Osterweiterung: Wie die Nato wortbrüchig wurde
Von Wörner bis Baker: Staaten des Ex-Sowjetraums wurden zahlreiche Zusicherungen gemacht. Später mochte sich daran niemand mehr erinnern
Zum 70. Jahrestag vor drei Jahren fehlten noch einige Staats- und Regierungschefs und der skeptische Unterton bei allen Lobgesängen bestätigte nur, dass es nicht rundläuft in der Organisation. So mancher in der Nato-Zentrale in Brüssel mag den absehbaren und derzeit eskalierenden Konflikt mit Russland daher als Chance für ein Revival des Nordatlantikpaktes sehen.
Denn Fakt ist auch: Aus den Frontlinien ihrer strategischen Projekte hat sich die Organisation nie zurückgezogen. Und eines dieser nach wie vor aktuellen Projekte ist die Verschiebung der Nato-Grenzen nach Osten, so dicht wie möglich an die Grenzen der Russischen Föderation. Wer also über die Nato spricht, darf über die Osterweiterung nicht schweigen.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und mit ihr des Warschauer Paktes hatten bei der Nato, deren Fortexistenz offiziell nie in Frage gestellt wurde, neue Überlegungen über eine europäische Sicherheitsstruktur notwendig gemacht.
Der damalige Generalsekretär der Nato, Manfred Wörner, hatte schon 1991, noch vor der formellen Unabhängigkeit der 15 sowjetischen Unionsrepubliken, Boris Jelzin versichert, dass sich die ganz überwiegende Mehrheit der Staaten des Nato-Rates (13 von 16) gegen eine Ausweitung der Nato ausgesprochen habe und die Isolation der UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft nicht zugelassen werden dürfe.
Ein Jahr zuvor hatte er bereits in einer Rede in Brüssel versucht, in der Sowjetunion geäußerte Sorgen zu beruhigen, indem er versicherte1:
Gerade die Tatsache, dass wir bereit sind Nato-Truppen nicht jenseits des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion verbindliche Sicherheitsgarantien.
Die Entwicklung allerdings verlief anders. Schon Anfang September 1993 hatte das US-Außenministerium eine Planung für die Erweiterung der Nato entwickelt. Sie sah vor, möglichst bald mit Mittel- und Osteuropa sowie den baltischen Staaten zu beginnen, um im Jahr 2005 die Ukraine, Weißrussland und auch Russland einzubeziehen.
Jelzin beunruhigten diese Pläne und er schrieb schon am 15. September 1993 an Clinton einen Brief und warnte2:
Nicht nur die Opposition, sondern auch moderate Kreise (in Russland) würden ohne Zweifel dies als eine neue Isolation unseres Landes wahrnehmen, die im diametralen Gegensatz zu seiner natürlichen Aufnahme in einen Euro-atlantischen Raum steht.
Er verwies auch auf den Vertrag zur Deutschen Wiedervereinigung, der "die Option einer Ausweitung des Nato-Bereichs in den Osten ausschließen" würde. Zur gleichen Zeit warnte der US-Diplomat in Russland, James Collins, dass das Thema der Nato für die Russen neuralgisch sei3.
Sie gehen davon aus, auf der falschen Seite eines neu geteilten Europas zu enden, wenn irgendeine Entscheidung schnell getroffen wird. Unabhängig wie nuanciert, wenn die Nato eine Politik annimmt, die die Erweiterung nach Zentral- und Osteuropa vorsieht, ohne eine Tür für Russland offen zu lassen, dann würde es überall in Moskau als gegen Russland - und nur gegen Russland alleine - interpretiert werden.
James Collins
Doch Clinton hielt an den Plänen fest und suchte sie auf seiner Reise im Januar 1994 nach Prag und Moskau, seinen Gesprächspartnern aus Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei als "Partnerschaft für den Frieden" schmackhaft zu machen. Er erklärte, dass die "Partnerschaft für den Frieden" ein "Weg sei, der zur Nato-Mitgliedschaft führe" und nicht "eine weitere Linie ziehe, die Europa einige Hundert Meilen im Osten teile".4
Dass die zweite Prognose nicht stimmte, ist heute unbestritten und zeigt die weitere Entwicklung. 1999 wurden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik Mitglieder in der Nato. 2004 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien und schließlich 2017 Montenegro. Doch auf dem Membership Action Plan der Nato stehen noch Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien.
Damit könnte dieses Kapitel der Nato-Strategie geschlossen werden. Zwar steht die Ukraine noch nicht auf der Liste, mit deren Integration würde die Nato jedoch die von Präsident Putin formulierte rote Linie überschreiten.Dennoch steht nach wie vor ein Vorwurf im Raum, um den es immer wieder Streit gibt. Er lautet, der Westen habe mit der Osterweiterung der Nato eine Zusage an den damaligen Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, gebrochen, nicht die Grenzen nach Osten zu verschieben.
