Polizei und "Letzte Generation": Folter auf deutschen Straßen?

Schmerzensschreie schienen die Beamten nicht zu beeindrucken. Screenshot: Telepolis

Aktivisten der Gruppe lassen sich widerstandslos wegtragen. Ein Teil der Beamten setzt dennoch gezielt auf Schmerzgriffe, wie ein Video dokumentiert. Dass es anders geht, zeigen auch Kollegen der Täter.

"Wenn ich ihnen Schmerzen zufüge, wenn sie mich zwingen, werden sie die nächsten Tage, nicht nur heute, Tage, werden sie Schmerzen beim Kauen haben und beim Schlucken", kündigt der Berliner Polizist dem Aktivisten der Gruppe "Letzte Generation" an. "Klimakleber" wäre hier das falsche Wort, denn der junge Mann hat sich nicht festgeklebt, er sitzt tatsächlich nur auf der Straße in dem Video, das seit dem Wochenende viral im Netz geteilt wird.

"Dann bitte ich Sie jetzt, rüberzugehen, sofort. Ansonsten werde ich Ihnen Schmerzen zufügen", droht der Polizist. Antwort: "Ich sitze hier friedlich, Sie können mich einfach wegtragen." Der Beamte geht ihm dann zunächst an die Gurgel und drückt auf seinen Kehlkopf; anschließend wird der Körper des Aktivisten beim Wegtragen von zwei Beamten offensichtlich unnötig und schmerzhaft verdreht.

"Kein probates Mittel"

Teile der Klimabewegung sprechen von Folter. Der MDR hat dazu den Polizeirechtsexperten Prof. Tobias Singelnstein befragt, der solche Schmerzgriffe aus rechtlicher Sicht zumindest für "kein probates Mittel" hält. Die Polizei müsse immer prüfen, was das mildeste Mittel sei, um ihr Ziel zu erreichen – in diesem Fall die Räumung der Straße durch Auflösung einer friedlichen Sitzblockade. In aller Regel werde hier das schlichte Wegtragen das mildeste Mittel sein.

Die Klima-Initiative "Letzte Generation" hatte schon mehrfach auf Polizeigewalt und Schmerzgriffe bei der Räumung ihrer Blockaden aufmerksam gemacht. So explizit mit bewusster Ankündigung von Schmerzen waren sie allerdings bisher nicht dokumentiert worden.

Es scheint allerdings eine größere Bandbreite von Verhaltensweisen bei solchen Einsätzen zu geben, was in der Klimabewegung auch zur Kenntnis genommen wird. So verbreitete an diesem Montag ein Aktivist ein Video, auf dem ein Polizist ruhig und sachlich bleibt, als er die festgeklebte Hand eines Aktivisten mit Lösungsmittel von der Straße ablöst und sprach in dem Tweet von "vorbildlichem Verhalten".

In einem weiteren Tweet bedankt er sich für das Einschreiten der Polizei gegen einen rabiaten Mann mit Glatze und großem Hund, der offenbar Beteiligte der Sitzblockade tätlich angreifen wollte.

Urteile in Strafprozessen und das Karlsruher Klima-Urteil

Vor wenigen Tagen hatte der WeltN24-Chefredakteur Ulf Poschardt eine umstrittene juristische Einschätzung zur "Notwehr" im Fall friedlicher Sitzblockaden verbreitet, die der polizeilichen Ansage widersprach. Präzedenzurteile gibt es bisher nicht.

"Auch wenn Sie sehr in Eile sind und sich über die Einschränkungen ärgern", hatte die Berliner Polizei dazu getwittert, "Wer versucht, Menschen gewaltsam von der Straße zu ziehen, kann sich strafbar machen. Die Abwehr von Gefahren für alle Beteiligten ist alleinige Aufgabe der Polizei."

Poschardt dagegen zitierte die Aussage einer Jura-Professorin der Uni Leipzig, die der Meinung ist, es sei "eindeutig zulässig", Aktivisten von der Fahrbahn loszureißen und wegzutragen, "auch wenn das wegen des Klebers zu erheblichen Handverletzungen führen sollte".

Ein Würzburger Kollege der Professorin vergleicht die Situation der Autofahrer laut einem Bericht des Bayerischen Rundfunks sogar mit der einer "Frau, die nachts am Weitergehen gehindert wird" und Pfefferspray einsetzen dürfe – ein weiterer Strafrechtsprofessor hält dies für eine "steile These".

Der Denkfehler könnte darin liegen, dass die besagte Frau nicht wissen kann, was derjenige, der sie aufhält, mit ihr vorhat, und schlimmstenfalls mit einem Angriff auf Leib und Leben rechnen muss – wovon Autofahrer bei auf der Straße sitzenden Personen mit Transparenten klimapolitischer Art eher nicht ausgehen müssen.

Erstinstanzliche Urteile gegen beteiligte Aktivistinnen und Aktivisten fielen bislang sehr unterschiedlich aus. Ein Freispruch, den ein Berliner Amtsrichter mit der klimapolitischen Weltlage begründet hatte, wurde allerdings im Dezember von einer großen Strafkammer des Berliner Landgerichts kassiert. Dem Vernehmen nach wollen viele der bisher Verurteilten in die nächste Instanz gehen und ein Grundsatzurteil erzwingen, indem sie sich auf das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr 2021 berufen.

Demnach reichten die damaligen Klimaschutzmaßnahmen der Bundesregierung für den grundgesetzlich garantierten Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nicht aus. Seither wurde das deutsche Klimaschutzgesetz zwar verschärft, allerdings schaffte der Koalitionsausschuss der Ampel-Bundesregierung die verbindlichen Sektorziele und Zwischenschritte erst vor wenigen Wochen wieder ab.