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Panorama der Technoevolution

Zur Abstufung zukünftiger künstlicher Prozesse in der "Summa technologiae" von Stanislaw Lem

Das Sachbuch "Summa technologiae" des Science Fiction-Autors Stanislaw Lem [1] aus dem Jahr 1964 ist als sein technikphilosophisches Hauptwerk anzusehen. Deutschsprachige Ausgaben waren lange Zeit vergriffen; 2013 ist eine eBook-Ausgabe erschienen. Im gleichen Jahr kam in den USA die erste englische Übersetzung heraus. Dieser liegt die revidierte Fassung zugrunde, die 1976 auf Deutsch veröffentlicht wurde.

Rund fünfzig Jahre nach seiner ersten Publikation in Polen ist das Werk in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Dabei liefert Lem eine Art Gerüst, in das Vieles von dem, was Jahrzehnte später unter Stichworten wie Artificial Life oder Nanotechnologie diskutiert worden ist, eingefügt werden kann, ohne dass er selbst schon hätte diese Leerstellen füllen können. Das Werk stellt den ideengeschichtlich einzigartigen Versuch dar, eine systematische und erschöpfende Aufzählung zukünftiger Existenzmöglichkeiten einer technologischen Zivilisation zu leisten. Das fängt an bei der Prothetik von Körperteilen, geht über die vielfältige Nachahmung der Natur in einer "Ingenieurskunst" des Lebens bis hin zu einer künstlichen Informationszucht.

Lem skizziert ein großes Bild der weitestgehenden Kontrolle über die Materie des Körpers und über die der Umwelt. Am Ende steht für Lem die Wissenschaft von der Erreichung aller künstlichen Ziele durch vernunftbegabte Wesen in Mikro- und Makrokosmos - die umfassende Vision einer "Pantokreatik".

Die Methode Lems

Die "Summa" ist - so viel sei gleich zu Beginn gesagt - kein Buch über sämtliche Möglichkeiten der Technologie, weil das von der Sache her gar nicht leistbar wäre. Lem stellt technische Eingriffschancen verteilt über die ganze Skala von kleinsten bis hin zu größten Dimensionen dar. Obwohl die präsentierten Ergebnisse hochspekulativ bleiben, sind sie doch wissenschaftlich begründet.

Lem ist kein Fachspezialist: Er ist weder Biologe noch Informatiker, sondern ein Generalist, also am ehesten noch als Philosoph zu bezeichnen. Er strebt danach, übergreifende Gesetzmäßigkeiten zwischen Sachverhalten unterschiedlicher (Größen)Ordnung zu identifizieren und nimmt dazu den größtmöglichen abstrakten Standpunkt ein. Er blickt gewissermaßen von ganz "oben" auf die menschliche Geschichte, auf die Geschichte der Biosphäre, ja, auf die Geschichte des Kosmos selbst. Sein Leitmodell ist die biologische Evolution - ein hochproduktiver, aber ungesteuerter Vorgang, der sich seit Milliarden Jahren auf der Erde vollzieht.

Er nimmt an, dass es zu einem Zusammengehen, zu einer zunehmenden Verschränkung von Sozio-/Technoevolution und Bioevolution kommen werde. "Die lebenden Organismen in der Biologie und die aufeinanderfolgenden Industrieprodukte in der technischen Zivilisation bilden lediglich winzige Teilchen jener übergeordneten Prozesse."

Für die Menschheit sieht er die Option, einen immer besseren Zugriff auf Informationsprozesse im Körper, im Gehirn und in der natürlichen Umwelt erreichen zu können und damit die Chance zu ihrer (Neu)Konstruktion und Steuerung zu erlangen. Lem führt ein ganzes Spektrum von Prozess-Ebenen vor, die ineinander verschachtelt sind und miteinander rückgekoppelt werden. So gibt es Rückwirkungen der Technoevolution auf das Funktionieren der Gesellschaft und die Psyche des Einzelnen. "Die Technologie ist aggressiver, als wir gemeinhin glauben. Ihre Eingriffe in das Seelenleben und die mit der Synthese und der Metamorphose der Persönlichkeit zusammenhängenden Probleme sind lediglich derzeit noch eine leere Klasse von Ereignissen. Der weitere Fortschritt wird sie ausfüllen." Ungeachtet dessen informationelle Organisation dieser Ebenen soll verbreitert werden, wobei der Aspekt der Informationsverarbeitung quer angelegt ist.

