Pleitenschneepflug

Grafik: TP

Die Bundesregierung verschiebt die Pflicht, bei Überschuldung Insolvenz anzumelden, weiter in die Zukunft

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Im April, Mai und Juni 2020 gab es in Deutschland trotz der Coronapandemie weniger Insolvenzanmeldungen als in den Vergleichsmonaten des Vorjahres. Die Ursache dafür war, dass die Bundesregierung im März mit Verweis auf diese Pandemie die Pflicht zum Stellen eines Insolvenzantrags für überschuldete und zahlungsunfähige Unternehmen bis zum September aussetzte.

Für überschuldete Unternehmen (aber nicht für zahlungsunfähige) hat sie diese Aussetzung nun bis Dezember verlängert. Justizministerin Christine Lambrecht begründete das damit, dass bei solchen Unternehmen eine "Aussicht auf eine dauerhafte Sanierung" bestehe, "wodurch Arbeitsplätze erhalten und bestehende Strukturen bewahrt werden könn[t]en". Kritiker in Sozialen Medien glauben, dass es noch ein anderes Motiv geben könnte, welches die Politiker der Regierungsparteien nicht offen äußert: Die Bundestagswahl im Herbst 2021 (vgl. 12,793 Millionen Arbeitslose in der Euro-Zone).

Domino-Effekt

Sie befürchten, dass eine mehrfach aufgeschobene Insolvenzanmeldungspflicht wie ein Schneepflug wirkt, der eine immer größere Menge irgendwann unvermeidlicher Pleiten vor sich herschiebt - und dass dieser Haufen irgendwann so groß werden könnte, bis der Schneepflug steckenbleibt. In der Antwort auf eine Parlamentarische Anfrage der Linkspartei dazu heißt es, die Banken hätten im Falle einer Erhöhung der Insolvenzantragszahlen nach einer Wiedereinführung der Insolvenzantragspflicht genügend Eigenkapitalreserven, um Kreditausfälle zu bewältigen, eine Überlastung der Gerichte sei nicht erkennbar, und zu den Folgen für den Arbeitsmarkt habe sie "keine Erkenntnisse".

Die Bundesregierung muss allerdings einräumen, dass "mit dem Ansteigen des Risikos von Insolvenzen in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten […] auch das Risiko [von] Folgeinsolvenzen [steigt]". Diesen Domino-Effekt gibt es unter anderem deshalb, weil Lieferanten und andere Gläubiger solcher Firmen dann auf ihren Forderungen sitzenbleiben. Werden sie für ihre Lieferungen und Dienstleistungen nicht bezahlt, müssen sie eventuell selbst Insolvenz anmelden. Das hat dann entsprechende Folgen für ihre eigenen Lieferanten und Dienstleister und so weiter …

Aber in einer Situation, in der eigentlich insolvenzantragspflichtige Firmen keinen Insolvenzantrag stellen müssen, sind nicht nur Lieferanten und Dienstleister gut beraten, mit besonderer Vorsicht und Zurückhaltung zu agieren. Auch Arbeitnehmer (vgl. Wer bei Lohnzahlungs-Verzögerung nicht sofort kündigt, den bestraft die Rechtslage) und Kunden müssen aufpassen: Letztere sind dem Risiko ausgesetzt, für Anzahlungen und Vorauszahlungen keine Leistungen mehr zu erhalten. Hat der Insolvenzverwalter das Ruder übernommen, ist die Geltendmachung von Ansprüchen zudem mit einem Aufwand verbunden, der oft unverhältnismäßig hoch sein wird.

Risikobranchen

Freilich sind nicht alle Branchen in gleichem Umfang von einer aufgeschobenen Insolvenz bedroht: Zu den risikobehafteteren zählen neben der Veranstaltungsbranche, der Reisebranche und der Gaststättenbranche auch solche, bei denen die Coronakrise einen Strukturwandel beschleunigen könnte - darunter auch der Einzelhandel in den Innenstädten.

Verbraucher kaufen dort nun weniger oft ein als früher - weil sie eine Ansteckung fürchten, weil sie öffentliche Verkehrsmittel meiden und keine Parkplätze finden, weil sie nicht vor einem Geschäft warten möchten, bis jeder Kunde seine eineinhalb Meter Platz hat, weil sie mit einer beschlagenen Brille keine Preisschilder und Produktbeschreibungen lesen können oder weil sie ein Nasen-Mund-Schutz aus anderen Gründen beim Einkaufserlebnis stört. Das beschleunigt den Umstieg vom Vor-Ort- auf den Online-Einkauf (vgl. Coronavirus: Amazon schreibt 100.000 Stellen aus). Boris Hedde, der Geschäftsführer des Kölner Instituts für Handelsforschung (IFH), ging bereits im Frühjahr davon aus, dass die in seinem "Handelsszenario 2030" beschriebene "Entwicklung nun im Zeitraffer abläuft". Vor allem dann, wenn die Verbraucher im Zuge einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft zusätzlich sparsamer werden.

In der Politik werden deshalb Forderungen laut, die bis hin zu einem Verstaatlichen der Innenstädte reichen. Der Cottbusser Volkswirtschaftsprofessor Jan Schnellenbach hält das für falsch: "Die Leute", so Schellenbach, "lassen sich ihre Sachen zunehmend gerne nach Hause liefern. Wieso sollte man gegen einen Präferenzwandel politisch angehen? Und kann man sich wirklich nichts anderes als Shopping vorstellen, was Innenstädte interessant machen könnte?"

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