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Pflegenotstand

Bild: MiVargof/Pixabay License

Politisch verursacht – politisch unlösbar

Abstract: Der Wirkungsgrad von Politik ist negativ, d.h. sie erzeugt mehr Probleme als sie löst, und die von ihr gelösten Probleme sind in der Regel zuvor von ihr selbst erzeugt. Die Begründung der These wird am Beispiel des "Pflegenotstandes" ausgeführt. Es beginnt mit einer Beschreibung des Ist-Zustandes, hinsichtlich Zahl, Einkommen und Wertschätzung von Pflegekräften.

Alle drei Indikatoren sind im Wert deutlich zu niedrig - und das bei deutlich zu hoher Arbeitsbelastung. Nach einhelliger Meinung der Experten wird sich an diesem Missverhältnis in den nächsten Jahren nichts ändern. Die Folge für die Pflegebedürftigen: Sie können weiterhin nicht angemessen versorgt werden. Eine Schande in einem der reichsten Länder der Erde, das sich in Art. 20 GG "sozialer Bundesstaat" nennt.

Nach der Beschreibung des Ist-Zustandes wird der Verursacher detektiert: die Politik. Inzwischen zwar aus dem Schlaf erwacht, hat die politische Klasse den desolaten Zustand nicht nur verursacht, sondern ist auch unfähig, ihn zu beseitigen. Grund ist ein Systemfehler: Es fehlt der Zusammenhang von prospektivem Denken und prophylaktischem Handeln. Deshalb sehe ich auf absehbare Zeit nur eine Möglichkeit, das Problem "Pflegenotstand" zumindest zu entschärfen: mit privatem Engagement im Schutzraum der Familie. Dass und wie dies möglich ist, skizziere ich anhand von vier Regeln, im Sinne von praktischen Empfehlungen für pflegende Familienangehörige.

Wichtig ist: Meine Ausführungen basieren nicht auf den üblichen "Recherchen", sondern auf eigener Erfahrung: Ich habe meine Mutter fünf Jahre lang zu Hause bis zu ihrem letzten Atemzug im 98. Lebensjahr gepflegt.

Der desolate Ist-Zustand

Ausgelöst wurde er durch den demographischen Wandel: Die Menschen wurden immer älter (nicht zuletzt wegen des medizinischen Fortschritts), und infolge davon nahm die Zahl der Alten zu. Seit Jahrzehnten bekannt, wären Maßnahmen zur Aufstockung des Pflegepersonals ein dringendes politisches Erfordernis gewesen. Geschehen ist nichts, bis heute.

Kritik an diesem Mangelzustand kommt inzwischen auch aus der Politik selbst. So weist der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, im August 2020 eindringlich auf die "Personalnot" hin, die weiter zunehmen werde, wenn sich die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte nicht signifikant verbessern.

Dem viel zu späten warnenden Appell des staatlichen Pflegebeauftragten vorausgegangen war noch vor Kurzem eine Unverschämtheit der Politik, nämlich der durchsichtige Versuch, die durch Corona dramatisch verschärfte Lage billig, d.h. nur durch lobende Worte, aus der Welt zu reden. So wurden Pflegekräfte - sogar von höchster staatlicher Stelle, von Bundespräsident Steinmeier - kostenneutral zu "Helden" erklärt. In den Worten von Westerfellhaus: "Die Pflegekräfte sind zu Beginn der Corona-Krise hochgejubelt und für systemrelevant erklärt worden."

Passiert ist aber zunächst einmal wieder nichts (außer dem Versprechen einer einmaligen Prämie). Anders gesagt: Es gab wie so oft gleichermaßen hilflose wie rhetorisch geschliffene Kommunikation anstatt reale Problemlösung.

Was die Verbesserung der Arbeitsbedingungen betrifft, insbesondere durch Aufstockung des Personals, so ist - selbst wenn die Politik guten Willens wäre - nach einhelliger Meinung kein Land in Sicht: "Der Arbeitsmarkt ist quasi leer gefegt", so Peter Tackenberg, stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe. Heldennachschub ist somit nicht möglich. M.a.W.: Weiterhin muss das vorhandene Personal eine immer größer werdende Zahl von Pflegebedürftigen betreuen.

Wie dramatisch schlecht die Lage ist, zeigt einmal mehr dieses Defizit: Selbst wenn die zurzeit 40.000 unbesetzten Stellen besetzt werden könnten - was aber nicht der Fall ist - , wäre das wegen der weiter zunehmenden Anzahl von Pflegebedürftigen keine befriedigende Lösung des Problems (Nach Berechnungen von Verdi aus dem Jahr 2017 fehlen in Krankenhäusern 162 000 Vollzeitstellen, davon 70 000 für Pflegekräfte. Inzwischen wurden die Zahlen nach oben korrigiert, auf über 200 000).

Stellt sich die Frage: Warum gibt es die vom Pflegebeauftragten der Bundesregierung monierte "Personalnot"? Der vielleicht wichtigste Grund dürfte die schlechte Bezahlung sein. Obwohl bekannt und nachvollziehbar, fiel auch die letzte Erhöhung des Tariflohns im Oktober 2020 - das sich unter Corona noch einmal verschärfende Problem direkt vor Augen - eher bescheiden aus, jedenfalls gemessen an den hohen fachlichen, körperlichen und seelischen Anforderungen an diesen Beruf.

Zwei Beispiele: Eine 31-jährige Pflegekraft mit sieben Jahren Berufserfahrung verdient zurzeit ca. 3.337 Euro brutto im Monat. Nach dem jüngsten Tarifabschluss im öffentlichen Dienst wird dieses Gehalt ab dem 1. April 2021 auf monatlich 3.457 Euro brutto erhöht, also 120 Euro brutto mehr im Monat. Beispiel 2: Eine Intensivpflegerin in gesundheitlich belastender Wechselschicht und mit 25 Jahren Berufserfahrung verdient zurzeit ca. 3.850 Euro brutto im Monat.

Ab dem 1. April 2021 wird dieses Gehalt auf 4.075 Euro erhöht, also 225 Euro brutto mehr im Monat. Beide gehören mit ihrer jeweiligen Gehaltshöhe zu den "Gutverdienenden" in ihrem Beruf; denn der Durchschnitt beträgt lt. Institut der deutschen Wirtschaft nur 2.621 Euro im Monat - und in vielen Fällen werden in der Altenpflege sogar weniger als 2.500 Euro brutto bezahlt. Was wäre angemessen?

Nach Meinung des Präsidenten der rheinland-pfälzischen Landespflegekammer, Markus Mai: "Wir müssen zu einem Mindestgehalt für alle Pflegefachpersonen von 4.000 Euro kommen." Unabhängig von der Berechtigung dieser Forderung steht fest: Sie wird über viele weitere Jahre unerfüllt bleiben.