Lems Buch ist ein Produkt des kybernetischen Zeitalters, das vor einem halben Jahrhundert auch auf große Resonanz in der Öffentlichkeit stieß. Die Technoevolution führe zu einer "Komplexität, deren Anwachsen uns vor Augen geführt hat, dass unsere nächstliegende Hauptaufgabe in der Regelung besteht". In der Gegenwart wird man solchen umfassenden Regelungsvorstellungen erst einmal wenig Verständnis entgegenbringen. Man sollte sie aber nicht als historisches Zitat bewerten, sondern als Teil einer soziotechnischen "Großerzählung", die Prozesse der Evolution in solche der Kultur und der Technologie übersetzt, um für letztere einen ähnlich weit aufgespannten Entfaltungsraum zu entwerfen.

Zu seiner Methode sei noch gesagt, dass der gedankliche Raum für Fragen und Antworten von vornherein nicht zu stark eingeschränkt werden sollte. Wie Lem an einer Stelle als Dilemma der Wissenschaft formuliert hat: Zu strenge Kriterien könnten die Offenheit für die Suche beispielsweise nach einer abstrakten Idee wie der "Astroingenieurskunst" unterbinden. Ferner benutzt er umfangreiches Wissen aus den Grenzbereichen der Wissenschaft (auf dem Stand seiner Zeit) auf eine Weise, die man heute interdisziplinär nennen würde.

Lem entscheidet sich für diejenigen Wissenselemente, die er in seinen großflächigen Bezugssystemen gebrauchen kann. Er baut gewissermaßen Gitterstrukturen auf, die je nach Bedarf ergänzt werden. Insofern stellt das Buch eine Anregung dar in einer Zeit, in der die Wissenschaften angesichts der Problem-Komplexität drohen, sich in immer kleinere Diskursbereiche zurückzuziehen. Die Gefahr des Eklektizismus, dass verschiedene Elemente aus Wissenschaftsbereichen zusammengewürfelt werden, ist gegeben. Aber dieser Gefahr kann man begegnen und man muss sie konkret am Text diskutieren.

Sein Vorgehen kann man provosorisch als prozess-orientiert beschreiben, da er seine Argumentation auf mehreren Ebenen anlegt. Lem springt ständig auf einem graduellen Spektrum von Bezugssystemen der Erklärung hin und her und kann so eine ganze Kette von Bedingungen anführen. Um die Entstehung des irdischen Lebens zu beschreiben, nennt er beispielsweise Faktoren wie schwächere Gravitation, relativ konstante kosmische Strahlung, Variabilität der Umwelt und weitere Zufallsfaktoren, er überwindet also die planetarische Binnenperspektive. Prozess-orientiert auch deshalb, weil Lem die Entstehung und die Vergänglichkeit von diversen Formen der Bio- oder der Sozioevolution betont. Sie sind für bestimmte Phasen der Genese bedeutend, auf lange Sicht aber eben nicht. Man solle auch nicht nach irdischen Maßstäben allein messen, als Potenzierung allein menschlicher Möglichkeiten.

Prozessebene: Weltgesellschaft

Nach Lem befinden wir uns also noch in der "präregulativen Ära". Der Prozesszusammenhang der technologischen Zivilisation sei planlos, es fehle "an dem Wissen, mit dessen Hilfe sie unter den vielen Möglichkeiten bewusst ihren Kurs wählen könnte, statt sich von den Strömungen zufälliger Entdeckungen treiben zu lassen". Das Tempo der Veränderungen verringere die Chancen einer Vorausschau. Nebeneffekte von technischen Erfindungen seien nicht absehbar.

Zudem käme auf die Gesellschaft eine "Informationslawine" zu, die es paradoxerweise immer schwieriger mache, langfristig sich möglicherweise als wertvoll erweisende Erkenntnisse zu nutzen. "Wenn wir nicht lernen, auch den Fortschritt des Wissens zu regeln, werden die weiteren Etappen unserer Entwicklung immer stärker vom Zufall bestimmt sein." Als Gegenstrategie empfiehlt Lem die Automatisierung der Erkenntnisproduktion in verschiedener Hinsicht.

Maschinen werden Assistenzsysteme sein, aber auch als "Intelligenzverstärker" wirken. Lem stellt eine Art "Information Monitoring" in Aussicht, dass aber nicht der Überwachung und Kontrolle der Gesellschaft durch Konzerne und Staaten dient, sondern dem Wissensmanagement auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, damit eben in der stetig anwachsenden Menge an Daten keine nützlichen Informationen verloren gehen, von denen neue evolutionär bedeutsame Wissensschritte ausgehen könnten. Lem hat dabei die Gesellschaft als Ganze im Blick, die er als Objekt der Regelung versteht. Ihm geht es also um eine übergeordnete Informationsverarbeitung, nicht um Data mining zur Analyse von Konsumenten-und Bürgerverhalten.

