Polarisierung in der Pandemie: "Neue Regierung sollte Gesprächsfaden wiederherstellen"
Der Internist Matthias Schrappe über die Rolle Ungeimpfter, Rückschritte in der wissenschaftlichen Debattenkultur und die Aufgaben der kommenden Berliner Regierungskoalition
Herr Schrappe, die Tagesschau hat unter Berufung auf eine Ihrer Kolleginnen für eine Impfquote von 75 Prozent geworben, der Spiegel mahnte unter Berufung auf das RKI 85 Prozent an. Wer hat recht und mit welcher Zahl kommen wir endlich aus der Pandemie raus?
Matthias Schrappe: Eine hohe Impfquote ist sicherlich wichtig, aber natürlich spielt auch die erworbene Immunität durch durchgemachte Infektionen eine Rolle. Wir stehen mit einer Positivitätsrate – dem prozentualen Anteil der positiven PCR-Tests – von knapp 20 Prozent ungefähr da, wo Madrid oder London vor einem Jahr standen.
Aus der Pandemie rauskommen, das ist allerdings die falsche Ansage, weil dies impliziert, es gäbe irgendwann kein Corona mehr, was unter dem Stichwort "No Covid" subsumiert wird.
Was wir schaffen werden, und da gibt es überhaupt keinen Zweifel, ist die Überführung in ein Gleichgewicht mit hoher Immunität in der Bevölkerung bei gleichzeitig immer wieder auftretenden Herden, die aber bei bestehender Grundimmunität keine großen Auswirkungen haben werden, jedenfalls nicht größer als bei anderen Infektionen und Gesundheitsrisiken.
Das heißt, das Impfen allein wird keine Lösung bringen?
Matthias Schrappe: Wir haben immer gesagt, so vor allem in unserem Thesenpapier 7 im Januar 2021, dass die medizinischen Interventionen durch das Impfen stets durch nicht-pharmakologische Interventionen flankiert werden müssen. Das ist das Grundgesetz jeder Impfkampagne.
Und hier muss man wissen, was man tut: Es reicht nicht, allgemeine, ungezielte, letztlich stumpfe Maßnahmen zu ergreifen, sondern man muss sich die Mühe machen, und dafür ist es nie zu spät, sich die Zielgruppen herauszusuchen, die man besonders ansprechen muss. Jetzt sind das etwa Migranten und sozial schwache Bevölkerungsgruppen.
In der Präventionspraxis gibt es hier hervorragende Konzepte, und der Regierungswechsel sollte Hoffnung geben, dass man sich endlich auf einen fachlich adäquaten Weg begibt. Hoffentlich werden wir nicht enttäuscht.
Sind Sie denn geimpft und halten Sie Impfen grundsätzlich für sinnvoll?
Matthias Schrappe: Ich halte impfen für sehr sinnvoll und bin auch selbst geimpft. Aber dies ist kein Grund, diejenigen zu verunglimpfen oder zu beschimpfen, die sich anders entscheiden. Eine solche Polarisierung schadet viel mehr als sie angeblich nützt. Sie verursacht den Rückzug der rivalisierenden Gruppen in ihr eigenes Begriffsgebäude, man redet nicht mehr miteinander, und das ist das Ende jeglicher Einflussnahme.
Die neue Regierung sollte an diesem Punkt Verantwortung übernehmen, nämlich den Gesprächsfaden wieder herzustellen, Wertschätzung für alle Positionen gleichermaßen zu zeigen und damit den Diskurs wieder in Gang zu bringen. Alles andere ist einer modernen Gesellschaft nicht würdig.
Komplexes Pandemiegeschehen trifft auf komplexe Gesellschaft
Weshalb aber, denken Sie, lassen sich keine sicheren Prognosen zur Impfkampagne treffen?
Matthias Schrappe: Aus einem ganz einfachen Grund: Es gibt keine komplexere gesellschaftliche Intervention als eine Impfkampagne. Wie wir es gemerkt haben, es geht nicht nur um einen Piks, sondern es treten Lieferschwierigkeiten auf, die Präparate konkurrieren gegeneinander, es treten Nebenwirkungen auf, es bilden sich differierende Meinungen und Haltungen – wie das zuletzt bezüglich des Impfstoffs von Moderna zu beobachten war.
Und diese Intervention trifft ein so komplexes Gebilde wie eine ganze Gesellschaft, die auch bei anderen Fragen, nehmen wir das Beispiel Besteuerung, nicht einheitlich reagiert.