Somit werden die "Personalnot" im Besonderen und der unhaltbare Ist-Zustand im Allgemeinen perpetuiert. Unhaltbar heißt: Zu wenig und deshalb überforderte wie auch zu schlecht bezahlte und deshalb unzufriedene Pflegekräfte. Erschwerend hinzu kommt: Es handelt sich um ein Doppelproblem, weil nicht nur die Pflegekräfte, sondern auch die Pflegebedürftigen darunter zu leiden haben.

Das durch Personalnot entstandene Leiden der Pflegebedürftigen ist erheblich und sein Spektrum lt. ZQP (Zentrum für Qualität in der Pflege) breit: Anwendung von Gewalt, Freiheitsbeschränkungen (z.B. durch Anschnallen), unsachgemäße medizinische und/oder unzureichende hygienische Versorgung, Bevormundung etc. Somit ist Art. 1 des Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" in vielen Fällen außer Kraft gesetzt.

Noch einmal: Das Problem "Personalnot" als zwingende Folge des demografischen Wandels ist der Politik seit Langem bekannt. Unternommen hat sie nichts. Juristisch heißt diese Begehungsart "Tun durch Unterlassen". Auf das Pflegethema angewendet: Die Politik hat es schon vor Jahren versäumt, Pflegeberufe in der gesellschaftlichen Anerkennung aufzuwerten, auch durch bessere Bezahlung.

Dieses Versäumnis hat ursächlich dazu geführt, dass eine zu geringe Zahl von Jugendlichen sich entschieden hat, den Pflegeberuf zu erlernen. "Personalnot" war die Folge. Somit hat die Politik das Problem "Pflegenotstand" selbst erzeugt, und nun versucht sie, das selbst erzeugte Problem mit mutmaßlich untauglichen Mitteln zu lösen.

Der "Pflegenotstand" als Folge von "Tun durch Unterlassen" ist sträfliches politisches Versagen. Es verwundert um so mehr, als die Politik selbst - im Unterschied zu den Pflegeberufen - keineswegs unter "Personalnot" leidet: Alleine das Bundeskanzleramt und die Bundesministerien verfügen nicht nur über mehr als 20.000 eigene Mitarbeiter, sondern nehmen in speziellen fachlichen Angelegenheiten zusätzlich externe Berater mit einem Gesamtetat von mehreren hundert Millionen Euro im Jahr in Anspruch (z.B. wurden bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2019 über 300 Millionen Euro an solche Berater bezahlt).

Auch beim Versuch, das Problem "Pflegenotstand" zu lösen, dürften Heerscharen von externen Beratern eingeschaltet sein. In dieser Melange aus fachlich unterbelichteten Politikern und pekuniär gierigen Beratern sind in letzter Zeit viele Lösungsvorschläge gemacht worden. Zwei Untaugliche möchte ich nennen.

Retter in der Not: Ferne Länder und Roboter

Erster Lösungsvorschlag: Fachkräfte aus dem Ausland. Sie sollen die Personallücke schließen. Insbesondere Mexico und die Philippinen sind im Visier. Der Gesundheitsminister höchstselbst war in dieser Angelegenheit vor Ort, aber nicht um Lernwillige, sondern um bereits ausgebildete Fachkräfte anzuwerben. Einmal abgesehen davon, dass in der Regel bis zu zwei Jahre von der Beantragung eines Visums im Heimatland bis zur Aufnahme der Arbeit in Deutschland vergehen, wird zweierlei übersehen.

Erstens geht es bei Pflegekräften nicht nur um fachliche, sondern auch um soziale Kompetenz, in besonders hohem Maß bei alten oder dementen Pflegebedürftigen. Und bekanntlich wird soziale Kompetenz nicht zuletzt durch Sprache in ihren drei Funktionen (Bezeichnung, Handlungskoordinierung und Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls) ausgeübt, über die ausländische Fachkräfte in der Regel nur unzureichend verfügen.

Und zweitens hat das Anwerben von Pflegekräften in Ländern der Dritten Welt einen schalen Beigeschmack: Da sie bereits in ihrem Heimatland ausgebildet wurden, trägt Deutschland keine eigenen Ausbildungskosten, sondern erntet nur die Früchte fremder Leistung. Hinzu kommt: Deutschland entzieht diesen Ländern in den dortigen Krankenhäusern und Altenheimen dringend benötigtes Fachpersonal, Länder, die wie die Philippinen bitterarm sind und den Nachschub für den eigenen Bedarf dann wieder neu und selbst finanzieren müssen.

Anders gesagt: Der Abzug der Fachkräfte zu unseren Gunsten führt in den Entwicklungsländern zu einer Verschlechterung der Lage der dortigen Alten. Ein Nullsummenspiel allenfalls. Es erinnert an den FC Bayern München, der von Borussia Dortmund ausgebildete Spieler mit Geld weggelockt und die Borussia personell und in der Spielqualität ausgezehrt hat.

Abgesehen davon, dass die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte wegen Corona ohnehin inzwischen ganz zum Erliegen gekommen ist, entscheidend ist letztendlich nur dies: Das Problem "Pflegenotstand" lösen wird auch diese Maßnahme nicht. Der Bedarf ist viel zu groß! Kopflose politische Aktivität, die den "Pflegenotstand" nicht beseitigt, ein Notstand, den längst alle Bereiche zu spüren bekommen.

Sogar die Intensivstationen von Kliniken sind betroffen. Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft hat nämlich mehr als die Hälfte der Kliniken Probleme, offene Pflegestellen in diesen Stationen zu besetzen. "Corona hat uns alle überrascht" ist eine fadenscheinige politische Ausrede, denn die Angabe der Deutschen Krankenhausgesellschaft stammt aus der Vor-Corona-Zeit. Notstand seit Langem und überall, auch auf den Intensivstationen. Armes reiches Deutschland!

Zweiter Lösungsvorschlag: Pflegekraft Roboter. Die "Personalnot" in Krankenhäusern und Altenheimen ist alleine mit menschlichen Pflegekräften nicht einmal mittelfristig zu beseitigen. Die Empfehlung der Politik: Roboter sollen die Lücke schließen. Ein (relativ) neuer Vorschlag, der immerhin auf eine längere Vorgeschichte dieser Technik verweisen kann. Da die Robotik schon seit den 1950er Jahren als Teilgebiet der KI und somit über Jahrzehnte weiterentwickelt worden ist, beginnt diese Technik nicht bei einer Stunde Null.

Hinzu kommt: Die Maßnahme passt in die zurzeit hektisch betriebene Digitalisierung des gesamten Lebens, modern also. Und wie immer gibt es wissenschaftliche Legitimation der Maßnahme durch "Studien": Schon jetzt sollen zwei von fünf Bundesbürgern ab 65 einer Digitalisierung im Leben von Alten positiv gegenüberstehen (die restlichen drei von fünf sind ja wohl noch zu überzeugen, und wenn nicht, dann handelt es sich um "Fortschrittsverweigerer"). Und wie immer ist schnell ein wohlklingender neuer Begriff zur Stelle: "Soziale digitale Assistenzsysteme". Besonders das Attribut "sozial" soll die Skeptiker beruhigen.

