Politikmüde: 80 Prozent der Polen gingen nicht zur Wahl
Polen hat der EU, vor allem aber der eigenen politische Klasse einen Denkzettel verpasst
Für alle Parteien in Polen war der Urnengang zur Europawahl ein Vorgefecht, für einige bereits vielleicht das letzte Gefecht vor den Wahlen zum Sejm und Senat oder für manche überhaupt bei Parlamentswahlen. Ob die Wahl noch im August oder dann im Herbst oder erst im kommenden Jahr stattfindet, hängt ganz davon ab, ob die Regierung unter Marek Belka in Kürze noch das Vertrauen des Sejms gewinnen kann.
Der 52-jährige Finanzexperte, durch und durch zum Neoliberalen gewendeter Sparkommissar, war zuletzt in der US-Zivilverwaltung in Bagdad zuständig für den Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft. Belka fuhr erst einmal mit Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz, im polnischen Volksmund auch Ölminister ohne Öl genannt, ohne jede parlamentarische Legitimation und offenbar auch ohne jeden Rückhalt in der Bevölkerung nach Brüssel, wo über EU-Kommissionsvorsitz und EU-Verfassung entschieden werden sollte. "Wenn es Polen schadet, werden wir mit Sicherheit nicht dafür sein", verkündet Cimoszewicz sybillinisch, um im Nachhinein jede Entscheidung rechtfertigen zu können.
Obwohl Polen in Brüssel bei künftigen Abstimmungsmodalitäten ein Kompromiss eingeräumt wurde, der in etwa dem entspricht, was ursprünglich in Nizza vereinbart war, tobt dennoch die Opposition, weil Polen keinen expliziten Gottesbezug im Verhandlungsergebnis zum Verfassungsentwurf durchsetzen konnte. Allein dies reicht aus, die Regierungskrise weiter zu verstärken. Als sicher gilt ein polnisches Referendum über die EU-Verfassung. Weniger ernst sind Forderungen der Opposition nach Neuverhandlungen des EU-Beitrittsvertrags zu nehmen.
Ein einziges politisches Chaos
"Die Polen haben nicht Europa den Rücken gekehrt, sondern den Regierenden bei sich zu Hause", meint Roman Gutkowski, Politologe und Chefredakteur der unabhängigen EU-Wahl-Homepage . Eines kann man mit Sicherheit aus dem Wahlergebnis der Europawahl in Polen ablesen, nämlich eine geballte Absage an die verheerende politische Landschaft und das Parteiengefüge. Dem, was man allgemein als die "politische Klasse" bezeichnet, zeigten fast 80 Prozent der Wahlberechtigten die kalte Schulter. Bis auf 20,87 Prozent blieben sie einfach der Wahl fern und folgten nicht einmal den Appellen der Bischöfe, eine Haltung, die schlicht revolutionär für Polen ist.
Spekulativ, ob nun den Menschen die Bedeutung des EU-Parlaments nur noch zu fremd und undurchsichtig erschien, zu weit von ihren Sorgen und Alltagsnöten entfernt oder ob sie sich in den unzähligen Parteien, die zur Wahl antraten, einfach nicht wieder fanden. Mit Sicherheit hatten mehr Menschen in Polen im Mai den EU-Beitritt gefeiert, als sich nun zur EU-Wahlurne bewegten. Skotnicka-Illasiewicz, Soziologin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), führt die geringe Wahlbeteiligung und das Ergebnis darauf zurück:
In der Europäischen Union sind wir erst seit sechs Wochen, und im Lande erleben wir gleichzeitig ein einziges großes politisches Chaos. Dazu kam noch das verlängerte Fronleichnamswochenende und sonniges Wetter.
Auch die bedingungslose Treue zu den USA, weit verbreitet in der politischen Landschaft Polens, hat an Attraktivität beim Wahlvolk verloren und zur Wahlmüdigkeit beigetragen. Gerade jetzt, da die wortreich versprochenen Aufträge für polnische Firmen beim Wiederaufbau des Irak ausblieben und Präsident Kwasniewski Anfang des Jahres als Bittsteller nach Washington reiste, um George Bush wenigstens ein paar Lockerungen bei der Visapflicht zu entlocken, die er aber auch nicht, wachen Menschen in Polen allmählich aus ihrer Kriegseuphorie auf und wissen nicht mehr, wer da noch für sie wählbar erscheint. Feierte man vor einem halben Jahr die polnische Besatzungszone im Irak als "neuen Bezirk Polens", so stellen sich inzwischen immer mehr Leute die Frage, was der Irakkrieg Polen außer Schulden und toten Soldaten brachte. Selbst aus dem Regierungslager kam plötzlich die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, das Geld, das in den Irakeinsatz floss, für Sozialausgaben zu verwenden.