Zweck dieser denkbaren Technoevolution ist unter anderem, über das System als Ganzes zu informieren. Für viele wird eine solche Sichtweise ungewöhnlich sein - sie entspringt dem vergangenen kybernetischen Zeitgeist -, sie stellt aber auch gesellschaftliche Funktionen und Zwecke in ein neues Verhältnis. Lem geht von einer Utopie aus, in der alle Grundbedürfnisse geregelt sind in dem Sinne, dass sie als materielle Notwendigkeiten verschwunden sind und sich die Gesellschaftsmitglieder nicht mehr um diese kümmern müssen.

"Die grundlegenden Fragen jeder Zivilisation - Ernährung, Bekleidung und Transport, dazu noch Geburtenregelung, Güterverteilung und Schutz von Gesundheit und Besitz - müssen gelöst sein. Sie müssen so unsichtbar werden wie die Luft." Eine solche Basis der allgemeinen Versorgung für höhere Vorgänge der Sozioevolution erst geschaffen zu haben, bezeichnet Lem als noch ausstehende "Reifeprüfung" der Menschheit.

Die Frage nach dem Sinn einer Zivilisation könne besser gestellt werden, wenn auf dem Planeten kein Mangel, keine Not mehr herrschten. Das kann man als ein entscheidendes Kriterium für das zu organisierende „Reich der Freiheit“ werten, wobei Lem diesem den Aspekt allgemeiner Gestaltungs-Potenz hinzugefügt hat.

Die Verhältnisse von Sozio- und Technoevolution abstrahiert Lem dabei von konkreten Gesellschaftsformationen. In einem Abschnitt kommt er darauf zu sprechen, dass solche Intelligenzverstärker Vorteile auf der Ebene einzelner Firmen bringen können, aber er interessiert sich nicht wirklich für solche aus seiner Sicht wohl kurzfristigen Einsatzgebiete. Sein Thema ist die allgemeine Bewältigung der technokulturellen Komplexität, die sich - unter den skizzierten neuen Bedingungen, die allerdings nichts verraten über die vermutlich konflikt- und friktionsreiche Übergangsperiode - immer mehr dem begrenzten menschlichen Verständnis entzieht. Und er sieht überraschende Möglichkeiten:

Die Gesellschaft kann eine plötzliche Systemveränderung vornehmen, sie kann einzelne Tätigkeitsbereiche sprungartig verbessern, wenn sie dort 'kybernetische Administratoren', die mit begrenzten, aber weitreichenden Vollmachten ausgestattet sind, einführt.

Stanislaw Lem

Wie die genau aussehen, wie sie funktionieren, wer die Subjekte ihrer politischen Durchsetzung sein sollen, davon erfährt man auf den Seiten der "Summa" nichts. Das hält Lem nicht davon ab, auch eine Maschine mit dem Titel "planetarer Koordinator" einzuführen, dessen Entscheidung von mit Menschen besetzten Räten überprüft wird. Interessant ist vor allem, dass Lem zumindest der Idee nach der Globalisierung einen weltweiten Organisationsrahmen gibt.

Prozessebene: Körper

Die Organisation des Organismus auf breiter Basis zu verändern, ist ein weiteres Feld von Zukunftskonzepten, das Lem aufmacht. Eine ganze Reihe von Mängeln wird aufgelistet, die der menschliche Körper aufzuweisen hat. Er könne sich kaum regenerieren. Seine Organe alterten ungleichmäßig. Einzelne Komplikationen bei wichtigen Bestandteilen wie Herz oder Lunge können lebensbedrohlich werden. Die biochemische Unverwechselbarkeit erweise sich als Problem bei Transplantationen.

Kompromisse in der organischen Entwicklung werden in der biologischen Evolution beibehalten und führen zu weiteren. Frühere Errungenschaften einer Spezies werden vergessen oder sie können nicht verbreitet werden. Als Beispiel dafür nennt Lem den Zahnverlust alter Menschen, während Zähne bei Haien nachwachsen. Der Körper erneuere zwar seine Mikro-"Ersatzteile" - die Zellen -, aber auf der Ebene der Organe käme dieses Prinzip nicht zum Zuge. Der Tod als Sterben des Gesamtorganismus trete ein, wenn somatische Prozesse der "zentralen Kontrolle" entwichen und die "Reserven sämtlicher Kompensationsmechanismen" ausgereizt seien. Die genotypische Evolution sei nur eine "mäßige Steuerungsmethode".

