"Papiertiger Russland" und "Doppelmoral gegenüber Washingtons Kriegsverbrechern"
Seite 3: Mythos Papiertiger, der die Welt erobert: Gut für die Rüstungsindustrie
- "Papiertiger Russland" und "Doppelmoral gegenüber Washingtons Kriegsverbrechern"
- Geteilte Empörung: "Kriegsverbrecher, die in Washington herum spazieren"
- Mythos Papiertiger, der die Welt erobert: Gut für die Rüstungsindustrie
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Ich habe ein kleines Rätsel für Sie. Es besteht aus zwei Teilen. Russlands Militär ist unfähig und inkompetent. Seine Soldaten haben eine sehr niedrige Moral und werden schlecht geführt. Seine Wirtschaft ist mit der Italiens und Spaniens vergleichbar. Das ist der eine Teil. Der andere Teil ist, dass Russland ein militärischer Koloss ist, der uns zu überwältigen droht. Wir brauchen also mehr Waffen. Erweitern wir die Nato, heißt es. Wie bringen Sie diese beiden widersprüchlichen Gedanken unter einen Hut?
Noam Chomsky: Diese beiden Gedanken sind westliche Standardmeinung. Ich hatte gerade ein langes Interview in Schweden über die Pläne des Landes, der Nato beizutreten. Ich habe darauf hingewiesen, dass die schwedische Führung zwei widersprüchliche Ideen vertritt, die beiden von Ihnen genannten. Zum einen freuen sie sich darüber, dass Russland sich als Papiertiger erwiesen hat, der keine Städte erobern kann, die nur ein paar Kilometer von seiner Grenze entfernt sind und von einer größtenteils aus Bürgern bestehenden Armee verteidigt werden. Sie sind also militärisch völlig inkompetent. Der andere Gedanke ist: Sie sind drauf und dran, den Westen zu erobern und uns zu vernichten.
George Orwell hatte einen Namen dafür. Er nannte es "doublethink", die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Ideen im Kopf zu haben und an beide zu glauben. Orwell dachte fälschlicherweise, dass dies nur in einem ultra-totalitären Staat möglich sei, den er in 1984 persiflierte. Er irrte sich. Das kann man auch in freien demokratischen Gesellschaften haben. Ein dramatisches Beispiel dafür erleben wir gerade jetzt. Übrigens ist das nicht das erste Mal.
Eine solche Doppeldenk-Struktur ist zum Beispiel charakteristisch für das Denken im Kalten Krieg. Gehen Sie zurück zum wichtigsten Dokument des Kalten Krieges jener Jahre, dem Strategiepapier des National Security Council NSC-68 von 1950. Wenn man es sich genau ansieht, zeigt es, dass Europa allein, ganz abgesehen von den Vereinigten Staaten, Russland militärisch ebenbürtig war. Aber natürlich mussten wir trotzdem ein riesiges Aufrüstungsprogramm durchführen, um den Welteroberungsplänen des Kremls zu begegnen.
Es war ein bewusster Ansatz. Dean Acheson, einer der Autoren, sagte später, dass es notwendig sei, "klarer als die Wahrheit" zu sein, wie er es ausdrückte, um das Massenbewusstsein der Regierung zu erschüttern. Wir wollen diesen riesigen Militärhaushalt durchsetzen, also müssen wir "klarer als die Wahrheit" sein, indem wir einen Sklavenstaat erfinden, der im Begriff ist, die Welt zu erobern. Dieses Denken zieht sich durch den gesamten Kalten Krieg. Ich könnte Ihnen noch viele andere Beispiele nennen, wir sehen es jetzt wieder auf ganz dramatische Weise. Sie formulieren richtig: Der Westen ist manisch besessen von beiden Ideen, zugleich.
Interessant ist auch, dass der Diplomat George Kennan in einem sehr vorausschauenden Meinungsartikel, der 1997 in der New York Times erschien, die Gefahr einer Ostverschiebung der Nato-Grenzen voraussah.
Noam Chomsky: Kennan stellte sich auch gegen den NSC-68. Tatsächlich war er der Direktor des Planungsstabs des Außenministeriums. Er wurde entlassen und durch Paul Nitze ersetzt. Kennan wurde als zu weich für die harte Welt angesehen. Er war ein Falke, radikal antikommunistisch, selbst ziemlich brutal in Bezug auf die Positionierungen der USA, aber er erkannte, dass eine militärische Konfrontation mit Russland keinen Sinn macht.
Russland, so dachte er, würde letztlich an inneren Widersprüchen zusammenbrechen, was sich als richtig erwies. Aber er galt durchweg als "Taube" in der Regierung. 1952 sprach er sich für die Wiedervereinigung Deutschlands außerhalb des Nato-Militärbündnisses aus. Das war eigentlich auch der Vorschlag des sowjetischen Machthabers Joseph Stalin. Kennan war Botschafter in der Sowjetunion und ein Russland-Spezialist.
Es war also Stalins Initiative und Kennans Vorschlag. Einige Europäer unterstützten ihn. Es hätte den Kalten Krieg beendet und ein neutralisiertes Deutschland bedeutet, nicht-militarisiert und nicht Teil eines Militärblocks. In Washington wurde der Vorschlag fast völlig ignoriert.
Es gab einen angesehenen Spezialisten für Außenpolitik, James Warburg, der ein Buch darüber schrieb. Es ist lesenswert. Es heißt Deutschland: Schlüssel zum Frieden. Darin drängt er darauf, dass diese Idee ernst genommen wird. Warburg wurde nicht beachtet, ignoriert, verspottet. Ich habe es ein paar Mal erwähnt und wurde auch als Verrückter verspottet. Wie kann man Stalin trauen?