In der Versorgungsforschung nennen wir das die "doppelte Komplexität" von Intervention und Kontext. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es hier anders als bei der "Epidemie" des Herzinfarktes, manchmal wird dieser Begriff ja hier verwendet, mit einem übertragbaren Infektionserreger zu tun haben, der sich auch noch verändern kann. Herzinfarkte sind nun mal nicht ansteckend und mutieren nicht.
Wie erklären Sie sich dann aber die Fokussierung auf die Impfungen und - damit einhergehend - die Ungeimpften?
Matthias Schrappe: Man muss es ganz klar sagen: Impfung ist gut, aber die ausschließliche Konzentration auf die Impfung als einzige gezielte Präventionsmaßnahme ist ein Armutszeugnis. Die vor der Impfkampagne fehlende Fokussierung auf die vulnerablen Gruppen, insbesondere die Älteren, ist uns ja bei Beginn der Impfkampagne sofort auf die Füße gefallen.
Denken Sie nur an die elenden Diskussionen um die Impfpriorisierung. Und jetzt sind wir bei den flankierenden nicht-pharmakologischen Maßnahmen schon wieder im Niemandsland der Vorstellungskraft angelangt.
Stattdessen werden globale Maßnahmen diskutiert – lieber sperrt man alle ein, als dass man sich überlegt, wo ein Eingreifen besonders Not täte.
Infektionen bei Kindern zu sammeln, ist ja gut, aber das ist nicht der Schwerpunkt der Entwicklung. Wir haben eine Krise, und da muss man seine Kräfte dort einsetzen, wo der Handlungsdruck am höchsten ist.
In einem letzten Thesenpapier, das Sie mit Kolleginnen und Kollegen verfasst haben, bezeichnen Sie die Pandemie als komplexes System, dem mit Einzelmaßnahmen nicht beizukommen ist. Wie aber dann?
Matthias Schrappe: Komplexe Systeme, das ist die Grundeinsicht, sind weder durch Kraftparolen noch durch einzelne Messwerte zu charakterisieren und zu steuern. Komplexe Systeme muss man aus vielen Perspektiven betrachten, man muss sozusagen ein Netz aufspannen, um das Verhalten eines komplexen Systems kennenzulernen - und man kann es kennenlernen. Aber man muss sich von denjenigen fernhalten, die schon immer alles besser gewusst haben.
Im Unterricht verwendete ich immer das Bild des Sees: einen Stein reinwerfen und warten, in welcher Form die Wellen zurückkommen. Das ist das probate Mittel gezielter Einzelinterventionen, aus denen man lernt, aus denen man Schlüsse zieht.
Aber seit der unseligen Diskussion über die Bundesnotbremse im Frühjahr haben wir uns ja völlig von der Generierung solcher Erfahrungen zurückgezogen und tun so, als entwickele sich die Epidemie wie eine Gesamteinheit im ganzen Land überall gleich.
Dezentrale Experimentierklauseln aber sind eine wichtige Lösung. Eine kompetente Führung ruft dazu auf und ermutigt. Auch wenn sich mal negative Folgen zeigen würden, kommt man insgesamt durch diese Erfahrungen weiter und kann Leben retten.
Warum Ansagen von oben in der Pandemie nicht weiterhelfen
Inwieweit, denken Sie, scheitern die Politik und die gesellschaftliche Psyche an dieser Komplexität?
Matthias Schrappe: Die Versuchung eines "Durchregierens" ist zu groß. Unsere Gesellschaft ist anders als zu Zeiten Robert Kochs, in denen bürokratische Systeme zur Seuchenbekämpfung noch ein großer Fortschritt waren.
Heute stehen wir – wie zuvor erwähnt – einem hochkomplexen System gegenüber, das nicht mehr allein durch "klare Ansage" zu regieren ist. Und jetzt bietet sich plötzlich die Chance, es doch zu versuchen. Und dann kommt die Verführung hinzu, das Thema im politischen Machtkampf zu nutzen. Nachdenken und überlegen - das ist doch Verschwendung von Zeit, die uns im Kampf fehlt!
Eine große deutsche Partei ist dabei so weit gegangen, dass sie sich eine Niederlage im Bundestagswahlkampf eingehandelt hat, aber schauen Sie, wie wenig dies thematisiert wird. Die breitbeinigen Großsprecher haben immer noch Konjunktur.