Im Ganzen sieht Lem ein "statistisches Konstruktionsprinzip" am Werk, bei der die Mehrheit einer Art überleben soll. Die Evolution könne keine radikalen Rekonstruktionen leisten, sondern nur geringe Veränderungen.

Nun hat die Evolution die ungeheure Vielfalt der Biosphäre hervorgebracht. Lem interpretiert sie zum einen als unvernünftigen blinden Prozess, der eben verbesserungswürdige Zwischenlösungen auf den Weg gebracht hat.

Noch sei unklar, was bei der Bioevolution zufällige Bedingung und was notwendiges Gesetz eines um sein Gleichgewicht ringenden Systems sei. Die Evolutionsgeschwindigkeit sei gering, wenn Umweltbedingungen über lange Zeit unverändert blieben. Die Technoevolution wiederum verlaufe wesentlich schneller und sie verfüge über eine neuartige Freiheit, denn eine Zelle beispielsweise umfasse zwar einen Informationsgehalt von enzyklopädischem Umfang, aber „kann sie nicht wie ein Ingenieur die Maschine des Lebens, wenn sie nicht richtig funktioniert, 'abstellen', sich ihre wichtigsten Konstruktionsmerkmale noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen und dann darangehen, sie mit einem Schlage umzubauen.“

Die Menschheit sei aber längst nicht in gleichem Umfang wie die Natur in der Lage, Prozesse der Selbstorganisation in Gang zu setzen. Aber der Mensch werde lernen, sie in allen Belangen zu imitieren und über ihre Lösungen hinauszugehen. Erst dann sei das "Reich der Freiheit" erreicht. In den Abschnitten zu "Der Bereich der Imitologie" beschreibe Lem das Leistungsspektrum der Evolution in bemerkenswerter Prägnanz:

"Auf den 'Einfall', Prozesse von größerer Wahrscheinlichkeit (Zunahme der Entropie, der Desorganisation) mit Prozessen von geringerer Wahrscheinlichkeit (Entstehung lebender Organismen) zu verknüpfen, was eine Zunahme der Organisation und einen Rückgang der Entropie nach sich zog, ist die Natur schon vor Jahrmilliarden gekommen. So schuf sie Hebelarme, chemodynamische und chemoelektrische Maschinen, Transformatoren, welche die Sonnenenergie in chemische Energie umwandelten (die Skelette der Wirbeltiere, ihre Zellen, die photosynthetisierenden Pflanzen), aber auch Pumpen in mechanischer (das Herz) und osmotischer Ausführung (die Nieren), 'fotografische' Apparate (die Sehorgane) usw. Im Bereich der Bioevolution überging sie die Nutzung der Kernenergie, da die Strahlung die genetische Information und die Lebensprozesse zerstört, 'wandte' sie dagegen bei den Sternen 'an'." - Stanislaw Lem

Bei aller Vielfalt seien der Natur aber auch Grenzen gesetzt im Mikro- und Makrokosmos. Lem verfolgt die Idee einer bewusst geplanten und gesteuerten Selbstevolution:

"Vollkommener als das biologische System ist ein solches, das um einen Freiheitsgrad reicher ist – im Hinblick auf das Baumaterial. Ein System, das weder in seiner Form noch in seiner Funktion durch das Material determiniert ist. Das nach Bedarf einen Rezeptor oder Effektor, ein neues Sinnesorgan oder eine neue Gliedmaße oder eine neue Fortbewegungsweise erzeugt." - Stanislaw Lem

Die Ausstattung des Körpers mit technischen Artefakten - Lem benutzt als einer der ersten Autoren den Begriff der Cyborgisierung, der Anfang der Sechziger aufkam - ist nur ein Zwischenschritt dieser Entwicklung. Über die technische Stabilisierung einzelner Körper sei es nur ein kurzer Schritt zur planmäßigen Steuerung der ganzen Gattung, zu deren Ausstattung mit neuen Funktionen und Elementen. Möglich seien auch Baumaterialien oder Energieformen, die im Universum nicht vorkommen.

Die Überschreitung der menschlichen Bedingung schließlich, über die man von einem heutigen Standpunkt keine Aussage machen kann, wird an einer Stelle konsequent zusammengefasst: "Dieses Band des Verständnisses wird erst dann abreißen, wenn der Mensch in tausend oder Millionen Jahren um einer vollkommeneren Konstruktion willen seiner gesamten tierischen Vergangenheit, seinem unvollkommenen, unbeständigen, sterblichen Körper entsagt und sich in ein Wesen verwandelt, das uns dermaßen überlegen ist, dass es uns fremd wird."