Schließlich wurden die Archive geöffnet. Es stellte sich heraus, dass Stalin es offenbar ernst meinte. Wenn Sie heute die führenden Historiker des Kalten Krieges lesen, Leute wie Melvin Leffler, dann erkennen die an, dass es damals eine echte Chance für eine friedliche Lösung gab, die zugunsten einer Militarisierung, einer enormen Ausweitung des Militärhaushalts, verworfen wurde.
Kommen wir nun zur Kennedy-Regierung. Als John Kennedy sein Amt antrat, unterbreitete Nikita Chruschtschow, der damalige russische Staatschef, ein sehr wichtiges Angebot zur gegenseitigen Reduzierung der offensiven militärischen Waffen in großem Umfang, was eine deutliche Entspannung der Lage bedeutet hätte.
Die Vereinigten Staaten waren damals militärisch weit voraus. Chruschtschow wollte die wirtschaftliche Entwicklung Russlands vorantreiben und verstand, dass dies im Kontext einer militärischen Konfrontation mit einem ökonomisch weitaus entwickelteren Gegner unmöglich war. Daher unterbreitete er das Angebot zunächst Präsident Dwight Eisenhower, der darauf nicht einging.
Dann wurde es Kennedy angeboten, und seine Regierung reagierte darauf mit der historisch größten Aufrüstung in Friedenszeiten – obwohl sie wusste, dass die Vereinigten Staaten Russland weit überlegen waren.
Die USA erfanden daher eine "Raketenlücke". Russland sei im Begriff, uns mit seinem überwältigenden Raketenarsenal auszulöschen. Als die Raketenlücke überprüft wurde am Ende des Tages, stellte sich heraus, dass sie zu Gunsten der USA war.
Man kann die Liste fortführen. Die Sicherheit der Bevölkerung ist den politischen Entscheidungsträgern einfach nicht wichtig. Sicherheit für die Privilegierten, die Reichen, den Unternehmenssektor, die Waffenhersteller, ja, aber nicht für den Rest von uns. Dieses Doppeldenken ist ständig vorhanden, manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Es ist genau das, was Orwell beschrieben hat: Hyper-Totalitarismus in einer freien Gesellschaft.
In einem Artikel in Truthout zitieren Sie Eisenhowers "Cross-Of-Iron"-Rede von 1953. Was fanden Sie daran interessant?
Noam Chomsky: Sie sollten sie lesen und Sie werden sehen, warum sie interessant ist. Es ist die beste Rede, die er je gehalten hat. Das war 1953, als er gerade sein Amt antrat. Im Grunde wies er darauf hin, dass die Militarisierung ein enormer Angriff auf unsere Gesellschaft sei. Er – oder derjenige, der die Rede geschrieben hat – hat es ziemlich eloquent ausgedrückt. Ein Düsenflugzeug bedeutet so und so viele Schulen und Krankenhäuser weniger. Jedes Mal, wenn wir unseren Militärhaushalt aufstocken, greifen wir uns selbst an.
Er hat das sehr ausführlich dargelegt und eine Kürzung des Militärhaushalts gefordert. Er selbst hatte eine ziemlich miserable Bilanz, aber in dieser Hinsicht traf er genau ins Schwarze. Und diese Worte sollten sich in unser aller Gedächtnis einprägen. Kürzlich hat Biden nämlich einen riesigen Militärhaushalt vorgeschlagen. Der Kongress hat ihn sogar über seine Wünsche hinaus aufgestockt, was einen massiven Angriff auf unsere Gesellschaft darstellt, genau wie Eisenhower es vor so vielen Jahren erklärt hat.
Der Vorwand ist erneut, dass wir uns gegen diesen Papiertiger verteidigen müssen, der militärisch so inkompetent ist, dass er sich nicht einmal ein paar Meilen über seine Grenze hinaus bewegen kann, ohne zusammenzubrechen. Also müssen wir uns mit einem monströsen Militärbudget selbst schwer schaden und die Welt gefährden, indem wir enorme Ressourcen vergeuden, die notwendig wären, um die schweren existenziellen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, bewältigen zu können.
In der Zwischenzeit lassen wir Steuergelder in die Taschen derjenigen fließen, die fossile Brennstoffe produzieren, damit sie die Welt weiterhin so schnell wie möglich zerstören können. Das ist es, was wir mit der enormen Ausweitung sowohl der Produktion fossiler Brennstoffe wie auch der Militärausgaben erleben.
Es gibt Menschen, die darüber glücklich sind. Gehen Sie in die Chefetagen von Lockheed Martin und ExxonMobil, sie sind begeistert. Für sie ist es eine Goldgrube. Sie werden sogar gelobt dafür. Sie werden gelobt, dass sie die Zivilisation retten wollen, indem sie die Möglichkeit für Leben auf der Erde zerstören. Vergesst den globalen Süden! Wenn man sich vorstellt, dass Außerirdische, sollte es sie geben, uns beobachten, sie würden uns alle für völlig verrückt halten. Und sie hätten Recht.
Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) auf Deutsch: "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).
David Barsamian ist der Gründer und Moderator des Radioprogramms Alternative Radio und hat unter anderem Bücher mit Noam Chomsky, Arundhati Roy, Edward Said und Howard Zinn veröffentlicht. Sein neuestes Buch mit Noam Chomsky ist Chronicles of Dissent (Haymarket Books, 2021). Das 1986 gegründete Alternative Radio ist ein wöchentliches einstündiges öffentlich-rechtliches Programm, das allen öffentlichen Radiosendern in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa kostenlos zur Verfügung steht.