"Pestizid-Tirol": Giftorgien im Apfelparadies

Sehen harmlos aus: Vinschgauer Äpfel. Archivbild: Erwin Lindemann / CC0 1.0
Umweltinstitut hat Pestizid-Behandlungen in Vinschgau ausgewertet. Cocktail-Effekte könnten die Gesundheit vielfach schädigen. Dabei gibt es Sorten, die fast nicht gespritzt werden müssen.
Südtirol ist Europas größtes zusammenhängendes Obstanbaugebiet. Hier wird ein Zehntel der europaweiten Apfelernte produziert. Hier liefern Apfelplantagen auf rund 18.000 Hektar jährlich rund 930.000 Tonnen Ertrag. [1]
Beim Integrierten Kernobstbau handelt es sich um eine naturnahe und nachhaltige Anbauweise, bei welcher der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt im Vordergrund stehen. Der Einsatz chemisch-synthetischer Mittel werde auf ein Minimum reduziert. Natürliche Pflegemaßnahmen werden bevorzugt, da sich diese positiv auf die Obstanlage und die Umwelt auswirken. So steht es jedenfalls in den Richtlinien [2], denen sich die Obstbauern im Vinschgau in Südtirol verpflichtet haben.
Die Praxis sieht anders aus: In den intensiv bewirtschafteten Apfelplantagen werden viel zu oft in zu hohen Mengen chemisch-synthetischer Pestizide eingesetzt. Zwischen März und Anfang September 2017 wurde im Vinschgau jeden Tag gespritzt. Zu diesem Schluss kommt ein aktueller Bericht des Umweltinstituts München [3].
Insgesamt wurden 590.000 Pestizideinsätze in der Saison des Jahres 2017 dokumentiert. Dafür wurden die Daten von 681 Apfelanbaubetrieben aus der Region Vinschgau ausgewertet [4]. Zu annähernd 90 Prozent wurden die Behandlungen mit chemisch-synthetischen Substanzen durchgeführt. Es würden nur noch gezielt wirkende Mittel mit geringerer Wirkungsstärke eingesetzt, die dafür präziser auf den Schadorganismus wirkten, verteidigt das Südtiroler Apfelkonsortium, Dachverband aller Erzeugergenossenschaften, die Spritzeinsätze [5].
Aber stimmt das wirklich? Dem Bericht zufolge wurde eine Apfelplantage im Durchschnitt 38 Mal mit Pestizidwirkstoffen behandelt, in einigen Fällen sogar mehr als 50 Mal. Dabei kamen hochproblematische Pestizide zum Einsatz. Von den insgesamt 83 eingesetzten Pestizidwirkstoffen standen zum fraglichen Zeitpunkt 17 besonders giftiger Wirkstoffe auf der offiziellen EU-Liste der Substitutionskandidaten. Diese machten im untersuchten Zeitraum 13 Prozent aller Pestizidanwendungen aus.
Zudem wurden häufig mehrere Wirkstoffe gleichzeitig ausgebracht. Eines der am häufigsten verwendeten Mittel war Etofenprox [6]. Das synthetische Insektizid gefährdet neben Schadinsekten auch Wasserorganismen, Honigbienen und Nützlinge. Auch das bienengefährliche Neonicotinoid Thiacloprid [7] wurde von rund zwei Drittel der untersuchten Betriebe verwendet.
Nicht nur für die Umwelt, auch für die Menschen sind die Pestizidwirkstoffe extrem gesundheitsschädlich. Gleich mehrere der am häufigsten in der EU eingesetzten Pestizidwirkstoffe werden als fortpflanzungsschädigend eingestuft: Penconazol, Fluazinam und Phosmet. Darüber hinaus werden Bupirimat und Captan von der Internationalen Krebsforschungsagentur als "wahrscheinlich krebserregend" klassifiziert.
Glyphosat, das die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation ebenfalls als ‚wahrscheinlich krebserregend‘ eingestufte, wurde am fünfthäufigsten in den Apfelplantagen gespritzt. Zum Einsatz kam auch das inzwischen verbotene Chlorpyrifosmethyl, das die Gehirnentwicklung von ungeborenen Kindern schädigen kann.
Cocktail-Effekt: Wenn Wirkstoffe sich gegenseitig verstärken
Mit Abstand am häufigsten kamen Fungizide zum Einsatz, gefolgt von Insektiziden und Akariziden (gegen Spinnmilben) sowie Wachstumsregulatoren, wie aus grafischen Darstellungen hervorgeht [8]. Mehr als 90 Prozent der untersuchten Betriebe setzten Herbizide wie das umstrittene Glyphosat zur Bekämpfung von Unkraut ein. Dabei wäre gerade Glyphosat im Obstanbau zuallererst verzichtbar. Denn Grasbewuchs lässt sich auch mechanisch kürzen.