Was sind "soziale digitale Assistenzsysteme"? Ich fasse den Medizinethiker und Philosophen Joschka Haltaufderheide so zusammen: Unter dem Begriff sind drei unterschiedliche Pflegefunktionen gemeint: Erstens Systeme, die physische Aufgaben übernehmen (z.B. Roboter, die Alte aus dem Bett heben), zweitens Systeme, die kognitiv assistieren (z.B. Alte an ihre Tabletteneinnahme erinnern) und drittens Systeme, die auf emotionale Bedürfnisse von alten Menschen eingehen (z.B. elektronische Haustiere oder Roboter, die über Witze lachen, die ein alter Mensch erzählt). Diese auf emotionale Bedürfnisse programmierten Roboter können ihre Kompetenz in Emotionen z.B. durch "aufgeklebte lustige Augen" verstärken und insgesamt durch ein möglichst menschlich anmutendes Gesicht mit entsprechender Mimik augenfällig machen.

Meine Bewertung: Selbstverständlich ist es grundsätzlich sinnvoll, Roboter zu bauen und z.B. da einzusetzen, wo sie menschlichen Pflegekräften etwa schwere und gesundheitsschädliche Hebefunktionen abnehmen können. Das Problem: Roboter, die eigenständig und ohne Gefahr einen alten Menschen aus dem Bett heben können, gibt es noch nicht und wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Der Grund: Bei einem solchen Hebevorgang sind sehr komplexe und vor Allem überraschungsreiche Bewegungsabläufe zu beherrschen, die heutige Roboter völlig überfordern.

Und selbst bei weniger anspruchsvollen Aufgaben sind die Grenzen der Robotik noch immer sehr eng. In den Worten von Till Reuter (Vorstand beim international renommierten und inzwischen an eine chinesische Firma verkauften Roboterbauer Kuka): Die Grenzen von Robotern sind schon dann erreicht, wenn es darum geht, "verschiedene Objekte bei unterschiedlicher Beleuchtung oder mit schmutziger Oberfläche zu erkennen".

Bei alledem das Wichtigste: Jetzt (!!) ist dringender Handlungsbedarf! Und jetzt (!!) gibt es keine Roboter, die einen sich wehrenden Pflegebedürftigen vorsichtig und begleitet von gutem und beruhigendem Zureden aus dem Bett heben und auf einen Toilettenstuhl setzen können.

Und was die kognitiven Systeme betrifft: Das hake ich an dieser Stelle zunächst einmal schnell ab: Selbstverständlich ist es hilfreich, wenn ein digitales System z.B. einen vergesslichen Menschen an die Einnahme seiner Tabletten erinnert. An dieser Stelle kann Personalnot digital gut kompensiert werden (obwohl auch hier mehr Einzelheiten zu behandeln wären).

Ganz anders dagegen sieht es beim dritten Anwendungsbereich von "sozialen digitalen Assistenzsystemen" aus: bei emotionalen Bedürfnissen nämlich. Ist die zufriedenstellende Ersetzung von physischen Funktionen wohl prinzipiell möglich und ihre Verbesserung nur eine Frage der Zeit, so gibt es bei der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse prinzipiell unlösbare und darüber hinaus ethisch gravierende Probleme.

In Erwartung dieser Problematik schränkt der o.g. Medizinethiker Haltaufderheide zu Recht ein, dass in diesem Anwendungsbereich Pflegebedürftige in der Lage sein müssen, die künstliche Natur z.B. eines lachenden Roboters zu durchschauen: "Er darf nicht Gefahr laufen, getäuscht zu werden." Bei den meisten Pflegebedürftigen in einem Altenheim dürfte genau dieses Erfordernis nicht erfüllt sein. Und es gibt weitere wesentliche Einschränkungen.

Ein wesentliches Merkmal sozialer Kompetenz ist die Fähigkeit, mit einem Dritten Mitleid haben zu können. Nun ist Mitleid bekanntlich keine Rechenaufgabe, sondern ein Gefühl. Und schon ist mit Blick auf die Erfüllung von Pflegefunktionen bei Robotern das Ende der Fahnenstange erreicht. Denn Gefühle haben Roboter prinzipiell nicht, also auch nicht unter Berücksichtigung des zukünftigen Fortschritts.

Der Grund ist einfach: Gefühle basieren notwendig auf biologischen Voraussetzungen (siehe z.B. das limbische System in unserem Gehirn), Voraussetzungen, über die Roboter wegen ihrer komplett biofreien materiellen Beschaffenheit prinzipiell nicht verfügen. Das digital unlösbare Problem an einem Beispiel: Ein Roboter kann zwar sagen "Ich habe Angst", aber er kann keine Angst haben.

Wer den Unterschied leugnet, macht nicht zuletzt den Fehler einer animistischen Projektion in tote Materie. Zwischen "sagen" und "haben" besteht also ein wichtiger Unterschied (auch Heiratsschwindler nutzen in betrügerischer Absicht die Aufhebung dieses Unterschiedes schamlos aus). Das technisch bestimmte Mensch-Maschine-Verhältnis ist unter der Anforderung soziale Kompetenz in der Regel somit eines der Täuschung, in dem Menschen, zumal alte, an der Nase herumgeführt und in ihrer Würde nicht ernst genommen werden.

Mehr noch: Wird ein dialogstark ausgerüsteter Roboter zur Interaktion mit alten Menschen gebracht, dann trägt das schnell pathologische oder gar menschenverachtende Züge. Gerade bei solchen, die an Demenz erkrankt sind, ist das Risiko groß. In vielerlei Hinsicht. So ist im Extremfall nicht auszuschließen, dass der Erkrankte Sätze des Roboters wie "Ich liebe Dich" ernst, d.h. menschengleich nimmt.

Die Wahrscheinlichkeit solcher Verirrungen wächst mit der zunehmenden Menschenähnlichkeit der Robotergestalt, an deren Verbesserung zurzeit mit Nachdruck gearbeitet wird. Nicht auszuschließen ist, dass auf völlig illusionärer Basis gar Liebesbeziehungen zwischen Mensch und Maschine entstehen, die auf der Seite des alten Menschen ernst gemeint und im Gefühl der Liebe tatsächlich auch empfunden werden.

Hinzu kommt: Der Teil der Pflegebedürftigen, der Technik dieser Art durchschaut und ihr nicht auf den Leim geht, ist in der Regel in einem körperlichen und geistigen Zustand, der den Einsatz z.B. von lachenden Robotern nicht benötigt, weil sich die fitten Alten mit Menschen austauschen (face to face oder telefonisch) und mit anderen Menschen über einen Witz lachen können.

