"Pestizid-Tirol": Giftorgien im Apfelparadies

Sehen harmlos aus: Vinschgauer Äpfel. Archivbild: Erwin Lindemann / CC0 1.0

Umweltinstitut hat Pestizid-Behandlungen in Vinschgau ausgewertet. Cocktail-Effekte könnten die Gesundheit vielfach schädigen. Dabei gibt es Sorten, die fast nicht gespritzt werden müssen.

Südtirol ist Europas größtes zusammenhängendes Obstanbaugebiet. Hier wird ein Zehntel der europaweiten Apfelernte produziert. Hier liefern Apfelplantagen auf rund 18.000 Hektar jährlich rund 930.000 Tonnen Ertrag.

Beim Integrierten Kernobstbau handelt es sich um eine naturnahe und nachhaltige Anbauweise, bei welcher der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt im Vordergrund stehen. Der Einsatz chemisch-synthetischer Mittel werde auf ein Minimum reduziert. Natürliche Pflegemaßnahmen werden bevorzugt, da sich diese positiv auf die Obstanlage und die Umwelt auswirken. So steht es jedenfalls in den Richtlinien, denen sich die Obstbauern im Vinschgau in Südtirol verpflichtet haben.

Die Praxis sieht anders aus: In den intensiv bewirtschafteten Apfelplantagen werden viel zu oft in zu hohen Mengen chemisch-synthetischer Pestizide eingesetzt. Zwischen März und Anfang September 2017 wurde im Vinschgau jeden Tag gespritzt. Zu diesem Schluss kommt ein aktueller Bericht des Umweltinstituts München.

Insgesamt wurden 590.000 Pestizideinsätze in der Saison des Jahres 2017 dokumentiert. Dafür wurden die Daten von 681 Apfelanbaubetrieben aus der Region Vinschgau ausgewertet. Zu annähernd 90 Prozent wurden die Behandlungen mit chemisch-synthetischen Substanzen durchgeführt. Es würden nur noch gezielt wirkende Mittel mit geringerer Wirkungsstärke eingesetzt, die dafür präziser auf den Schadorganismus wirkten, verteidigt das Südtiroler Apfelkonsortium, Dachverband aller Erzeugergenossenschaften, die Spritzeinsätze.

Aber stimmt das wirklich? Dem Bericht zufolge wurde eine Apfelplantage im Durchschnitt 38 Mal mit Pestizidwirkstoffen behandelt, in einigen Fällen sogar mehr als 50 Mal. Dabei kamen hochproblematische Pestizide zum Einsatz. Von den insgesamt 83 eingesetzten Pestizidwirkstoffen standen zum fraglichen Zeitpunkt 17 besonders giftiger Wirkstoffe auf der offiziellen EU-Liste der Substitutionskandidaten. Diese machten im untersuchten Zeitraum 13 Prozent aller Pestizidanwendungen aus.

Zudem wurden häufig mehrere Wirkstoffe gleichzeitig ausgebracht. Eines der am häufigsten verwendeten Mittel war Etofenprox. Das synthetische Insektizid gefährdet neben Schadinsekten auch Wasserorganismen, Honigbienen und Nützlinge. Auch das bienengefährliche Neonicotinoid Thiacloprid wurde von rund zwei Drittel der untersuchten Betriebe verwendet.

Nicht nur für die Umwelt, auch für die Menschen sind die Pestizidwirkstoffe extrem gesundheitsschädlich. Gleich mehrere der am häufigsten in der EU eingesetzten Pestizidwirkstoffe werden als fortpflanzungsschädigend eingestuft: Penconazol, Fluazinam und Phosmet. Darüber hinaus werden Bupirimat und Captan von der Internationalen Krebsforschungsagentur als "wahrscheinlich krebserregend" klassifiziert.

Glyphosat, das die Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation ebenfalls als ‚wahrscheinlich krebserregend‘ eingestufte, wurde am fünfthäufigsten in den Apfelplantagen gespritzt. Zum Einsatz kam auch das inzwischen verbotene Chlorpyrifosmethyl, das die Gehirnentwicklung von ungeborenen Kindern schädigen kann.

Cocktail-Effekt: Wenn Wirkstoffe sich gegenseitig verstärken

Mit Abstand am häufigsten kamen Fungizide zum Einsatz, gefolgt von Insektiziden und Akariziden (gegen Spinnmilben) sowie Wachstumsregulatoren, wie aus grafischen Darstellungen hervorgeht. Mehr als 90 Prozent der untersuchten Betriebe setzten Herbizide wie das umstrittene Glyphosat zur Bekämpfung von Unkraut ein. Dabei wäre gerade Glyphosat im Obstanbau zuallererst verzichtbar. Denn Grasbewuchs lässt sich auch mechanisch kürzen.

Ihren Einsatz von Spritzmitteln begründeten die Obstbauern vor allem mit Pilzkrankheiten wie Apfelschorf und Mehltau. Die chemischen Mittel wurden jeweils zu 84 Prozent gegen Apfelschorf und zu 86 Prozent gegen Mehltau eingesetzt. Zudem ist Apfelschorf ein rein optischer Makel, der weder Qualität noch Geschmack beeinträchtigt.

Dabei könnten Pilzkrankheiten über die Wahl besonders widerstandsfähiger Apfelsorten vermieden werden. Und viele der so genannten Schadinsekten werden durch "nützliche" Insekten in Schach gehalten. Stattdessen kamen bei einem Viertel aller Pestizidbehandlungen Wirkstoffe zum Einsatz, die besonders schädlich auf natürliche Gegenspieler von Schädlingen wie bestimmte Raubmilben und Schlupfwespen wirken. So entsteht ein fataler Teufelskreis. Je weniger natürliche Gegenspieler vorkommen, desto mehr Pestizide müssen zur Bekämpfung der Schädlinge eingesetzt werden. Abgesehen davon nimmt die biologische Vielfalt Schaden.

Dass am selben Tag bis zu neun verschiedene Mittel auf eine Plantage kamen, finden die Autoren besonders bedenklich. Welche Wechselwirkungen sich für Mensch und Umwelt bei der Mischung verschiedener Pestizidwirkstoffe ergeben, ist kaum erforscht und wird bei der Zulassungsverfahren bisher kaum berücksichtigt. Allerdings gibt es deutliche Hinweise, dass verschiedene Pestizide in Kombination miteinander verstärkt wirken können.