Ihren Einsatz von Spritzmitteln begründeten die Obstbauern vor allem mit Pilzkrankheiten wie Apfelschorf und Mehltau. Die chemischen Mittel wurden jeweils zu 84 Prozent gegen Apfelschorf und zu 86 Prozent gegen Mehltau eingesetzt. Zudem ist Apfelschorf ein rein optischer Makel, der weder Qualität noch Geschmack beeinträchtigt.
Dabei könnten Pilzkrankheiten über die Wahl besonders widerstandsfähiger Apfelsorten vermieden werden. Und viele der so genannten Schadinsekten werden durch "nützliche" Insekten in Schach gehalten. Stattdessen kamen bei einem Viertel aller Pestizidbehandlungen Wirkstoffe zum Einsatz, die besonders schädlich auf natürliche Gegenspieler von Schädlingen wie bestimmte Raubmilben und Schlupfwespen wirken. So entsteht ein fataler Teufelskreis. Je weniger natürliche Gegenspieler vorkommen, desto mehr Pestizide müssen zur Bekämpfung der Schädlinge eingesetzt werden. Abgesehen davon nimmt die biologische Vielfalt Schaden.
Dass am selben Tag bis zu neun verschiedene Mittel auf eine Plantage kamen, finden die Autoren besonders bedenklich. Welche Wechselwirkungen sich für Mensch und Umwelt bei der Mischung verschiedener Pestizidwirkstoffe ergeben, ist kaum erforscht und wird bei der Zulassungsverfahren bisher kaum berücksichtigt. Allerdings gibt es deutliche Hinweise, dass verschiedene Pestizide in Kombination miteinander verstärkt wirken können.
Gefährliche Pestizide müssen verboten werden
38 Anwendungen von Pestiziden in einer Saison sind sehr, sehr viel, konstatiert Ralf Schulz. Die Begriffe "naturnah" und "chemisch-synthetische Pestizide" seien kaum vereinbar, denn handelt es sich um Chemikalien, die es so in der Natur nicht gibt. Der Umweltwissenschaftler an der Rheinland-Pfälzischen TU Kaiserslautern-Landau erforscht unter anderem, wie Pestizide unser Ökosystem beeinflussen [9].
Der hohe Pestizideinsatz in den Vinschgauer Apfelplantagen stehe im krassen Widerspruch zu einer naturnahen und nachhaltigen Anbauweise. Das Zertifikat "integrierter Obstanbau" diene mehr Marketingzwecken als dem Wohl von Umwelt und Gesundheit, so die Kritiker. Man könnte es auch getrost als Werbelüge bzw. Etikettenschwindel bezeichnen.
Sie fordern ein sofortiges Verbot gefährlichsten Pestizide und alle Herbizide im Südtiroler Obstanbau, insbesondere besonders giftige Wirkstoffe wie Abamectin, Fluazinam, Tebufenpyrad, Difenoconazol, Pendimethalin, Deltamethrin, Flupyradifuron, Pirimicarb und Emamectin-Benzoat.
Zwar werden diese von den EU-Landwirten genau dokumentiert [10], allerdings von den Behörden bislang nicht zentral erfasst, ausgewertet oder gar veröffentlicht. Die Pestizidreduktionsziele seien nur dann glaubwürdig und messbar, wenn der Status Quo als Referenzwert bekannt ist. Zudem müssen Daten über Pestizideinsätze allen Bürgern zugänglich sein, fordern die Umwelt-Experten.
Transparenz sei eine wichtige Voraussetzung für die realistische, wissenschaftliche Beurteilung ihrer Risiken für Umwelt und Gesundheit. Geplant ist daher ein System zur zentralen und einheitlichen elektronischen Erfassung von Pestizideinsätzen. Die Daten sollten in einer Online-Datenbank der Öffentlichkeit detailliert zur Verfügung gestellt werden.
Im Sommer 2017 hatte Karl Bär, Agrarreferent des Umweltinstituts, im Rahmen einer Aufklärungskampagne über den übermäßigen Pestizid-Einsatz im Apfelanbaugebiet Werbeplakate mit dem Schriftzug "Pestizid-Tirol" verfremdet [11].
