Panorama der Technoevolution
Zur Abstufung zukünftiger künstlicher Prozesse in der "Summa technologiae" von Stanislaw Lem
Das Sachbuch "Summa technologiae" des Science Fiction-Autors Stanislaw Lem aus dem Jahr 1964 ist als sein technikphilosophisches Hauptwerk anzusehen. Deutschsprachige Ausgaben waren lange Zeit vergriffen; 2013 ist eine eBook-Ausgabe erschienen. Im gleichen Jahr kam in den USA die erste englische Übersetzung heraus. Dieser liegt die revidierte Fassung zugrunde, die 1976 auf Deutsch veröffentlicht wurde.
Rund fünfzig Jahre nach seiner ersten Publikation in Polen ist das Werk in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Dabei liefert Lem eine Art Gerüst, in das Vieles von dem, was Jahrzehnte später unter Stichworten wie Artificial Life oder Nanotechnologie diskutiert worden ist, eingefügt werden kann, ohne dass er selbst schon hätte diese Leerstellen füllen können. Das Werk stellt den ideengeschichtlich einzigartigen Versuch dar, eine systematische und erschöpfende Aufzählung zukünftiger Existenzmöglichkeiten einer technologischen Zivilisation zu leisten. Das fängt an bei der Prothetik von Körperteilen, geht über die vielfältige Nachahmung der Natur in einer "Ingenieurskunst" des Lebens bis hin zu einer künstlichen Informationszucht.
Lem skizziert ein großes Bild der weitestgehenden Kontrolle über die Materie des Körpers und über die der Umwelt. Am Ende steht für Lem die Wissenschaft von der Erreichung aller künstlichen Ziele durch vernunftbegabte Wesen in Mikro- und Makrokosmos - die umfassende Vision einer "Pantokreatik".
Die Methode Lems
Die "Summa" ist - so viel sei gleich zu Beginn gesagt - kein Buch über sämtliche Möglichkeiten der Technologie, weil das von der Sache her gar nicht leistbar wäre. Lem stellt technische Eingriffschancen verteilt über die ganze Skala von kleinsten bis hin zu größten Dimensionen dar. Obwohl die präsentierten Ergebnisse hochspekulativ bleiben, sind sie doch wissenschaftlich begründet.
Lem ist kein Fachspezialist: Er ist weder Biologe noch Informatiker, sondern ein Generalist, also am ehesten noch als Philosoph zu bezeichnen. Er strebt danach, übergreifende Gesetzmäßigkeiten zwischen Sachverhalten unterschiedlicher (Größen)Ordnung zu identifizieren und nimmt dazu den größtmöglichen abstrakten Standpunkt ein. Er blickt gewissermaßen von ganz "oben" auf die menschliche Geschichte, auf die Geschichte der Biosphäre, ja, auf die Geschichte des Kosmos selbst. Sein Leitmodell ist die biologische Evolution - ein hochproduktiver, aber ungesteuerter Vorgang, der sich seit Milliarden Jahren auf der Erde vollzieht.
Er nimmt an, dass es zu einem Zusammengehen, zu einer zunehmenden Verschränkung von Sozio-/Technoevolution und Bioevolution kommen werde. "Die lebenden Organismen in der Biologie und die aufeinanderfolgenden Industrieprodukte in der technischen Zivilisation bilden lediglich winzige Teilchen jener übergeordneten Prozesse."
Für die Menschheit sieht er die Option, einen immer besseren Zugriff auf Informationsprozesse im Körper, im Gehirn und in der natürlichen Umwelt erreichen zu können und damit die Chance zu ihrer (Neu)Konstruktion und Steuerung zu erlangen. Lem führt ein ganzes Spektrum von Prozess-Ebenen vor, die ineinander verschachtelt sind und miteinander rückgekoppelt werden. So gibt es Rückwirkungen der Technoevolution auf das Funktionieren der Gesellschaft und die Psyche des Einzelnen. "Die Technologie ist aggressiver, als wir gemeinhin glauben. Ihre Eingriffe in das Seelenleben und die mit der Synthese und der Metamorphose der Persönlichkeit zusammenhängenden Probleme sind lediglich derzeit noch eine leere Klasse von Ereignissen. Der weitere Fortschritt wird sie ausfüllen." Ungeachtet dessen informationelle Organisation dieser Ebenen soll verbreitert werden, wobei der Aspekt der Informationsverarbeitung quer angelegt ist.
Lems Buch ist ein Produkt des kybernetischen Zeitalters, das vor einem halben Jahrhundert auch auf große Resonanz in der Öffentlichkeit stieß. Die Technoevolution führe zu einer "Komplexität, deren Anwachsen uns vor Augen geführt hat, dass unsere nächstliegende Hauptaufgabe in der Regelung besteht". In der Gegenwart wird man solchen umfassenden Regelungsvorstellungen erst einmal wenig Verständnis entgegenbringen. Man sollte sie aber nicht als historisches Zitat bewerten, sondern als Teil einer soziotechnischen "Großerzählung", die Prozesse der Evolution in solche der Kultur und der Technologie übersetzt, um für letztere einen ähnlich weit aufgespannten Entfaltungsraum zu entwerfen.
Zu seiner Methode sei noch gesagt, dass der gedankliche Raum für Fragen und Antworten von vornherein nicht zu stark eingeschränkt werden sollte. Wie Lem an einer Stelle als Dilemma der Wissenschaft formuliert hat: Zu strenge Kriterien könnten die Offenheit für die Suche beispielsweise nach einer abstrakten Idee wie der "Astroingenieurskunst" unterbinden. Ferner benutzt er umfangreiches Wissen aus den Grenzbereichen der Wissenschaft (auf dem Stand seiner Zeit) auf eine Weise, die man heute interdisziplinär nennen würde.
Lem entscheidet sich für diejenigen Wissenselemente, die er in seinen großflächigen Bezugssystemen gebrauchen kann. Er baut gewissermaßen Gitterstrukturen auf, die je nach Bedarf ergänzt werden. Insofern stellt das Buch eine Anregung dar in einer Zeit, in der die Wissenschaften angesichts der Problem-Komplexität drohen, sich in immer kleinere Diskursbereiche zurückzuziehen. Die Gefahr des Eklektizismus, dass verschiedene Elemente aus Wissenschaftsbereichen zusammengewürfelt werden, ist gegeben. Aber dieser Gefahr kann man begegnen und man muss sie konkret am Text diskutieren.
Sein Vorgehen kann man provosorisch als prozess-orientiert beschreiben, da er seine Argumentation auf mehreren Ebenen anlegt. Lem springt ständig auf einem graduellen Spektrum von Bezugssystemen der Erklärung hin und her und kann so eine ganze Kette von Bedingungen anführen. Um die Entstehung des irdischen Lebens zu beschreiben, nennt er beispielsweise Faktoren wie schwächere Gravitation, relativ konstante kosmische Strahlung, Variabilität der Umwelt und weitere Zufallsfaktoren, er überwindet also die planetarische Binnenperspektive. Prozess-orientiert auch deshalb, weil Lem die Entstehung und die Vergänglichkeit von diversen Formen der Bio- oder der Sozioevolution betont. Sie sind für bestimmte Phasen der Genese bedeutend, auf lange Sicht aber eben nicht. Man solle auch nicht nach irdischen Maßstäben allein messen, als Potenzierung allein menschlicher Möglichkeiten.
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