Mutmaßlich gibt es nur einen ganz kleinen Teil von Pflegebedürftigen, die für den sinnvollen Einsatz einer solchen Technik im emotionalen Bereich in Frage kommen. Anders gesagt: Mit Blick auf das gewaltige Problem "Pflegenotstand" sind lachende Roboter nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Alles in Allem: Ich halte den Einsatz von Robotern im Pflegebereich weitgehend für einen gleichermaßen untauglichen wie gefährlichen Versuch, politische Altlasten (= Versäumnisse aus der Vergangenheit) verantwortungslos zu entsorgen. Ich komme jetzt zu ein paar Vorschlägen, wie das Problem "Pflegenotstand" im Schutzraum der Familie etwas entschärft werden kann.

Problemlösung in der Familie

Laut Pflegereport der Barmer Ersatzkasse gibt es ca. 2,5 Millionen Menschen, die Angehörige zu Hause pflegen. Das sind deutlich mehr als die 1,7 Millionen professionellen Pflegekräfte, die es lt. Bundesagentur für Arbeit in Deutschland gibt. 2,5 Millionen, eine beeindruckende und ermutigende Zahl, an deren Steigerung zu arbeiten wäre (z.B. durch eine deutliche Erhöhung des Pflegegeldes). Besonders aus diesem Grund: Viele Studien zeigen, dass "für das Wohlbefinden im Alter an erster Stelle die eigene Häuslichkeit steht". Der Einzug ins Altenheim kann also immer nur die zweitbeste Lösung sein - eine intakte Familie und entsprechende Wohnverhältnisse vorausgesetzt.

Damit kein Missverständnis entsteht: Auch die Pflege im Kreis der Familie ist kein paradiesischer Zustand. So klagen lt. Pflegereport der Barmer Krankenkasse 40 Prozent aller pflegenden Angehörigen über mangelnden Schlaf, ein Drittel fühlt sich überfordert, über 50 Prozent klagen über Rückenschmerzen und fast 50% über psychische Erkrankungen. Deshalb gibt es inzwischen das Bündnis "Pflegeaufstand Rheinland-Pfalz", das in der Landeshauptstadt Mainz im Frühjahr 2021 eine Großdemonstration geplant hat, an der neben professionellen Pflegekräften aus der Kranken- und Altenpflege auch pflegende Familienangehörige teilnehmen werden.

Die Zahlen und der Unmut zeigen: Pflege in der Familie ist kein Allheilmittel, aber dennoch mit Abstand die beste aller Lösungen. Selbstredend vorausgesetzt ist eine intakte Familie. Im Folgenden schlage ich auf dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen 4 Regeln vor, die für die Pflege in der Familie von Bedeutung sein dürften und die optimal nur in der Familie und nicht in Altenheimen angewendet werden können.

Regel 1: "Kopf lüften!"

Die Komplexität des menschlichen Gehirns ist gewaltig: Es besteht aus 1011 Neuronen (= 100 Milliarden Nervenzellen) und 1015 Synapsen (= eine Billiarde Verbindungen zwischen den Nervenzellen). Hinzu kommen 1012 Gliazellen (= eine Billion frei "funkende", d.h. nicht fest "verdrahtete" Zellen). Das Zusammenspiel dieser immensen Anzahl von Zellen funktioniert in der Regel erstaunlich reibungslos und rund um die Uhr. Das benötigt viel Energie: So verbraucht das Gehirn ca. 20 Prozent unserer gesamten Körperenergie, obwohl sein Anteil am Gesamtgewicht des Körpers nur ca. zwei Prozent beträgt.

Eine Erscheinungsform dieser gewaltigen Komplexität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich fortwährend via Bildung von neuen und Abbau von alten Synapsen zu verändern. "Plastizität" wird das genannt, eine Art Zeitlichkeit des Gehirns. Für das Pflegethema wichtig ist: Diese Veränderbarkeit des Gehirns, eine Grundlage für die Fähigkeit, etwas Neues aufzunehmen, gibt es bis ins hohe Alter (wenn auch mit abnehmender Rate der Veränderung).

Diese außergewöhnliche, von genetischer Vorausprogrammierung losgelöste Fähigkeit des Gehirns zur Aufnahme von Neuem sollte bei der Altenpflege intensiv genutzt werden. Das Spektrum der Möglichkeiten ist breit: von scheinbar banalen Angelegenheiten (z.B. Kochen eines neuen Gerichtes) über lustige Anregungen (z.B. neue Witze) bis hin zu anspruchsvolleren Herausforderungen (z.B. neue kognitive Aufgaben). Wird das innovative Potenzial des Gehirns nicht genutzt, wächst das Risiko, dass alte Menschen im täglichen Einerlei in eine Grundstimmung der Lethargie verfallen und in allen Bereichen abbauen. Deshalb ist nicht nur tägliches "Zimmer lüften", sondern auch tägliches "Kopf lüften" angesagt. Ich habe das bei der Pflege meiner Mutter im ganzen o.g. Spektrum praktiziert. Hier nur zwei Beispiele, zunächst eins aus dem kognitiven Bereich:

Diese Abbildung habe ich Mutter am Bildschirm gezeigt – sie war damals 90 Jahre alt – und ihre Konzentration auf die vier Kreise gelenkt. Dann habe ich die einfache Frage gestellt, welcher der beiden Außenkreise der Größere ist. Ihre schnelle und richtige Antwort: "Der linke Außenkreis ist größer." Dann meine zweite Frage: "Welcher der beiden Innenkreise ist der Größere?" Wiederum hat sie schnell geantwortet: "Der rechte Innenkreis ist größer."

Mein Kommentar: "Falsch!" Daraufhin hat sie mich ungläubig angeschaut. Dann ging ihr Blick noch einmal auf die Kreise, und sie wiederholte ihre erste Einschätzung: "Der rechte Innenkreis ist größer als der linke Innenkreis. Das sieht man doch!" Dann habe ich ihr ein Metermaß gegeben mit der Aufforderung, die beiden Innenkreise zu messen. Das Ergebnis: Beide Innenkreise sind exakt gleich groß. Metermaß stand gegen Augenschein.

Nach dem Messen hat sie das Maßband beiseite gelegt und noch einmal den Blick auf die Innenkreise gerichtet, mit dem Kopf geschüttelt, dann das Metermaß ein zweites Mal angelegt und wieder war – gegen den Augenschein – das Ergebnis: Beide Innenkreise sind gleich groß.

Jetzt gab es Erklärungsbedarf. Den habe ich befriedigt, auf der Grundlage von Ergebnissen der Hirnforschung. Ich kann das hier nicht ausführen und teile nur das Ergebnis mit: Wir sehen mit unserem Gehirn, nicht mit unseren Augen. Um zu sehen, ob Mutter meine Erklärung des visuellen Vorgangs wenigstens im Prinzip verstanden hatte, habe ich ein paar Kontrollfragen gestellt. Mit ihren Antworten war ich zufrieden, d.h. sie hatte verstanden. Hinzu kommt: Das kognitive Erfolgserlebnis hatte sich bei ihr – wie bei anderen Beispielen – immer auch in einem guten Gefühl niedergeschlagen. Sie machte nach der bestandenen "Prüfung" einen zufriedenen Eindruck.