Prozessebene: Gehirn / Bewusstsein

Die Menschen unterscheiden sich vom Tier durch ihre Zivilisation, durch ihr Wissen um die eigene Sterblichkeit. Wesen, die mit einem selbstreflexiven Gehirn ausgestattet sind, können ihre "Programme" wechseln und auf Umweltveränderungen reagieren. "Ohne sich auf fertige Handlungsprogramme zu stützen, passt nunmehr der Organismus 'auf eigene Faust' entweder sich der veränderten Umwelt (…) oder die Umwelt sich selbst an (der Mensch errichtet die Zivilisation)."

Kurz gefasst ist also die Bewusstseinsfähigkeit die Voraussetzung für alle weitergehenden Prozesse der technischen Gestaltung. Diese wird selbst einer Umformung unterworfen sein. Lem führt in einem Abschnitt die "Neurokybernetik" an, mithilfe derer Bewusstseinszustände erzeugt werden können.

Ein weiterer Aspekt ist die Frage nach Künstlicher Intelligenz, obwohl Lem diesen Begriff in dem Buch erstaunlicherweise vermeidet. "Mit der Entwicklung der Technologie wächst die Komplexität der Regelungsprozesse, so dass man schließlich, um ihrer Herr zu werden, Regler einsetzen muss, die eine größere Mannigfaltigkeit aufweisen als das menschliche Gehirn."

Maschinen sollen nicht nur für die Informationsverarbeitung zuständig sein, sondern auch helfen bei der Lösung von intellektuellen Problemen. Mensch und Maschine bilden folglich ein neuartiges "Erkenntnisgespann". Lem fasst an dieser Stelle einige Fragen zusammen, die auch woanders angesprochen worden sind: Kann der Mensch eine Maschine bauen, die "klüger" ist als er selbst? Wird diese - wenn ihre Konstruktion gelingt - ihren Usern wie eine "Black box" erscheinen, deren Innenleben und Funktionieren unbekannt bleibt? Könnten solche Maschinen die Macht übernehmen?

Dabei handelt es sich um eine Frage, die durch prominente Zeitgenossen wie Stephen Hawking oder Elon Musk gestellt wird. Lem beantwortet sie negativ. Die Vorstellung einer Herrschaft der Maschinen sei eine anthropomorphe Projektion. Zwar werden das installierte System von solchen "Vernunftverstärkern" zunehmend machtvoller werden, aber ein Streben nach Kontrolle des Gemeinwesens sei nicht zu befürchten. Eher müsse man damit rechnen, dass die intelligenten Systeme Eigenschaften einer unverständlichen "Persönlichkeit" zeigten. Weitere Chancen seien in der Entwicklung der Theorie sich selbst organisierender Systeme zu finden, die zu einer adaptiven Selbstprogrammierung fähig seien.

Die Idee der Phantomatik kann diesem Zusammenhang hinzugefügt werden. Das "Eintauchen" in künstlich erschaffene Medienwelten ist in diesem Fall - ob genutzt als Instrument der Wissenschaft oder der Kunst und Unterhaltung -, nicht einer Benutzung äußerlich bleibender Gerätschaften zu verdanken. Der User der phantomatischen Maschine ist über eine direkte Schnittstelle zu seinem Nervensystem mit dieser verbunden, so dass ein interaktives Verhältnis in Echtzeit besteht, die Maschine auf seine Reaktionen wiederum Feedback geben kann.

Lem denkt die Phantomatik noch weiter: Bei der "Teletaxie" wird in das Bewusstsein der User die Informationen einer mobilen Maschine eingespeist, die sich an einem anderen Ort befindet - also etwas, das der mittlerweile in Ansätzen realisierten Telepräsenz bei der Ansteuerung von mobilen Robotern vergleichbar ist. Die "Phantoplikation" wiederum ermöglicht den Zusammenschluss von vielen Gehirnen, allerdings ohne wechselseitige Kommunikation. Die "Cerebromatik" gar soll gleich das Gehirn, seine Bewusstseinstätigkeit verändern, ohne dass Lem allerdings ein Beispiel für diese weitreichende Einflussnahme liefert.

Prozessebene: Genom

Lem ist sichtlich beeindruckt von der Komplexität der genetischen Reproduktion. Für manchen zeitgenössischen Leser wird aber gewöhnungsbedürftig sein, mit welchem technischen Interesse in der "Summa" von Eingriffen in den genetischen Code die Rede ist.