Rund tausend Südtiroler Obstbäuerinnen und Obstbauern zeigten ihn deshalb wegen übler Nachrede an. Im Laufe des erfolglosen Prozesses gegen die Umweltorganisation beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft Bozen die Daten als Beweismittel. Das Umweltinstitut erhielt Akteneinsicht - ein außergewöhnlicher Vorgang, denn in der EU wird die Verwendung von Pestiziden für Aussenstehende normalerweise nicht einsehbar. Wie die oben erwähnte Auswertung bewies, war die Kritik berechtigt. Deshalb wurde Karl Bär im Mai 2022 von allen Vorwürfen freigesprochen [12].
Die Daten aus dem Vinschgau geben einen brisanten Einblick in die landwirtschaftliche Praxis des intensiven Apfelanbaus. Erstmals wurde öffentlich welche Pestizide wann und in welcher Menge im intensiven Apfelanbau eingesetzt wurden. Eine vergleichbare, detaillierte Auswertung von Pestizideinsätzen in einer bestimmten Region gab es bisher noch nie.
Alte robuste Sorten sind widerstandsfähiger
Jonagold Gala, Granny Smith, Braeburn, Elstar, Pink Lady, Golden Delicious - diese Apfelsorten findet man am häufigsten in deutschen Supermärkten, häufig stammen sie aus Südtirol. Das Problem: Die modernen Züchtungen gehen auf nur wenige Sorten zurück, sind dadurch genetisch verengt und entsprechend anfällig. Infolge dessen leiden sie unter Pilzkrankheiten wie Mehltau, bzw. unter Feuerbrand oder Schorf. Diese Krankheiten werden mit synthetischen Fungiziden bekämpft.
Allein dem Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel ist es zu danken, dass diese anfälligen Sorten ertragreich in genormten Größen angbaut werden können. Allerdings geht in den Neuzüchtungen nicht nur viel Geschmack verloren, die alten Sorten sind häufig auch schorfresistent. Sie kämen auch mit deutlich weniger bzw. ohne Pestizidbehandlungen aus.
Zudem werden alte Sorten von Allergikern häufig besser vertragen. Die Äpfel erfüllen häufig nicht die Standards in Größe, Form und Optik. Und nicht normgerechte Äpfel werden vom Handel abgelehnt. Hier tut ein Umdenken Not - nicht nur im Apfelanbau in Südtirol.
Während im Vinschgau die Apfelmonokulturen mit Pestiziden überfrachtet werden, zeigen Betriebe andernorts, wie es auch gehen kann: Anstatt einheitliches Tafelobst zu produzieren, verarbeiten sie Bio-Äpfel diverser Sorten. So wie auf dem Santerhof [13] in Mühlbach, rund einhundert Kilometer nördlich von Bozen auf biologische Vielfalt: Hier stehen mehr als 5.000 Bäume – bestehend aus 40 robusten Apfelsorten, wie etwa der saftig, säuerlich schmeckende schorfresistente Topaz, der aromatische orangefarbene Pinova oder die süß-säuerliche gelb-rote Florina.
Weitere Sorten sind Gravensteiner, Kanada Renette, Ananas Renette, Steinpepping, Boskop. Aus dem Erntegut wird Apfelsaft hergestellt. Wein- und Tafeltrauben, Birnen, Pflaumen, Zwetschgen und Walnüsse ergänzen die Obstvielfalt am Hof.
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[1] https://www.apfelwelt.it/de/apfelwiki/apfelwirtschaft--2-98.html
[2] http://www.agrios.it/fuer-obstbauern/richtlinien-fuer-den-integrierten-kernobstbau-2020/
[3] https://umweltinstitut.org/wp-content/uploads/2023/01/20230125_Umweltinstitut_Pestizideinsatz-im-Apfelanbau-Ergebnisse.pdf
[4] https://interaktiv.br.de/pestizide-im-apfel-anbau/
[5] https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/pestizide-obstanbau-101.html
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Etofenprox
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Thiacloprid
[8] https://www.infosperber.ch/umwelt/schadstoffe/pestizidbombe-apfel/
[9] https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/pestizide-obstanbau-101.html
[10] https://umweltinstitut.org/wp-content/uploads/2023/01/20230125_Umweltinstitut_Pestizideinsatz-im-Apfelanbau-Ergebnisse.pdf
[11] https://www.ardmediathek.de/video/abendschau/pestizidtirol/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvL2FlYTRmZTNjLWI2MDQtNGY2OS1iNjE4LTYxZmE0OWE1ODU5Yg
[12] https://umweltinstitut.org/landwirtschaft/meldungen/freispruch-im-pestizidprozess/
[13] https://www.santerhof.eu/bio-saefte-obst/
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