Dieses "Kopf lüften" habe ich über die Jahre an ganz unterschiedlichen, aber immer im Ergebnis überraschenden, manchmal sogar beeindruckenden Beispielen praktiziert. Es war für beide Beteiligte - neben dem Erkenntnisgewinn bei ihr - immer auch ein schönes gemeinsames Gefühl. Für mich, weil ich es ihr erklären konnte, für sie, weil sie die Erklärung auch im höheren Alter noch verstanden hat. Nach ihrem 95. Geburtstag gab es in dieser Hinsicht allerdings deutliche Veränderungen: Ihr Interesse und wohl auch ihre Fähigkeit zum Verstehen ließen nach. Ich habe die Regel "Kopf lüften!" dennoch beibehalten, aber mit einer Vereinfachung der Beispiele und einer Veränderung der Themen reagiert. An neuen Witzen war sie jedenfalls weiterhin noch interessiert.

Ein Beispiel: Ein Gesandter des Königs kam vorzeitig von einer Reise zurück und überraschte seine Frau mit dem Bischof im Bett. Zu beider Überraschung ging er an den Ertappten ruhig vorbei, zum Fenster hin, öffnete es und begann die Leute auf der Straße zu segnen. Daraufhin rief der Bischof empört "Was tut Ihr da?!" Die Antwort des Gehörnten: "Monsignore erfüllen meine Pflichten, also erfülle ich die seinen." Von der entspannenden lustigen Wirkung abgesehen, habe ich auch hier im Rahmen des Möglichen allgemein verständliche, aber wissenschaftlich basierte Erklärungen der Wirkung gegeben.

Das geht in diesem Fall über einen zentralen Begriff der Innovationsforschung: "Bisoziation". Der Begriff meint: Zwei bis dato unverbundene Bereiche (hier: Kirche und Sexualität) werden zum Schnitt gebracht und lösen dadurch den lustigen Effekt aus. Interessant ist: Der beim Witz wirksame Mechanismus der "Bisoziation" ist auch bei Erfindungen und in der Kunst nachweisbar.

Klar ist: In einem Altenheim kann ein solcher Aufwand nicht betrieben werden. Schon gar nicht unter den gegebenen Umständen der politisch eingestandenen "Personalnot", welche die Altenheime nicht zu verantworten haben.

Regel 2: "Erhalte die Selbstständigkeit!"

In der Pflege gibt es einen einfachen Grundtatbestand: Je älter ein Mensch desto hilfsbedürftiger ist er. Die Korrelation ist evident, aber die Bestimmung des genauen Zeitpunktes für den Beginn der Hilfe wie auch die Festlegung ihres Ausmaßes sind nicht so leicht zu entscheiden. In meinem Fall habe ich drei Phasen unterschieden: erstens Unterstützung (von 80 bis 92 Jahre), zweitens Betreuung (von 92 bis 95 Jahre) und drittens Pflege (von 95 bis 98 Jahre).

Zunächst ein paar Bemerkungen zur Phase "Unterstützung". In dieser Phase - bei Mutter hatte sie mit Vaters Tod kurz nach ihrem 80. Geburtstag begonnen - konnte sie das Meiste noch selbst erledigen: Wäsche waschen und auf dem Speicher aufhängen, bügeln, einkaufen, kochen, Schnee vor dem Haus beseitigen, den Mülleimer rausstellen, Geld auf der Bank abholen etc. etc. Aber auch in dieser Zeit mussten schon Risiken abgewogen werden. Zum Beispiel beim Rausstellen der Mülltonne. Das Risiko des Hinfallens war zu bedenken. Die Frage: Nimmt man ihr diese und die anderen genannten Verrichtungen aus der Hand oder geht man das Risiko z.B. des Hinfallens ein?

Wir haben das gemeinsam besprochen und gemeinsam entschieden: Das Risiko wird unter dem Ziel eingegangen, ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich zu erhalten. Mutters zustimmender Kommentar: "Am sichersten ist man im Sarg." Aber da wollte sie noch nicht hin. Manche Dinge, die vorher Vaters Part waren, z.B. das Tragen von schweren Sachen (etwa Wasserkisten), haben wir ihr natürlich abgenommen. Dieses vergleichsweise hohe Maß an Selbstständigkeit funktionierte bis zu ihrem Lendenwirbelbruch mit 92 Jahren. Dann begann die zweite und intensivere Phase: Betreuung.

Ich habe im Gespräch mit anderen Pflegenden festgestellt: Einer der häufigsten Fehler im Umgang mit alten Menschen besteht darin, sie zu früh von der Selbstständigkeit zu entwöhnen, indem man ihnen - durchaus in guter Absicht - zu früh die Verrichtungen des täglichen Lebens aus der Hand nimmt. Die Folge: Dann dreht sich die Abwärtsspirale immer schneller nach unten, bis die Selbständigkeit in der letzten Lebensphase ganz verloren geht. Aus dieser dritten und letzten Phase, der Pflege, ein Beispiel, das zeigt, dass auch dann noch das Thema "Selbstständigkeit" von Bedeutung ist.

Mit 97 Jahren fiel Mutter in der Wohnung hin und erlitt einen Oberschenkelhalsbruch. Ein Krankenhausaufenthalt war die Folge. Bis dahin hatte sie immer zum Essen am Tisch gesessen und auch selbstständig die Mahlzeiten zu sich genommen. Das war unmittelbar nach der Operation natürlich noch nicht möglich, weder gehen noch essen am Tisch. Als ich sie mittags im Krankenhaus besuchte, war eine Schwester gerade dabei, ihr einen Löffel mit Essen in den Mund zu schieben, was nicht gelang. Die Bemerkung der Schwester: "Ihre Mutter verweigert die Nahrungsaufnahme."

Oft Vorbote eines frühen Endes. In Wahrheit handelte es sich allerdings um eine Fehlinterpretation: Das Wegdrücken der Hand und das Wegdrehen ihres Kopfes waren kein Zeichen dafür, dass sie nicht essen wollte. Im Gegenteil: Sie hatte Hunger und wollte essen, aber wie ein kleines Kind gefüttert werden, das wollte sie nicht. Hilfe beim Verkleinern der Speisen auf dem Teller und beim Aufnehmen auf den Löffel, damit war sie einverstanden (es wäre nach der Operation und den Nachwirkungen der Narkose auch gar nicht anders möglich gewesen), aber vom Löffel in den Mund, das wollte sie selbst erledigen.

