"Pestizid-Tirol": Giftorgien im Apfelparadies

Seite 2: Gefährliche Pestizide müssen verboten werden

38 Anwendungen von Pestiziden in einer Saison sind sehr, sehr viel, konstatiert Ralf Schulz. Die Begriffe "naturnah" und "chemisch-synthetische Pestizide" seien kaum vereinbar, denn handelt es sich um Chemikalien, die es so in der Natur nicht gibt. Der Umweltwissenschaftler an der Rheinland-Pfälzischen TU Kaiserslautern-Landau erforscht unter anderem, wie Pestizide unser Ökosystem beeinflussen.

Der hohe Pestizideinsatz in den Vinschgauer Apfelplantagen stehe im krassen Widerspruch zu einer naturnahen und nachhaltigen Anbauweise. Das Zertifikat "integrierter Obstanbau" diene mehr Marketingzwecken als dem Wohl von Umwelt und Gesundheit, so die Kritiker. Man könnte es auch getrost als Werbelüge bzw. Etikettenschwindel bezeichnen.

Sie fordern ein sofortiges Verbot gefährlichsten Pestizide und alle Herbizide im Südtiroler Obstanbau, insbesondere besonders giftige Wirkstoffe wie Abamectin, Fluazinam, Tebufenpyrad, Difenoconazol, Pendimethalin, Deltamethrin, Flupyradifuron, Pirimicarb und Emamectin-Benzoat.

Zwar werden diese von den EU-Landwirten genau dokumentiert, allerdings von den Behörden bislang nicht zentral erfasst, ausgewertet oder gar veröffentlicht. Die Pestizidreduktionsziele seien nur dann glaubwürdig und messbar, wenn der Status Quo als Referenzwert bekannt ist. Zudem müssen Daten über Pestizideinsätze allen Bürgern zugänglich sein, fordern die Umwelt-Experten.

Transparenz sei eine wichtige Voraussetzung für die realistische, wissenschaftliche Beurteilung ihrer Risiken für Umwelt und Gesundheit. Geplant ist daher ein System zur zentralen und einheitlichen elektronischen Erfassung von Pestizideinsätzen. Die Daten sollten in einer Online-Datenbank der Öffentlichkeit detailliert zur Verfügung gestellt werden.

Im Sommer 2017 hatte Karl Bär, Agrarreferent des Umweltinstituts, im Rahmen einer Aufklärungskampagne über den übermäßigen Pestizid-Einsatz im Apfelanbaugebiet Werbeplakate mit dem Schriftzug "Pestizid-Tirol" verfremdet.

Rund tausend Südtiroler Obstbäuerinnen und Obstbauern zeigten ihn deshalb wegen übler Nachrede an. Im Laufe des erfolglosen Prozesses gegen die Umweltorganisation beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft Bozen die Daten als Beweismittel. Das Umweltinstitut erhielt Akteneinsicht - ein außergewöhnlicher Vorgang, denn in der EU wird die Verwendung von Pestiziden für Aussenstehende normalerweise nicht einsehbar. Wie die oben erwähnte Auswertung bewies, war die Kritik berechtigt. Deshalb wurde Karl Bär im Mai 2022 von allen Vorwürfen freigesprochen.

Die Daten aus dem Vinschgau geben einen brisanten Einblick in die landwirtschaftliche Praxis des intensiven Apfelanbaus. Erstmals wurde öffentlich welche Pestizide wann und in welcher Menge im intensiven Apfelanbau eingesetzt wurden. Eine vergleichbare, detaillierte Auswertung von Pestizideinsätzen in einer bestimmten Region gab es bisher noch nie.

Alte robuste Sorten sind widerstandsfähiger

Jonagold Gala, Granny Smith, Braeburn, Elstar, Pink Lady, Golden Delicious - diese Apfelsorten findet man am häufigsten in deutschen Supermärkten, häufig stammen sie aus Südtirol. Das Problem: Die modernen Züchtungen gehen auf nur wenige Sorten zurück, sind dadurch genetisch verengt und entsprechend anfällig. Infolge dessen leiden sie unter Pilzkrankheiten wie Mehltau, bzw. unter Feuerbrand oder Schorf. Diese Krankheiten werden mit synthetischen Fungiziden bekämpft.

Allein dem Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel ist es zu danken, dass diese anfälligen Sorten ertragreich in genormten Größen angbaut werden können. Allerdings geht in den Neuzüchtungen nicht nur viel Geschmack verloren, die alten Sorten sind häufig auch schorfresistent. Sie kämen auch mit deutlich weniger bzw. ohne Pestizidbehandlungen aus.

Zudem werden alte Sorten von Allergikern häufig besser vertragen. Die Äpfel erfüllen häufig nicht die Standards in Größe, Form und Optik. Und nicht normgerechte Äpfel werden vom Handel abgelehnt. Hier tut ein Umdenken Not - nicht nur im Apfelanbau in Südtirol.

Während im Vinschgau die Apfelmonokulturen mit Pestiziden überfrachtet werden, zeigen Betriebe andernorts, wie es auch gehen kann: Anstatt einheitliches Tafelobst zu produzieren, verarbeiten sie Bio-Äpfel diverser Sorten. So wie auf dem Santerhof in Mühlbach, rund einhundert Kilometer nördlich von Bozen auf biologische Vielfalt: Hier stehen mehr als 5.000 Bäume – bestehend aus 40 robusten Apfelsorten, wie etwa der saftig, säuerlich schmeckende schorfresistente Topaz, der aromatische orangefarbene Pinova oder die süß-säuerliche gelb-rote Florina.

Weitere Sorten sind Gravensteiner, Kanada Renette, Ananas Renette, Steinpepping, Boskop. Aus dem Erntegut wird Apfelsaft hergestellt. Wein- und Tafeltrauben, Birnen, Pflaumen, Zwetschgen und Walnüsse ergänzen die Obstvielfalt am Hof.