Pünktlich zum 70. Jahrestag der Nato-Gründung hatte Horst Teltschik in seinem Buch Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden (C.H. Beck, 2019) diese Zusage in das Reich der Legenden verwiesen. Es habe zwar Anfang 1990 Gespräche zwischen Hans-Dietrich Genscher und seinem US-amerikanischen Kollegen James Baker gegeben, die sich in diese Richtung interpretieren ließen.
Aber "ein offizielles Versprechen des Westens hat es nicht gegeben und konnte es nicht geben... Es gab nur die Vereinbarung, keine Nato-Kräfte bzw. Nato-Einrichtungen auf dem ehemaligen Gebiet der DDR zu stationieren, solange noch russische Truppen in der DDR präsent waren (...) Präsident Michail Gorbatschow hat inzwischen mehrfach bestätigt, dass es 1990 keine Gespräche über eine mögliche Osterweiterung gegeben habe".5
Teltschik, Zeitzeuge und damals engster außenpolitischer Berater von Helmut Kohl, ist eine schwer zu widerlegende Quelle. Und doch widersprach ihm Klaus von Dohnanyi in seiner Rezension des Buches in der Zeit im Juni dieses Jahres deutlich.6 Außenminister Baker habe Anfang Februar 1990 in Moskau Gorbatschow und Außenminister Eduard Schewardnadse die deutliche Zusicherung gegeben, dass es "über die damaligen Ostgrenzen der DDR hinaus (...) keinerlei Erweiterung der Nato geben werde." Darüber habe Baker auch Helmut Kohl vor seinem Gespräch mit Gorbatschow unterrichtet.
Dohnanyi stützte sich vorwiegend auf eine Veröffentlichung der Harvard-Professorin Mary Elise Sarotte, die in ihrem 2014 in zweiter Auflage erschienenen Buch "1989" feststellt, dass US-Außenminister James Baker Anfang Februar 1990 in seinen Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung mit Präsident Gorbatschow vereinbart habe, dass die Nato keinerlei Erweiterung über die damalige Ostgrenze der DDR hinaus anstrebe. Sie zitiert eine schriftliche Notiz Bakers über die Gespräche:
End result: Unified Ger. anchored in a changed (polit.) Nato – whose jurid. would not move eastwards.
Gorbatschow habe seinerzeit geantwortet: "Ganz gewiss wäre jede Erweiterung der Nato über ihren heutigen Bereich inakzeptabel." Dohnanyi hält diesen historischen Verlauf der US-sowjetischen Gespräche heute für unbestreitbar.
Das forderte jedoch wiederum den Widerspruch Teltschiks heraus, der in der Zeit vom 11. Juli 2019 bei seiner "Legende vom gebrochenen Versprechen" bleibt und nun näher auf seine eigene Rolle eingeht. Baker habe Kohl vor dessen Gespräch mit Gorbatschow in einem Brief unterrichtet. Dieser Brief sei ihm, Teltschik, persönlich von Baker angekündigt und bei der Ankunft von Kohl auf dem Flughafen Moskau am 10. Februar übergeben worden.
Der Brief beweise, dass es in dem Gespräch zwischen Baker mit Gorbatschow und Schewardnadse ausschließlich um den Prozess einer möglichen Vereinigung und den zukünftigen Status eines geeinten Deutschlands gegangen sei:
Baker hatte Gorbatschow gefragt, ob er ein geeintes Deutschland außerhalb der Nato, unabhängig und ohne US-Truppen einem geeinten Deutschland vorziehen würde, mit der Zusicherung, dass sich die Jurisdiktion der Nato nicht einen Zoll ostwärts von seiner gegenwärtigen Position verändern würde. Gorbatschow habe geantwortet, dass "jede Erweiterung des Nato-Gebietes nicht akzeptabel wäre".
Man könnte dies als Bestätigung von Dohnanyis Version ansehen. Teltschik hält sie jedoch nach wie vor für eine Überinterpretation des Briefes und der Aktennotiz von Baker:
Die "Ehrlichkeit" gebietet es, Frau Sarotte und Herrn von Dohnanyi, die ich beide schätze, in diesem Fall deutlich zu widersprechen.
Seltsam nur ist, dass beide Kontrahenten die Dokumente übersehen haben, die das National Security Archive am 12. Dezember 2017 unter dem Titel Nato Expansion: What Gorbachev Heard veröffentlicht hat.7 Sie alle bezeugen, dass Bakers berühmtes "not one inch eastwards" auf dem Treffen mit Gorbatschow am 9. Februar 1990 die Versicherung war, die Erweiterung des Nato-Bereichs nicht über die damaligen Grenzen hinauszutreiben.
Aber nicht nur das, alle relevanten Staats- und Regierungschefs, von Bush über Kohl, Mitterrand und Thatcher waren der gleichen Überzeugung. Schon auf dem Malta-Gipfel im Dezember 1989 hatte Bush Gorbatschow versichert, dass die USA keine Vorteile aus den Revolutionen in Osteuropa ziehen würden, um sowjetische Interessen zu verletzen.
