarden Euro, die die EU-Kommission beschlossen hatte, wegen mangelhafter Rechtsstaatlichkeit der Regierung in Budapest zurückzuhalten (Telepolis berichtete).

Und mehr noch: Nicht nur Orbán, auch die EU verrät ihre ureigenen Ideale mit jenem "stabilokratischen" Kurs, den sie speziell in Bezug auf die osteuropäischen Staaten, etwa auch Aleksandar Vucics Serbien, einzuschlagen gewillt ist.

Allzu einfache Antworten und die Wiederkehr des Verdrängten

So oder so ähnlich lautet die Überzeugung, die sich gegenwärtig den Lesern von Artikeln und Kommentaren deutscher Medien aufdrängt. Vielleicht täten dieselben Medien aber auch gut daran, sich ihre eigene Aversion gegen die "allzu einfachen Antworten", die sie bei Rechtspopulisten aller Couleur hegen, ins Gedächtnis zu rufen.

Denn mit der (jüngsten) Causa Orbán spielt sich zugleich eine Wiederkehr des Verdrängten vor den Augen der Öffentlichkeit ab: das Demokratiedefizit der EU.

Dieses Defizit manifestiert sich nun in zweierlei Gestalt aufs Neue: in der zunehmend supranationalen Autorität des Staatenbunds einerseits und in seiner geopolitischen Ausrichtung andererseits.

Zwei Manifestationen, mit denen die EU Kritikern nicht nur das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität untergraben, sondern auch die Hoffnung auf eine befriedete Welt jenseits der Interessen der Vereinigten Staaten beerdigen könnte.

Damit fiele die EU zurück auf ihre wenig bekannten Ursprünge, die zu einem wesentlichen Teil in der Reaktion der vornehmlich angelsächsischen Allianz auf die Bedrohung durch den Kommunismus liegen.

Der Soziologe Wolfgang Streeck hat bereits mehrfach und lange vor der "Zeitenwende" des Ukraine-Kriegs, auf diese Gefahr hingewiesen und musste sich wegen seines Plädoyers für ein "Europa der Vaterländer" gegen Darstellungen als Orbán-Versteher und Reaktionär verteidigen.

Dabei hat Streeck insbesondere mit seinen Ankündigungen hinsichtlich der Rolle Polens, die aktuell vor dem Hintergrund der dortigen beispiellosen Medien-Offensive wieder diskutiert wird, Recht behalten.

Und womöglich nicht nur damit.

Das alte Lied Demokratiedefizit

Das Demokratiedefizit der EU wird bekanntlich nicht nur mit Blick auf das Auskungeln der Kommissionspräsidentin diskutiert, die ihrerseits im Verdacht steht, Deals mit Pharma-Unternehmen nach mutmaßlicher Erfahrung mit Beratungsunternehmen ausgekungelt zu haben.

Neben dem strukturellen Defizit einer ungleichen Stimmverteilung (s. degressive Proportionalität), den das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Lissabonner Vertrag von 2009 als Ergebnis einer "Überföderalisierung" bezeichnete, kritisieren etwa die sogenannten Intergouvernementalisten an der EU außerdem eine mangelnde demokratische Legitimation ihrer Politik – speziell im Hinblick auf die Entscheidungsgewalt von Kommission, Europäischem Rat und Europäischer Zentralbank (s. Troika) sowie dem Europäischen Gerichtshof.

Ihre Bedenken richten sich dabei auch gegen eine forcierte Zentralisierung, was auch die Absage an eine gemeinsame EU-Verfassung erklärt, die ursprünglich bereits 2006 in Kraft treten sollte.

Aber auch die Süddeutsche hielt noch im Mai 2023 fest, dass der "Dauerkrisenmodus" der vergangenen Jahre entscheidend dazu beigetragen habe, eine autoritäre Tendenz auf Kosten der unterschiedlichen Interessen der souveränen Nationalstaaten durchzusetzen (Mit diesem Muster des Ausnahmezustands als para-demokratischem Winkelzug hat sich Telepolis mehrfach eingehend auseinandergesetzt, auch in Bezug auf die EU).

In der betreffenden supranationalen Form zeigt sich das Demokratiedefizit darüber hinaus nicht nur im Fall Orbán und der mittelbaren Gewalt durch finanzielle Sanktionen, sondern auch in Bezug auf den berüchtigten Artikel 7, der beim Vorgehen gegen die rechtskonservative PiS-Regierung in prominenter Weise Verwendung gefunden hat.

Mit der "geopolitischen Neuordnung der EU" steht außerdem – so auch bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – eine Revision des Einstimmigkeitsprinzips bei außenpolitischen Entscheidungen auf der Agenda, die die Debatte um das Demokratiedefizit zusätzlich anheizt (Telepolis berichtete).