Ein paar Tage ging das so. Dabei fiel aufgrund der teilweise eigenständigen Ausübung auch schon mal was vom Löffel runter, auf ihren Schlafanzug oder auf die Bettdecke. Etwas ärgerlich. Aber aus diesem postoperativen Mangel eine Regel abzuleiten, nämlich "Fütterung" für den Rest ihres Lebens, wäre eine falsche Entscheidung gewesen, wie sich noch herausstellen sollte.

Ähnliches passierte beim Trinken, auch noch als sie nach fünf Tagen Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause war: Manchmal lief etwas Flüssigkeit an ihrem Mund vorbei. Je nachdem wie viel, musste der Schlafanzug gewechselt werden. Im Krankenhaus hatte man deshalb kurzerhand eine Schnabeltasse empfohlen. Die wollte sie aber nicht. Anstatt gegen ihren Willen die Schnabeltasse einzusetzen oder gar ihren Durst ungestillt zu lassen, habe ich es geduldig weiter mit einem normalen Glas versucht auf und nach ein paar Tagen klappte es dann auch wieder problemlos, d.h. ohne Flüssigkeit auf dem Schlafanzug.

Bei der Wiederherstellung der Mobilität – ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Schlüssel zur Selbstständigkeit - gab es das gleiche Problem. Alles war nach dem Oberschenkelhalsbruch beschwerlich und manches ging zunächst gar nicht mehr. Aber man darf nie zu früh aufgeben und muss ein Ziel vor Augen haben. In diesem Fall hieß das: Anstatt Einplanung der dauerhaften Benutzung eines Rollstuhls und essen im Bett für den Rest ihres Lebens war das gemeinsam geteilte Ziel: Mutter sollte wieder auf eigenen Beinen gehen und das Essen wieder gemeinsam am Tisch sitzend einnehmen können.

In diesem Problemfeld der Mobilität war für mich die Konsequenz aus einer beschämenden Erfahrung besonders wichtig: Manchmal muss man seinen gesunden Menschenverstand gegen die Einschätzung des Fachmanns setzen. So äußerte ein leitender Pfleger erfahrungsbasiert und im Brustton der Überzeugung: Wer mit 97 Jahren einen Oberschenkelhalsbruch erleide, könne nie mehr auf eigenen Beinen stehen, geschweige denn gehen. Der Fachmann hatte sich zum Glück gründlich geirrt: Schon nach wenigen Tagen zurück in ihrem Haus konnte Mutter wieder stehen, und nach wenigen Wochen wieder durch die Wohnung gehen (wenn auch mit Rolllator) – und das mit 97 Jahren.

Vorausgegangen war allerdings viel Arbeit, auch der Einsatz einer Physiotherapeutin, zwei Mal die Woche, jeweils ca. zwölf Minuten. Die professionell ausgeführten Übungen habe ich mir angeschaut, notiert und dann zwischendurch, also in ihrer Abwesenheit, angewendet. Die Therapeutin hat das mit Lob quittiert: Ohne meine täglichen Übungen zwischendurch hätte Mutter diese positive Entwicklung nicht genommen.

Ergänzende Aktivitäten sind also auch in diesem Fall nötig, wenn das anspruchsvolle Ziel "Wieder stehen und gehen können" erreicht werden soll. Zugegeben: Das Alles ist mühsam, oft sehr mühsam, manchmal mit Rückschlägen verbunden, und braucht Zeit und Geduld! Aber es lohnt sich für beide Seiten. Klar ist: ein solches Ergebnis kann nur im Schutzraum der Familie erzielt werden. Die "Personalnot" schließt das in Altenheimen aus.

Regel 3: "Kommuniziere auf Augenhöhe!"

Bekanntlich ist Sprache das Medium, das auch alte Menschen zu Menschen und ihr Leben würdig macht. Deshalb muss Sprache in allen drei Funktionen bis zum letzten Atemzug aktiviert bleiben, nämlich in der Funktion der Bezeichnung von Gegenständen, der Koordination von Handlungen und der Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls. Mit alten Menschen also reden, viel reden! Aber nicht im Ton der Belehrung, sondern auf Augenhöhe.

Dazu gehört auch und wesentlich, die Kommunikation in normaler Sprache und nicht im Modus von Kleinkindern zu führen, eine Form der Entmündigung alter Menschen, die nicht nur in Altenheimen und Krankenhäusern gang und gäbe ist. Bei dieser kommunikativen Herabsetzung - eine Form der Infantilisierung von Alten - wird die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns in der Regel weit unterschätzt.

Zur Erinnerung: Auch ein altes Gehirn besteht noch aus Abermilliarden von Neuronen, die genetisch auf "Arbeit" angelegt sind und die bei Nichtinanspruchnahme ihre Arbeit einstellen, d.h. ihre Verbindungen zu Nachbarneuronen deaktivieren oder ganz abbauen. Und dann geht die Abwärtsspirale schnell weiter nach unten.

Wichtig ist: Nur vollständige Sätze in korrekter Grammatik und mit reichem Vokabular halten die Gehirnzellen wirklich auf Trab, auch die eines alten Gehirns, auch in seinen logischen Funktionen. Die kognitiven Fähigkeiten alter Menschen werden immer wieder weit unterschätzt. In den meisten Fällen geht mehr als Ballspiele oder Mensch ärgere dich nicht, obwohl auch diese Modalitäten sinnvoll sind.

Aber immer muss es Kommunikation auf Augenhöhe sein, wie unter Erwachsenen üblich. Wer dagegen mit Alten wie mit Kleinkindern spricht, nimmt sie nicht ernst und untergräbt ihre Würde. Die Alten merken das! Deshalb noch einmal: Gelungene Kommunikation ist erstens eine zweistellige und zweitens eine symmetrische Relation, und nicht asymmetrisch von oben nach unten. Und sie wird in ihrer sozialen Funktion begleitet von Blicken und Berührungen, insbesondere der Hände.

Zu den ebenfalls häufig vorkommenden Kommunikationsfehlern gehört der: Pflegende, ob im Altenheim oder in der Familie, glauben oft fälschlicherweise, wenn alte Menschen nicht ersichtlich reagieren – zum Beispiel auf einen aggressiv gesprochenen oder vielleicht sogar beleidigenden Satz –, dann hätten sie ihn nicht gehört oder nicht verstanden. Solche Problemsituationen kommen immer wieder vor, insbesondere in Phasen der Überlastung, die mit zunehmendem Alter des Pflegebedürftigen zunehmen. Jeder, der einen alten Menschen über längere Zeit pflegt, kennt das. Auch ich habe solche Fehler gemacht.

Ein krasses Beispiel: Es war im 98. Lebensjahr von Mutter, nach dem Oberschenkelhalsbruch. Alles ging mal wieder daneben, hinsichtlich Nahrungsaufnahme, Toilettengang etc. - und außerdem war sie bockig. Dann habe ich nervlich überfordert reflexhaft "Leck mich am Arsch" gesagt. Der Satz war mir rausgerutscht und mehr vor mich hingesprochen, aber die Schallwellen waren nun einmal unterwegs und nicht mehr zurückzuholen. Es hat mir sofort leidgetan.