Diese Position wiederholte er auf dem Washington-Gipfel am 31. Mai 1990, dass die USA mit der Vereinigung Deutschlands nicht einmal daran dächten, der Sowjetunion in irgendeiner Weise zu schaden. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher wurde in seiner berühmten Rede in Tutzing am 31. Januar 1990 deutlicher, als er sagte, dass die Nato "eine Erweiterung ihres Territoriums nach Osten, d.h. näher an die sowjetischen Grenzen" ausschließen sollte.8
Diese "Tutzinger Formel" bildete dann auch die Grundlage für die anschließenden Gespräche Kohls mit Gorbatschow am 10. Februar in Moskau, als er die prinzipielle Zustimmung zur Vereinigung und Verbleib in der Nato erhielt, solange sich die Nato nicht nach Osten ausdehne.
Auch Baker bezog sich in seinem Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse am 9. Februar auf diese Formel und erläuterte gleich dreimal seine "keinen Zoll ostwärts"-Formel in seinem Gespräch am gleichen Tag mit Gorbatschow: Die US-Amerikaner hätten verstanden, "dass es nicht nur für die Sowjetunion, sondern genauso für die europäischen Staaten wichtig sei, Garantien zu haben, dass wenn die USA im Rahmen der Nato Stellungen in Deutschland bezögen, nicht ein Zoll der militärischen Rechtsprechung der Nato nach Osten hin ausgedehnt würde."9
Bei einem erneuten Treffen mit Gorbatschow am 18. Mai 1990 in Moskau versicherte er noch einmal10:
Bevor ich einige Worte zur deutschen Angelegenheit sage, möchte ich noch einmal betonen, dass unsere Politik nicht darauf aus ist, Osteuropa von der Sowjetunion zu trennen. Dies war unsere Politik früher einmal. Aber heute sind wir daran interessiert, ein stabiles Europa zu bilden und dies mit Ihnen zusammen zu tun.
James Baker
Auch Frankreichs François Mitterrand betonte bei seinen Gesprächen mit Gorbatschow am 25. Mai in Moskau, dass er zwar persönlich den Abbau der militärischen Blöcke bevorzuge, aber der Westen müsse ein sicheres Umfeld für die Sowjetunion wie für Europa als Ganzes schaffen. Nach dem Washingtoner Gipfel Ende Mai traf Margret Thatcher am 8. Juni 1990 Gorbatschow in London. Auch sie sprach davon, Gorbatschow zu unterstützen und die Nato in eine mehr politische und weniger militärisch drohende Allianz umzuwandeln11:
Wir müssen Wege finden, der Sowjetunion das Vertrauen zu vermitteln, dass ihre Sicherheit gewährleistet sei... Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) könnte ein Schirm für alles das sein, genauso wie das Forum, welches die Sowjetunion voll in die Diskussion über die Zukunft in Europa gebracht hat.
Margret Thatcher
Die KSZE spielte auch in dem Telefongespräch vom 17. Juli 1990 eine Rolle, in dem Bush Gorbatschow u. a. die Idee einer erweiterten und stärkeren KSZE mit neuen Institutionen vortrug, an der die UDSSR teilnehmen und ein Teil des neuen Europa sein könne. Allerdings gab es innerhalb der US-Regierung auch andere Strömungen. So war das Verteidigungsministerium der Ansicht, man solle die Tür für die Mitgliedschaft der osteuropäischen Staaten in der Nato offen lassen. Für das State Department stand jedoch die Nato-Erweiterung nicht auf der Tagesordnung.
Zwei Jahre später hatte sich jedoch das Verteidigungsministerium offensichtlich mit seiner Ansicht durchgesetzt. Seitdem ist die Diskussion über die Nato-Osterweiterung und insbesondere die Kritik an ihr nicht abgerissen. 1997 schrieben der ehemalige Außenminister Robert McNamara und über 40 hochrangige Politiker einen offenen Brief an Präsident Bill Clinton, in dem sie eine mögliche Osterweiterung einen "Fehler von historischem Ausmaß" nannten.
Und George F. Kennan, Diplomat und führender Stratege im Kalten Krieg, warnte in der New York Times, dass die Ausweitung der Nato bis an die Grenzen Russlands der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Kalten Krieg sein würde.
Er warnte hauptsächlich davor, dass eine solche Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland anheizen könne und einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie haben würde. Auf jeden Fall hat der Vorstoß der Nato wieder eine Linie durch Europa gezogen und die Konfrontation zwischen dem Nato-Westen und Russland vertieft.
Die Ausdehnung gen Osten ist immer noch nicht abgeschlossen und die Diskussion über das Für und Wider wird weiter andauern. Eine Streitfrage sollte sich jedoch durch die freigegebenen Dokumente erledigt haben. Sie lassen keinen andern Schluss zu, als dass der Westen Gorbatschow ein Versprechen gegeben hat, die Nato in ihren damaligen Grenzen zu belassen, dieses Versprechen aber schon Ende der 90er-Jahre gebrochen wurde.