Erst wenn wir imstande sein werden, als Schöpfer mit der Natur zu konkurrieren, wenn wir gelernt haben werden, sie zu imitieren, um dadurch all die Begrenzungen zu entdecken, denen sie als Konstrukteur unterliegt, erst dann werden wir das Reich der Freiheit betreten, in dem die Manöver der schöpferischen Strategie unseren Absichten gehorchen.

Stanislaw Lem

Die Evolution habe beispielsweise Millionen Jahre an dem komplexen "Apparat" Spermium gearbeitet. Man könne diesen verbessern und neue Merkmale der Vererbung festlegen. Die mangelnde Regenerationsfähigkeit des Organismus könnte ausgeglichen werden. Lem will zwar keine "synthetische Menschheit" konstruieren, aber erst in der später erschienenen Schrift "Phantastik & Futurologie" hat er zu Recht vor den "Labyrinthen" einer gestalterischen Omnipotenz gewarnt. In der "Summa" benennt er als Zielvorstellung klar die "vollkommene Herrschaft des Menschen über sich selbst". Er betrachtet den Vererbungsprozess nüchtern als informationellen Vorgang, bei dem der genetische Code mit großen Mengen an Informationen operiert.

Lem verleiht dem Thema der Vererbung aber noch eine weitere Dimension, die teilweise an das erinnert, was unter dem Topos Artificial Life diskutiert wird, aber doch darüber hinausweist. Er will Mechanismen der Evolution wie Mutation und Selektion direkt auf die Genese von Informationen aus der Umwelt anwenden. "Es geht darum, Informationen ohne Vermittlung von menschlichen oder elektronischen Gehirnen aus der Natur zu 'extrahieren', um so etwas wie eine 'Informationszucht' bzw. eine 'Evolution der Information' zu schaffen."

Diese bewusst initiierte Züchtung von Informationen soll also ohne Vermittlung von höheren Instanzen wie menschlichen oder künstlichen Gehirnen ablaufen, die zuvor das zu bearbeitende Wissen filtern. Nicht das menschliche Gehirn sei das Modell, sondern das Erbplasma wegen seines Informationsüberflusses. Zweck sei es, aus der Umwelt immer mehr strukturelle Information zu sammeln.

Während aber der Organismus sich selbst und der Evolution, also der eigenen Existenz und der Arterhaltung dienen soll, sollen die 'Gebilde' der Informationszucht uns dienen. Dementsprechend muss das Gesetz der Bioevolution, dem zufolge derjenige überlebt, der am besten an das Milieu angepasst ist, bei unserer Zucht durch das Gesetz abgelöst werden: 'Es überlebt das, was am genauesten das Milieu ausdrückt'.

Stanislaw Lem

In der informationellen Evolution könnte dann die Methode der Vererbung erworbener Merkmale nach Lamarck zur Anwendung kommen. Der Prozess der biologischen Entwicklung werde umgekehrt, die Forscher würden einen sich selbst organisierenden Informationsprozess in Gang setzen als biotechnologische Vision der Automatisierung der Erkenntnisproduktion. Das Ergebnis - die Theorie - sei dann in dem entstandenen künstlichen Organismus dargestellt. Das bleibt vom heutigen Standpunkt abstrakt, ist aber eine interessante Konsequenz seiner Überlegungen.

Lem konzipiert noch eine weitere Anwendung. Es werde möglich sein, die Daten einer zu bauenden Maschine in künstliche Organismen einzuführen, um diese dann wachsen zu lassen. "Man kann sich indessen eine 'Arbeits-Samenzelle' vorstellen, die außer der Information, wie das Objekt aussehen soll und wie sie dabei vorzugehen hat, zusätzlich die Information besitzt, wie sie Materialien aus der Umgebung (zum Beispiel auf einem anderen Planeten) zu dem benötigten Baustoff verarbeiten kann." Es handelt sich um eine "panbiotechnologische Vision", die an Effekte der Nanotechnologie denken lässt, deren molekulare Technik aber noch einige Stufen darunter angesiedelt ist.

Prozessebene: Materie

Das Credo der "Summa" ist, dass die Menschheit lernen werde, alles Existierende selbst zu erzeugen. "Pantokreatik" nennt Lem die Idee von der Erreichung aller künstlichen Ziele. Das ist ein enorm weit gesteckter Anspruch, den einige Leser sicher als Anmaßung empfinden. Aber es sind ernst zu nehmende Gedanken mit diesem Konzept verbunden. Die Natur ist - bei allen genannten Problemen - ein effizienter Baumeister, wobei sie eine enorme Universalität erreicht hat.