Doch wen wählen? Eine Antikriegspartei? Da gab es nur mit Chancen Rechtspopulisten oder Chancenlose wie die 0,03 %- Partei der Grünen oder eine aussichtslos zerstrittene Linke. Gegen Nationalismus und steigenden Antisemitismus musste man Befürworter des Irak-Krieges oder Marktradikale oder gar beides in Kauf nehmen.
Präsident Aleksander Kwasniewski machte es sich nach diesem Wahlergebnis leicht und kanzelte ganz nach Schröderart die Wahlenthaltung als "Beweis der Unreife der polnischen Zivilgesellschaft" und als unverantwortlich ab. Die deutschen Industriellen, vor denen er daraufhin mit Schröder im Berliner Palast der Republik seinen großen Auftritt hatte, bringen da wohl seiner Politik des Sozialabbaus mehr Verständnis als die unreifen Polen entgegen oder besonders vier Millionen allein erziehende Polinnen, die seit Monaten ihre Erziehungshilfe durch Verwaltungsumstellungen nicht erhielten und denen zum Teil deshalb bereits der Strom abgedreht.
Das sozialdemokratische Bündnis der Demokratischen Linken (SLD), ein super gewendeter Überrest der alten kommunistischen Staatspartei - nun neoliberal, Amerika- und NATO-treu -, samt der mit ihm koalierenden etwas linkeren Union der Arbeit (UP), die sich nie durchsetzen kann, erhielt nur noch ein Zehntel jener 5,4 Millionen Stimmen, mit der es 2001 an die Regierung kam. 340.000 Stimmen für die Abspaltung Sozialdemokratie Polens unter dem nun mehrfachen Wendehals Marek Borowski , die knapp noch die 5-Prozent-Hürde nahm, rundete die Schlappe von Kwasniewskis durch zahlreiche Korruptionsaffären, Vetternwirtschaft und politische Fehlentscheidungen gebeuteltem Lager ab.
Sie hätten selbst gerade einmal noch das eigene Fell gerettet, schreibt der Drehbuchautor und Publizist Krzysztof T. Toeplitz, der selbst als Kandidat bei der Wahl scheiterte, am Dienstag nach der Wahl voller ungewohnter Selbstkritik im ehemaligen Parteiorgan Trybuna.
Die konservativen, religiös und national ausgerichteten Parteien sind die Gewinner
Eindeutiger Sieger unter den acht Parteien, die sich nun die 54 polnischen EU-Parlamentssitze teilen, ist die konservativ-national ausgerichtete Bürgerplattform (PO) mit 24 Prozent und 15 Mandaten. Zur Überraschung landete gegen alle Wahlprognosen die sich katholisch-nationalistisch gebende und mit antisemitischem und faschistoidem Vokabular operierende Liga Polnischer Familien (LPR) mit knapp 16 Prozent und 10 Sitzen auf dem zweiten Platz. Beide Parteien profitierten von einer vor der Wahl in den Medien entbrannten Kampagne gegen sexuelle Aufklärung Jugendlicher und für die Erhaltung "polnischer Werte".
Gestärkt wurden aber auch stark rechtskonservative Gruppierungen wie Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit 12,67 Prozent und 7 Sitzen und die bäuerlich wertkonservative Polnische Volkspartei (PSL) mit 6,34 Prozent und 4 Sitzen. PO, PiS und PSL sind mit der CDU/CSU in der Europäischen Volkspartei und im EU-Parlament in einer Fraktion verbunden.
Wo in Europa außer vielleicht Irland wäre es noch möglich, dass öffentlich-rechtliche Sender und führende Tageszeitungen sich zum Sprachrohr einer Kampagne gegen einen Hochschulprofessor wie den Warschauer Prof. Zbigniew Izdebski machen, der eine repräsentative Untersuchung über den sexuellen Aufklärungsstand und das Wissen über Verhütung und Aids bei Abiturientinnen und Abiturienten durchführte, weil dieser damit doch noch "unschuldige Kinder" verderbe? Wo wird ernsthaft noch von einer Wissenschaftlerin wie der Krakauer Professorin Teresa Król gefordert, die Vagina oder Scheide in solchen Zusammenhängen nur als "Gefäß der Liebe" (naczynie milosci) zu bezeichnen und zu verschweigen, dass es auch orale Sexpraktiken gibt?
Auch die Einmischung der konservativsten Kräfte im polnischen Episkopat kam diesen Gruppierungen zugute und trieb Kirchgänger nach der Sonntagsmesse zur Urne, um dort Polen vor "säkularer Unterwanderung" zu retten. So hatte gar der Lubliner Erzbischof Kardinal Jozef Miroslaw Zycinski am Freitag vor der Wahl seine Schäfchen im erzreaktionären Sender Radio Maryja ermahnt, wer nicht oder wer nicht richtig wähle, der versündige sich.
