Polen: Der rechte Monolith bröckelt
Seite 3: Corona – was für Corona?
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Man könnte Polen nahezu beneiden. Die Herbstwelle der Delta-Variante des Corona-Virus und die darauffolgende Omikron-Welle gingen und gehen an Polen scheinbar nahezu spurlos vorbei.
Zwar kündigt der Gesundheitsminister seit November des Vorjahres eine baldige Einführung strikterer Maßnahmen an, doch wer in den letzten Monaten durch das Land reiste, konnte sich kaum des Eindrucks erwehren, dass Polen die Corona-Pandemie bereits hinter sich haben würde.
Menschen mit Masken waren in Geschäften und Verkehrsmitteln immer seltener anzutreffen, keine Kontrollen der Covid-Zertifikate, das Testangebot dürftig, nur knapp die Hälfte der Bevölkerung geimpft und in den Staatsmedien das Thema Corona unter "ferner liefen" behandelt.
Vordergründig thematisierten diese den "hybriden Krieg" an der Ostgrenze zu Belarus. Ein weiteres "Thema" war eine ominöse "Tusk-Steuer", die angeblich für die aktuelle Inflation verantwortlich zeichne. Wären da nicht täglich zwischen fünf- bis siebenhundert Covid-Tote, die die Statistiken jeden Tag auswiesen, würden nicht private Medien tagtäglich von ausgebrannten Ärzten und überfüllten Intensivstationen berichten, hätte sich die Regierung entspannt auf die Schulter klopfen können.
Parteichef Kaczyński und Premierminister Morawiecki appellierten regelmäßig an die Bevölkerung, sich impfen zu lassen und Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten. Doch die Appelle wurden von Aussagen des Staatspräsidenten Duda und seines Beraters konterkariert, die die Wirkung der Corona-Impfung in Zweifel zogen.
Auch innerhalb der PiS-Partei entstand ein impfskeptischer Block von dreißig Abgeordneten, der alle Projekte zu Verschärfungen der bisherigen Maßnahmen oder zur Impfpflicht torpediert. Blickt man auf die Covid-Inzidenztafel, so sieht man, dass sich Gebiete mit den niedrigsten Impfraten, mit den höchsten Todeszahlen und dort, wo die Krankenhäuser am schwersten überlaufen sind, relativ exakt mit den Wahlpräferenzen der dortigen Bevölkerung decken, dem Stammgebiet der PiS-Wähler im Osten und Südosten Polens.
Diese Wahlarithmetik spiegelt die Impfpolitik der Regierung wider, deswegen schreckt sie auch trotz täglich Hunderter neuer Covid-Opfer vor weiteren Verschärfungen zurück. Mit Blick auf einige Prozentpunkte in der Wählergunst setzt sie ihr zynisches Menschenopfer fort. Laut Berechnungen des britischen The Economist hatte Polen mit 466 Menschen auf 100.000 Einwohner nach Bulgarien, Litauen und Rumänien die dritthöchste Übersterblichkeit aller EU-Länder. Im weltweiten Ranking belegt Polen den unrühmlichen zehnten Platz.
Gesundheitsminister Adam Niedzielski, dem unabhängige Experten Kompetenz bescheinigen, soll ob seiner Ohnmacht in der Regierung mittlerweile "extrem frustriert" sein und überlegt, das Handtuch zu werfen. Doch anstatt die Ausbreitung des Virus einzudämmen, muss er sich dem politischen Willen der PiS beugen, zumal immer mehr PiS-Abgeordnete seine Arbeit offen sabotieren.
So werden Vorhaben, wie etwa die Möglichkeit, den Impfstatus der Arbeitnehmer durch Vorgesetzte zu prüfen, seit Monaten blockiert. Anfang Januar sind zudem 13 von 17 Mitgliedern des medizinischen Beirats des Premierministers zurückgetreten, weil deren Empfehlungen zur Kontrolle der Corona-Pandemie nicht ausreichend berücksichtigt wurden.
Die medizinischen Berater haben in ihrer Stellungnahme vermerkt, die Regierung würde im zunehmenden Maße das Verhalten jener Bevölkerungsgruppe tolerieren, welche die von Covid-19 ausgehende Bedrohung und die Bedeutung der Impfung leugne. Sie warfen der Regierung vor verabsäumt zu haben, sich der Bedrohung seitens der Omikron-Variante zu stellen, trotz einer erschreckend hohen Zahl der prognostizierten Todesfälle.
Die Experten gehen von täglich bis zu 100.000 neuen Infektionsfällen aus, was sich bei der niedrigen, gerade mal 56-prozentigen Durchimpfungsrate der polnischen Bevölkerung, verheerend auf die Spitalsauslastung und auf die Mortalität auswirken könnte. Zwischen November 2021 und 19. Januar 2022 sind in Polen 26.053 Menschen an Covid-19 verstorben.
In einer Meinungsumfrage für die Zeitung Rzeczpospolita gaben 66 Prozent der Befragten an, dass die Regierung schlecht vorbereitet in die Omikron-Welle hineingeht, knapp 60 Prozent wünschen sich die Einführung von Covid-Pässen und Beschränkungen für Ungeimpfte.
Jarosław Kaczyński gebraucht gerne den Begriff des "Impossibilismus", um die Politik seiner Vorgänger zu charakterisieren – das Unvermögen, einen schwachen, dysfunktionalen, vor sich hin driftenden Staat zu ändern. 2019 sagte er in einer Rede, dass er Polen aus der Umklammerung dieser schlimmsten Krankheit entrissen hätte. Der Preis dafür war aber hoch – zu hoch, wie inzwischen die meisten Polen glauben.