Letzten Endes ist die 'Technologie' der belebten Materie unserer menschlichen Ingenieurstechnologie samt ihrer Grundlage von gesellschaftlich errungenen theoretischen Erkenntnisschätzen bis heute haushoch überlegen.

Stanislaw Lem

Der Vorteil der bewusst gesteuerten Technoevolution allerdings ist, dass sie in der großen Perspektive eine vergleichbare Universalität erreichen kann und mehr. "Wir können die Unterschiede zwischen dem 'Künstlichen' und dem 'Natürlichen' verschwinden lassen, und zwar in der Weise, dass das 'Künstliche' zunächst vom Natürlichen ununterscheidbar wird und es anschließend übertrifft." Zu solchen Zwecken werden in der kosmisch ausgeweiteten technologischen Zivilisation eine breite Palette von Werkzeugen zur Verfügung stehen - von einem "atomaren Synthetisator" bis hin zu einer Maschine zur Steuerung der Energieproduktion einer Sonne.

Lem entwirft als eine weitere grenzwertige spekulative Perspektive die Automatisierung der Manipulation von Umwelt, gegenwärtige KI-Diskussionen um einiges hinter sich lassend. Allgemein unterteilt er Sprachen auf einer Skala: auf der einen Seite der "bewirkende Pol", auf der anderen der "verstehende". "Die natürliche Sprache nimmt auf dieser Skala einen Platz unweit des 'verstehenden' Pols ein, die Sprache des Physikalismus steht irgendwo in der Mitte, und die Sprache der Vererbung liegt direkt am 'bewirkenden' Pol."

Die bewirkende Sprache, die eben bisher Domäne der biologischen Evolution ist, gehe von der molekularen Ebene aus hin zur makroskopischen, indem ein Mensch aufgrund seiner genetischen Bedingtheit sich herausbildet. Demgegenüber entstehe die natürliche Sprache auf der makroskopischen Ebene und gehe in der Praxis der Bezeichnung über sie hinaus in die Richtung von Mikro- und Makrokosmos, da ein entwickeltes menschliches Wesen eine Zeichensprache lernen kann, mit der es entfernte Objekte in Raum und Zeit erfasst. Mit anderen Worten: Ein Ingenieur baut in seinem Kopf ein sprachlich vermitteltes Modell und setzt dieses mithilfe von Werkzeugen in einer Bearbeitung von Naturstoff um. Um diese sprachlichen Umständlichkeiten zu vermeiden und eine weitergehende Genauigkeit zu erreichen, müsse die über die Menschen vermittelte verstehende Sprache – mithilfe von autonomen Informationsmaschinen –, "die bewirkenden Sprachen des nächsten Wurfs" produzieren, die wiederum ihre Erzeuger und deren Grenzen des Verstehens überschreiten werden. So sei eine höhere Stufe der Gestaltungskomplexität, ein größerer sprachlicher Reichtum zu gewinnen, so wie die freibezügliche symbolische Sprache reicher sei als die eingefasste der genetischen Codes.

Insofern gehen diese Überlegungen weiter als seine oben genannte Informationszüchtung. Lem kann also in der Konsequenz als Entdecker einer intentional-erzeugenden Sprache gelten, einer instantan-operativen Generator-Sprache. Um seine bisher unterschätzten Ideen zur "Ingenieurskunst der Sprache" zu erwähnen:

"Wenn es gelingt, unter der Aufsicht von sich selbst organisierenden Gradienten die von endlichen Automaten hervorgebrachten Algorithmen mit den aus den Phänomenen fließenden nichtalgorithmischen Informationsströmen zu kreuzen, wird die bewirkende Sprache aufhören, eine verstehende Sprache zu sein, (…) Die verstehende Sprache wird übrigbleiben als Beobachterin der von den gnostischen Automaten geführten Informationsfeldzüge." Das wäre ein weiterer Abgesang auf die menschliche Verfasstheit. Die komplexe Manipulation der Umwelt wird eins mit ihrer komplexen gedanklichen Durchdringung sein und unmittelbar Effekte erzeugen - als neuartiger "Prozess ohne Subjekt". Der Computer-Code kann als Vorschein dieser Entwicklung gelten.