Daher auch die Angriffe gegen die Ständige Impfkommission und auch Ihre Gruppe?
Matthias Schrappe: Das ist reine Wissenschaftsfeindlichkeit. Hinzu kommt auch grundsätzlich eine zunehmende Diffamierung des intellektuellen Diskurses. Es heißt immer wieder, zu viel Nachdenken schadet nur, sei ein Zeichen von Schwäche.
Die größten Fortschritte der letzten Jahrzehnte, etwa die Entwicklung der Methodik der evidenzbasierten Medizin zur Bewertung und Sichtung des vorhandenen Wissensstandes, sind bereits schwer beschädigt worden. Wir werden noch lange mit den Nachwirkungen zu tun haben.
Sie waren Mitte Mai in einem Positionspapier der These einer Überlastung der Intensivstationen entgegengetreten und hatten heftigen Gegenwind bekommen. Wenig später bestätigte der Bundesrechnungshof ihre Thesen. Was war da geschehen?
Matthias Schrappe: Wir haben das zentrale Narrativ zerstört, dem zufolge man sich mit dem Lockdown zufriedengeben solle, weil man sonst vor den Intensivstationen ersticken würde.
Wir haben schlicht nachgewiesen, dass die Mittel zur Unterstützung der Krankenhäuser gar nicht bei den Ärzten und Pflegenden vor Ort, also im Behandlungszusammenhang, angekommen sind, sondern zur Verschönerung der Bilanzen und Dividendenzahlungen verwendet wurden.
Es wurden Intensivbetten bezuschusst, die nie aufgestellt wurden, und plötzlich kam es zu einem Pflegekräftemangel - ohne dass aus der politischen Führung entschieden gegengesteuert worden wäre.
Es wäre eine gute Option gewesen, statt mit hängenden Schultern die neuen Zahlenanstiege zu verkünden, eine konzertierte Nationale Pflegekampagne ins Leben zu rufen. Wertschätzung!
Statt knapp 35.000 Intensivbetten, heute sind es 22.000, hätte man 45.000 bei einer solchen Notlage aufstellen müssen. Wo war der Appell? Wo war der politische Wille? Und wenn man so etwas zum Ausdruck bringt, dann gibt es halt Gegenwind. Der Bundesrechnungshof hat das alles dann noch viel deutlicher gesagt.
Beim ZDF verteidigte man die Kritik an Ihrer Arbeit später mit dem Argument, es habe "methodische Mängel" gegeben. Was würden Sie heute anders machen?
Matthias Schrappe: Es kann immer mal einen Fehler geben. Wir haben eine einzige Zahl falsch berechnet und haben das schon nach 24 Stunden korrigiert. Wir sind Ehrenamtler, wir haben eben keine Institute hinter uns, die eine Kampagne tragen, und niemand ist absolut fehlerfrei.
Warum denken Sie, werden sich Polarisierung, Ausgrenzung und eine toxische Debattenkultur nachhaltig auf Medizin, Wissenschaft allgemein und Gesellschaft auswirken?
Matthias Schrappe: Wir sehen einen großen Backlash hin zu einem linearen und "einfachen" Denken. Da dieser Rückfall auf mehreren Gebieten gleichzeitig auftritt – hierzu haben wir in Thesenpapier 8 ein ganzes Kapitel zur "politischen Theorie der Epidemie" verfasst – besteht tatsächlich die Gefahr, dass sich dieses überholte Topdown-Konzept für eine Zeitlang stabilisiert.
Es hat natürlich keine Zukunft, denn eine Gesellschaft ist heute nicht mehr von oben nach unten zu organisieren. Aber bis dahin können enorme Schäden auftreten.
Ich komme nochmals auf die Impfgegner zurück: wenn man eine Bevölkerungsgruppe dermaßen ins Abseits stellt, dann bewirkt das ein Auseinanderdriften, das für die Gesamtgesellschaft nicht gut sein kann.
Natürlich stellt sich bei den "Guten", und dies sind im Innenbild ja immer beide Gruppen, zunächst eine Beruhigung, eine autosuggestive Bestärkung ein. Aber auf Dauer ist dies Gift für jede Gesellschaft.
Matthias Schrappe ist emeritierter Professor für Innere Medizin. Von 2007 bis 2011 war er stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung im Gesundheitswesen.