Dabei ist Zycinski unter den politisierenden Bischöfen noch einer der Liberalsten. Er gibt sich als Anhänger des Rationalismus aus und sucht nach einem Kompromiss zwischen Wissenschaft und Religion. Zycinski ist im Gegensatz zu Aktivwahlkämpfern wie Militärbischof General Slawoj Leszek Glodz (auch mit deutscher Information) gegen die Todesstrafe und gegen die Bestrafung von Frauen, die abgetrieben haben. Zycinski tritt im Gegensatz zu einigen erklärten Antisemiten in Episkopat und Klerus für einen jüdisch-christlichen Dialog ein und gibt den Kirchenreformer.
Doch ist nicht auszuschließen, dass er sich dem Druck seiner Kollegen beugt und selbst Positionen gegen die Juden, die Freimaurer, die Muslime, die Kosmopoliten, die säkularen oder protestantischen Europäer bezieht, besonders, da er seit einiger Zeit als Nachfolger Kardinals Glemps an der Spitze der Kirche Polens im Gespräch war, doch Nachfolger wurde der erzkonservative Jozef Michalik, bekannt geworden als Verharmloser des Massakers an Juden in Jedwabne. Nebenbei ist Zycinski ein erklärter Feind aller Linken und alles Linken, auch dessen, was wohl nur er dafür hält. Welch ein sündiges Land bei 80 % Nichtwählern und zahllosen "Nicht-Richtig-Wählern"!
Selbst die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung kritisiert schon länger die mediale Unterstützung der LPR durch den "berüchtigten integristischen Sender "Radio Maryja"; unter seinen führenden Politikern befinden sich Jan Olszewski (Premier 1992) und Antoni Macierewicz (das polnische Pendant zu Ayatollah Khomeini)".
Mehrzahl der EU-Abgeordneten lehnt die EU ab
Eine weitere Überraschung war das schlechte Abschneiden der bäuerlich nationalpopulistisch agierenden "Selbstverteidigung" Samoobrona mit nur 10,8 Prozent und 6 Mandaten. Damit liegt sie, obwohl man sie schon zum heimlichen Sieger erklärt hatte, nur bei den in den Parlamentswahlen 2001 erreichten 10,2% der Stimmen. Lange eher unbedeutend, gewann Samoobrona mit dem Näherrücken des polnischen EU-Beitritts enorme Popularität. Außenpolitisch diffus gegen die EU, grenzt sich Samoobrona innenpolitisch scharf von allen liberalen und demokratischen Bewegungen ab und verfolgt nach ihrem Programm und angeblich auf Anregung des Papstes zwar einen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der sich in der Praxis jedoch oft eher eine allgemeine Ablehnungshaltung und auf einen Führerkult (siehe Fotos auf der Internetseite) ihres ziemlich ungebildeten, aber im wahrsten Sinne des Wortes "bauernschlauen" Parteivorsitzenden Andrzej Lepper reduziert. Bauernführer Lepper, der sich gerne umgeben von jungen Damen in weißen Blusen mit Schlipsen in den Nationalfarben zeigt, hat wohl mit dem schlechten Abschneiden den Traum, nächster Präsident zu werden, ausgeträumt.
Die Wiederauferstehung der linksliberalen bürgerrechtlich und kosmopolitisch geprägten Freiheitsunion (UW, die - obwohl nicht mehr im Sejm vertreten - besonders mit hoch qualifizierten Kandidaten wie Bronislaw Geremek, über 7 Prozent und 4 Sitze errang, grenzt an eine Wunder und ist wohl besonders dem Einsatz vieler prominenter, auch international bekannter Intellektuellen und Kulturschaffenden zu verdanken. Zugpferd Geremek genießt in Polen wie in Deutschland Parteien übergreifend hohes Ansehen. 1973 wurde er Professor für mittelalterliche Geschichte, seit 1980 Berater von Solidarnosc. Nach der Verhängung des Kriegsrechtes 1981 wurde er verhaftet und interniert. Mit viel Verhandlungsgeschick nahm er 1989 an den Runden-Tisch-Gesprächen teil. Ab 1990 agierte Geremek als Mitglied der liberalen Parteien UD und UW, letztere führte er auch von 2000 bis 2001 als Parteivorsitzender. Er war auch von 1997 bis 2000 als Außenminister Polens im In- und Ausland sehr populär. 1998 wurde ihm der Karlspreis verliehen. Nun ist er auch im Gespräch als potenzieller künftiger EU-Parlamentspräsident.
Mindestens 36 der 54 nun gewählten polnischen EU-Abgeordneten sind mehr oder weniger konsequente EU-Gegner. LPR-Chef Roman Giertych verkündete bereits, seine Mandatsträger gingen nach Straßburg, um die EU "umzukrempeln".