Ich wusste, dass sie die Bedeutung der Worte auch in ihrem hohen Alter noch verstehen konnte, hatte aber gehofft, dass mich ihre abnehmende Hörfähigkeit moralisch bei dem Vergehen entlasten könnte. Dem war leider nicht so. Nach ein paar Sekunden schaute sie mich nämlich traurig-strafend an und schüttelte mit dem Kopf. Mir blieb nur, sie um Verzeihung zu bitten, eine Bitte, die sie dann auch und zum Glück erfüllte.

Unterschätzte Kommunikationsfähigkeit und daraus folgende einseitige oder ritualisierte Kommunikation können das Vertrauensverhältnis und damit die Basis für das Gelingen von Pflege zerstören. Gelungene Pflege ist nämlich mehr als Verabreichen von Tabletten, Ernährung und Hygiene. Die Alten müssen ein gutes Gefühl haben, das in symmetrischer Kommunikation aufgebaut wird. Der alte Mensch darf sich niemals als Belastung empfinden. Deshalb besteht eine der wichtigsten Aufgaben der pflegenden Angehörigen darin, immer wieder das Gefühl zu vermitteln, geliebt und gewollt zu sein, trotz der anstrengenden Pflege.

Gelingt das, ist die Pflege gelungen. Der dafür erforderliche kommunikative Zeitaufwand ist groß, so groß, dass er von Pflegekräften eines Altenheims nicht geleistet werden kann - mag das Broschürenmarketing dieser Einrichtungen auch noch so vielversprechend sein. Zu verantworten hat das die Politik, nur die Politik!

Regel 4: "Pass auf die Alten auf – auch im Krankenhaus!"

Nach Mutters Oberschenkelhalsbruch war medizinisch zunächst nur Gutes zu vermelden: Der Notdienst war schnell zur Stelle und die Operation wurde unverzüglich und komplikationslos durchgeführt. Aber dann folgte eine Häufung von Missständen, von denen ich zwar schon gehört, die ich aber entweder für übertrieben oder für Einzelfälle gehalten habe. Jedenfalls wurde bestätigt, was eine Krankenschwester von einer Unfallstation ein paar Wochen vorher vor laufender TV-Kamera – erstaunlicherweise im Krankenhaus und als Person erkennbar – beim Vollzug ihrer Tätigkeit geäußert hat: Die Zeit reiche nie aus, um eine rundum gute Versorgung zu gewährleisten.

Priorität habe das Medizinische (Infusionen, Blutdruck messen etc.), aber je nach zeitlichem Umfang bliebe dann das Andere (Hygiene, Hilfe beim Essen und Kommunikation) auf der Strecke - und umgekehrt. Beim TV-Dreh stand sie gerade am Bett eines alten Patienten. Ihre Aussage: Frisch operiert plus Erschwernis durch sein fortgeschrittenes Alter sei dieser Mann nicht in der Lage, das Frühstück selbstständig einzunehmen.

Es würde mindestens zehn Minuten ihre Hilfe in Anspruch nehmen, womit ihr ganzes, für einen Patienten zur Verfügung stehendes Zeitbudget dann schon aufgebraucht sei. Und gebe sie diesem Patienten dieses Mehr an Zeit, fehle die Zeit beim nächsten Patienten etc. Ein unlösbares Problem also. Genauso habe auch ich es beim Krankenhausaufenthalt von Mutter erlebt, und genau so wurde es mir auch von vielen Anderen berichtet.

Drei Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung:

Essen: Ich kam in der Mittagszeit zum Besuch ins Krankenhaus. Auf dem Tischchen neben dem Bett stand das Mittagessen, noch abgedeckt. Dann kam eine Krankenschwester und wollte das Tablett abräumen. Zur Information: Gegessen hatte Mutter noch nicht. Darauf hingewiesen war ihre Antwort die: Sie müsse das Essen "aus hygienischen Gründen" abräumen. Ich habe ihr das Tablett – gegen ihren Willen – aus der Hand genommen, wieder auf das Tischchen gestellt und Mutter beim Essen geholfen. Zur Erinnerung: Sie war zu diesem Zeitpunkt nicht nur schon 97 Jahre alt, sondern frisch operiert. Ohne meine Anwesenheit hätte sie nichts gegessen, vielleicht in Wiederholung bei der nächsten Mahlzeit.

Tabletten: Ein anderes Mal lagen die Tabletten, die Mutter einnehmen sollte, auf dem Boden vor ihrem Bett. Vorausgegangen war mutmaßlich dies: Die Schwester hatte die Tabletten auf das Tischchen gelegt, Mutter wohl zur baldigen Einnahme aufgefordert und das Zimmer wieder verlassen. Ihr Versuch zur Einnahme ging dann daneben und die Tabletten fielen auf den Fußboden. Ich habe dann neue Tabletten verlangt und sie selbst verabreicht. Kurze Zeit später kam der Reinigungsdienst. Nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass die Tabletten ohne meine Anwesenheit anstatt in Mutters Magen im Müllsack der Reinigungskraft gelandet wären. Klar ist: Einem sehr alten Menschen die Einnahme der Medizin selbst zu überlassen, ist mehr als unverantwortlich.

Infusionen: Nach der Operation erhielt Mutter die üblichen Infusionen. Dann fiel mir auf, dass die Flüssigkeit nur mit auffällig großen Zeitabständen tropfte und das Behältnis auch nach zwei Stunden noch fast so voll war wie zuvor. Dann kam eine Krankenschwester ins Zimmer, grüßte freundlich, warf einen Blick in die Runde und wollte schon wieder gehen. Darauf aufmerksam gemacht, war ihre Antwort die: Das Problem trete bei sehr alten Menschen öfter auf. Sie nahm den Infusionsschlauch und knickte ihn an einer bestimmten Stelle. Das Problem war gelöst, d.h. die Flüssigkeit floss wieder normal. Kurze Zeit später trat das Problem erneut auf. Da ich jetzt wusste, wie es zu lösen war, nahm ich die Sache selbst in die Hand.

Soweit drei von vielen Beispielen, alle in einer einzigen Woche erlebt. Die ernüchternde Frage: Was passiert eigentlich mit all‘ den Alten, die keine Familienangehörigen haben, die sich um sie kümmern? Im ungünstigsten Fall sterben sie. "Organversagen" wird der fremd verschuldete Tod dann im Totenschein genannt. All das zeigt: Der Schutzraum Familie ist auch im Krankenhaus nötig.