Prozessebene: Kosmos

Die technologische Zivilisation ist extrem anfällig für große Naturkatastrophen. "Gegenüber klimatischen Störungen, Erdbeben und der seltenen, aber realen Gefahr des Herabstürzens großer Meteore ist der Mensch im Grunde genauso hilflos wie in der letzten Eiszeit." Weitere Gefahren sind im interstellaren Bezugssystem auszumachen, spätestens dann, wenn das Sonnensystem wieder in turbulentere Bereiche der eigenen Galaxie eindringt. Insofern wird eine technische Gefahrenabwehr notwendiger Bestandteil dieser Zivilisation werden müssen, in welchem Zeitraum auch immer.

Lem spekuliert darüber, ob kosmische Zivilisationen eine expansive Entwicklung durchlaufen haben mögen, in deren Verlauf sie eine "immer umfassendere Beherrschung von Materie und Raum" erreicht haben. Der höchste Freiheitsgrad, den eine solche Zivilisation erlangen könne, sei die Selbsterzeugung kosmischer Materie. Sie plane ihre Aktivitäten über Milliarden Jahre und diese könnten unter Umständen die "Evolution des gesamten Weltalls" beinhalten.

Eine "Relativitätstheorie" der technischen Zivilisation

Es ist schwer zu sagen, inwieweit die "Summa" eine Wirkung gezeitigt hat. Eine Rezeptionsgeschichte lässt sich kaum ausmachen, was Lem zu seinen Lebzeiten bedauert hat. Vor drei Jahren ist die erste englische Übersetzung [2] herausgekommen, die wohl auf ein gewisses Interesse in den USA gestoßen ist. Vor fünfundzwanzig Jahren wurde das Kapitel zur Phantomatik gelegentlich als Referenz in den ersten Diskussionen um die Virtuelle Realität erwähnt, obwohl das phantomatische Konzept weit über diese hinausgeht.

Das Werk ist entstanden am Schnittpunkt von Technik, Philosophie und Science Fiction, was seine Lektüre nicht einfach macht. Beim Lesen ist man gezwungen, einen Wechsel der Bezugssysteme zu akzeptieren. Auch wenn dieses Vorhaben an manchen Stellen aus heutiger Sicht unbefriedigend bleibt, so beeindruckt die "Summa" nach wie vor durch ihren Anspruch und die Stringenz in der Gestaltung. So kann das Buch seine Entstehungszeit nicht verbergen, es strotzt vor kybernetischem Vokabular. Viele Themen, die seitdem in der Technikdiskussion aufgetaucht sind, sind nicht von Lem vorgedacht worden: große vernetzte Systeme oder Mobilkommunikation beispielsweise.

Das Buch liefert keine Gebrauchsanweisung für das Erfinden zukünftiger Artefakte, sondern stellt eine Aufforderung dar, einen Entwicklungszusammenhang in seinen verschiedenen Dimensionen zu verstehen, dabei über den Tageshorizont hinaus zu denken und die eigene Vorstellungskraft zu trainieren. Lem zieht eine großteilige Denkweise vor, wodurch Themen mit fortlaufender Gültigkeit angesprochen werden. Das Buch erinnert den Leser daran, dass es verschiedene Zeitlichkeiten, verschiedene Bezugssysteme gibt, in denen Gesetze walten, die seine Existenz bestimmen - diese Gesetze sind unterschiedlich angelegt und unterschiedlich beeinfluss- bzw. gestaltbar. Insofern hat er ein Denken auf mehreren Ebenen vorbereitet, ein Denken, das sich langsam allgemein verbreitet. In Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit der irdischen Problemlagen ist eine solche Orientierung - bei allen zeitgebundenen Irrtümern - ein notwendiges Korrektiv zur tagesaktuellen Agenda. Was gegenwärtig strukturell von Bedeutung zu sein scheint, relativiert sich bei größerem zeitlichen und räumlichen Abstand.

Ob Lem nun Konzepte wie Nanotechnologie, Virtuelle Realität oder Artificial Life exakt vorhergesagt hat, bleibt eine Frage der Interpretation (in späteren Werken hat er technische Neuerungen kommentiert, die seit Erscheinen des Buches entstanden sind). Oftmals klingen solche Zuschreibungen in der Öffentlichkeit eher nach einer nachträglichen Versicherung, als dass man in dem Buch etwas wiedererkannt hat, was mittlerweile selbstverständlicher Diskussionsgegenstand ist, ohne sich mit seiner eigentlichen Theorie-Leistung auseinandersetzen zu müssen. Auch nach fünfzig Jahren ist die "Summa" für jeden an Zukunftsthemen Interessierten eine Provokation.


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