Abschließende Bemerkungen zum politischen Versagen

Noch einmal: Die o.g. Missstände sind in erster Linie nicht dem Krankenhauspersonal, sondern der Politik zuzurechnen. So bleibt es bei der Eingangsthese: Der Wirkungsgrad von Politik ist negativ. In der Mehrzahl der Fälle jedenfalls und bei genauer Betrachtung. Zurzeit gibt es – mutmaßlich scheinbar – ein Gegenbeispiel: Die Politik erhält gute Noten, nicht beim Thema "Pflegenotstand", wohl aber mit Blick auf die "Coronakrise". Und nicht nur im Wege des Selbstlobs. Auch die Massenmedien bescheinigen insbesondere der Kanzlerin, sie habe die Krise "gut gemanagt".

Spätestens bei einem Blick in die Zukunft darf man Zweifel anmelden. Denn was war das "gute Management" des Coronaproblems, z.B. hinsichtlich Bewahrung der Lufthansa vor der Pleite mit neun Milliarden Euro staatlicher Stützung? Löcher aufreißen, um andere Löcher zu stopfen! M.a.W.: Hunderte Milliarden neue Schulden. So wird die Lösung für den Moment mit der Erzeugung eines neuen, in die Zukunft verlagerten Problems erkauft.

Das wiederum wird sich nur dann lösen lassen, wenn die Wirtschaft schon bald und in einem überdurchschnittlich langen Konjunkturzyklus "brummt", was – so die Konjunktur tatsächlich boomt – wiederum ein neues, anders geartetes Problem erzeugt, eine höhere Belastung der Umwelt nämlich, ein Problem, dessen Größe im Begriff "Umweltkatastrophe" deutlich wird und das die Politik - wiederum via "Tun durch Unterlassen" - selbst herbeigeführt hat.

Damit sind wir am Punkt eines Erklärungsversuchs für die negative Gesamtbilanz und mit Blick über den Moment hinaus. Vorausgeschickt: Selbstverständlich ist Politik kein einfaches Geschäft und selbstverständlich sind Politiker keine Dummköpfe, aber in mindestens zwei folgenreich zusammenhängenden Punkten haben sie ein grundsätzliches Defizit: Sie ignorieren das Komplexitätsproblem und neigen als Folge davon zur fortlaufenden Selbstüberschätzung. Stellvertretend für alle Erscheinungsformen dieses Problems steht das wohl geschichtsträchtige "Wir schaffen das!"

Das Verzwickte: Der Ausgangspunkt des Komplexitätsproblems ist eine menschliche Fähigkeit, über die kein anderes Lebewesen in diesem Ausmaß verfügt. Es ist die Fähigkeit, fortwährend Komplexität zu erzeugen (z.B. die Aufnahme von immer mehr und politisch und kulturell unterschiedlich verfassten Ländern in die EU), bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die selbst erzeugte Komplexität zu beherrschen. Im Ignorieren dieser Doppelseitigkeit entsteht die Illusion von der grenzenlosen politischen Gestaltbarkeit der Welt.

Sei diese Welt der Markt, das Gesundheitsweisen oder welch anderes Subsystem auch immer. Wird als Folge dieser (objektiven!) Unfähigkeit die Grenze zur Erzeugung von Überkomplexität überschritten, spätestens dann wird es kritisch, weil das Mehr an Freiheitsgraden, das mit der Zunahme von Komplexität einhergeht, ins Negative umschlägt und nicht kalkulierbare Nichtlinearitäten, Nebenwirkungen u.Ä. entstehen lässt – bis der Systemverlauf am Ende "chaotisch", also unbeherrschbar wird. Der demographische Wandel (mit dem "kleinen" Folgeproblem "Pflegenotstand") wie auch der Klimawandel scheinen diesen Verlauf hin zu einem chaotischen und nicht mehr steuerbaren Zustand zu nehmen.

Verstärkt wird dieses Problem der zunehmenden Nichtbeherrschbarkeit von selbst produzierter Komplexität durch einen Systemfehler: Die politische Klasse besteht – geschätzt – zu 80% aus Kommunikatoren und nur zu 20% aus fachlich getragenen Problemlösern. Eine Umkehrung dieses Verhältnisses wäre dringend nötig und würde Missstände und Katastrophen der o.g. Art zumindest unwahrscheinlicher machen. Bislang ist die typische Bewegungsform immer wieder die: Es muss zuerst was passieren, am "besten" ganz Schlimmes (z.B. terroristische Anschläge mit Toten, in größerer Anzahl vorzeitig sterbende Alte, bedrohlich steigende Meeresspiegel etc.), bis die Politik reagiert.

Echte Problemlöser dagegen werden gelenkt durch das Zusammenspiel von prospektischem Denken und prophylaktischem Handeln, das einen Verzicht auf Steigerung der Komplexität ausdrücklich einschließt. Leider ist ein Umbau der Politik hin zu diesen Kompetenzen nicht in Sicht. Stattdessen reihen sich immer mehr bestandkritische Probleme mit Zukunftspotenzial aneinander, die alle Folge der Begehungsform "Tun durch Unterlassen" sind. Hier nur eine kleine Auswahl: "Umweltkatastrophe" / "Altersarmut" / "Bildungsnotstand" / "Clankriminalität" / "Flüchtlingskrise" / "bedingte Einsatzfähigkeit der Bundeswehr" / "Wohnungsnot" / "Überforderung der Polizei" etc. etc.

Bei Berücksichtigung der Kombination von prospektischem Denken und prophylaktischem Handeln gäbe es diese Miss- und Notstände nicht. Der übliche Hinweis auf unzureichende finanzielle Mittel ist eine Ausrede, weil bis Ende 2019 aufgrund einer überdurchschnittlich langen wirtschaftlichen Boomphase die Steuereinnahmen 10 Jahre in Folge sprudelten.

Bleibt am Schluss noch die Frage, warum der von mir monierte negative Wirkungsgrad der Politik bislang nicht zu einem desolaten Gesamtzustand von Wirtschaft und Gesellschaft geführt hat. Die Antwort ist einfach: Weil es außerhalb der Politik - von Wiederwahltheater unbeeinflusst und von Logik geführt - Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker, Facharbeiter etc. als Problemlöser gibt, welche die laufenden Fehler der Politik durch gute tägliche Arbeit und auf dem Weltmarkt anerkannte Produkte kompensieren, in ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschrittszeiten sogar überkompensieren.

Wie mutmaßlich oder hoffentlich auch hinsichtlich Coronakrise: Nicht in erster Linie die Managementaktivitäten und ständigen und sich widersprechenden Verlautbarungen der Politiker, sondern die harte und fachlich hochqualifizierte Arbeit der Virologen und Epidemologen wird letztendlich das Problem lösen. Hoffen wir es auch deshalb, weil die Problemlösung nicht zuletzt den sträflich vernachlässigten Alten und Altenpflegern zugutekäme.

Prof. em. Dr. Winfried D’Avis forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten (Frankfurt, Klagenfurt, Perugia, Changsha) zu den Themen Logik der Forschung, Cognitive Science und Informationsgesellschaft. 2020 erschien sein Buch "Zu Hause… bis zum letzten Atemzug - Betreuung und Pflege in der Familie" [1]


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