"Präventiver Vergeltungsschlag": Russlands gefährliche Atombomben-Diskussion

Manche Hardliner in Russland haben scheinbar keine Angst vor nuklearem Fallout. Bild: WikiImages / Pixabay Licence

Namhafte russische Experten schocken nicht nur die Fachwelt mit der Forderung nach einem Erstschlag. Dagegen gibt es auch in Russland Widerspruch. Wurde die Debatte von oben lanciert?

Sergej Karaganow ist so etwas wie der schillernde Altmeister unter den geopolitischen Experten Russlands. Er ist bis in den Kreml vernetzt und Ehrenvorsitzender des einflussreichen Thinktanks "Rat für Verteidigungspolitik". Kürzlich veröffentlichte er in der russischen politischen Fachzeitschrift Profil einen Aufsatz, bei dem schon die Überschrift recht deutlich macht, worum es geht: "Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe retten".

Stopp der westlichen Hegemonie via Atomknopf?

Wer bei diesen Worten spontan denkt, dass doch eigentlich der Einsatz von Atomwaffen eher eine globale Katastrophe ist, wird vom Moskauer Fachmann im Text eines "Besseren" belehrt. Nach heftigen Angriffen gegen das globale Hegemonialstreben des Westens stellt er die These auf, dass man "im Territorium, das heute Ukraine heißt" dem Westen einen strategischen Rückzug oder "gar eine Kapitulation" aufzwingen müsse.

Den Weg hierfür sieht Karaganow tatsächlich in einem "präventiven Vergeltungsschlag" mit Atomwaffen – alles andere würde einen langen Konflikt mit noch mehr Opfern bedeuten. An eine nukleare Antwort der USA glaubt er nicht, da man dort nicht bereit sei, Boston "für die Verteidigung von Posen" zu opfern, letzteres ist eine Großstadt in Polen. Wenn das nicht helfe, müsse man "eine Gruppe von Zielen in mehreren Ländern treffen, um die Verrückten wieder zur Besinnung zu bringen" schließt Karaganow seine Ausführungen.

Diese Argumentation des Schreckens toppt alles, was in den letzten Wochen an sich immer weiter verschärfender Rhetorik in Moskau auftrat. Etwa das merkwürdige Interview mit dem MGIMO-Professor Alexej Podberezkin in der Business Gaseta vom Mai, in dem dieser einen russischen Vormarsch bis nach Berlin fordert. Dabei muss man wissen, dass es sich beim MGIMO ebenfalls um die angesehenste Hochschule und wichtigste Kader- und Diplomatenschmiede in Russland handelt. Hier sprechen keine einflusslosen "Talking Heads" aus Propagandashows im Staatsfernsehen.

Dass Karaganows Auffassung keine exotische Einzelmeinung ist, bewies wenige Tage später der angesehene Politologe Dmitri Trenin von der Moskauer Higher School of Economics in der Fachzeitschrift Russia in Global Affairs. Er pflichtete Karaganow weitgehend bei, basierend auf seiner zentralen These, dass es notwendig sei "die Angst wieder in die Politik und das öffentliche Bewusstsein zu bringen".

Hardliner im Westen greifen Spielball auf

Wasser auf die Mühlen war Karaganows viel zitierter Artikel vor allem für die Kräfte im Westen, die einen äußerst harten Kurs in der Ukraine befürworten. In entsprechenden Zeitungen erschien eine Flut von Beiträgen darüber. Hier musste man ein Feindbild vom "bösen Russen" gar nicht mehr konstruieren, ein wichtiger Russe erledigte diesen Job mittels Atomschlagbedrohungen selbst. Russland-Insider, denen an einer Verständigung gelegen ist, waren nur noch entsetzt.

Von Telepolis angesprochen auf dieses Echo wiederholte Dmitri Trenin weitgehend seine Auffassung, dass er sich "wünscht, dass die Leute mal wieder etwas furchtsamer werden". Dass man Aufmerksamkeit in den USA und Europa erhielt, verbuchte er als Erfolg. Karaganov verdiene nach seiner Meinung Ehre für die von ihm losgetretene, essenzielle Diskussion.

Wirklich ernst genommen werden Karaganow und Trenin im Westen jedoch nicht überall. Etwa der britische Militärexperte Cyrus Giles sprach davon, dass "Russland oder seine Vertreter zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren und versuchen, Aufmerksamkeit zu erregen, weil sich die Situation nicht so entwickelt, wie sie es gerne hätten". Karaganow gelte vielen laut Giles als Mann von gestern. Was er schreibe, sei nicht "gruselig, sondern komisch".

Auch in Russland widersprechen wichtige Akteure

Es ist nicht umsonst so, dass Trenin in seiner Unterstützung dennoch von einer Diskussion um die Bombe sprach - denn die gibt es nun in Russland selbst. Was in der westlichen Berichterstattung völlig untergeht, ist der Widerspruch, der sich gegen Karaganow in Russland vonseiten ebenso anerkannter Experten regte, die mitnichten oppositionell sind.

Etwa von Iwan Timofejew, dem Generaldirektor des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen, einem Thinktank gegründet vom Russischen Außen- und Bildungsministerium. Timofejew verdankt diesen Posten dem Umstand, dass sein aus guten Gründen eher kriegskritischer Vorgänger Andrej Kortunow von den Mächtigen in die Wissenschaftsabteilung degradiert wurde.

Unter der Überschrift "Präventiver Atomschlag? Nein" stellt Timofejew ausdrücklich fest, dass Karaganows Ideen nicht der Kurs der russischen Regierung seien. Dieser unterschätze die Gefährlichkeit seiner Ideen und überschätze den Willen der restlichen Welt, das "Joch des Westens abzuwerfen".

Es gebe "keinen offensichtlichen Grund zur Annahme, dass die westliche Elite Angst haben wird, auf einen Atomschlag zu reagieren". Im Gegenteil würde dieser den Westen noch stärker vereinen und er sei weiter ein gefährlicher Gegner. Das noch löchrige westliche Isolationsregime für Russland könnte dann noch effektiver gestaltet werden.

Noch schärfer reagierten in der angesehenen Moskauer Zeitung Kommersant drei Experten des Moskauer Zentrums für Internationale Sicherheit IMEMO RAS auf ihre bombenliebenden Kollegen. Sie warnten vor der riesigen Zerstörungskraft selbst "kleiner" Atombomben. Jeder Einsatz würde den aktuellen Konflikt eskalieren, die Folgen wären unvorhersehbar. Nato-Planungen für einen hochpräzisen Angriff auf alle russischen militärischen Strukturen als Sofortantwort existierten bereits, ein globaler Atomkrieg wäre wahrscheinlich, mit komplettem Zusammenbruch der Zivilisation.

Initiative war "offensichtlich von oben lanciert"

Angesichts dieser eindringlichen Warnung vor einer globalen Katastrophe stellt sich die dringliche Frage, warum namhafte Poltikwissenschaftler in Russland solche Forderungen überhaupt in den Raum stellen. Der österreichische Russlandexperte Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck vermutet gegenüber Telepolis, dass ein solcher Vorstoß nicht ohne Absegnung aus dem Kreml erfolgt.

"All diese Reaktionen, die es gab, wären nicht erfolgt, wenn diese Initiative nur Karaganows eigene gewesen wäre und nicht eine, die offensichtlich von oben lanciert wurde".

Ähnlich denkt auch sein Wiener Kollege Alexander Dubowy in einer Analyse in der Berliner Zeitung. Karaganows Meinung entsprach "stets der von der russischen Staatsspitze gerade bevorzugten politischen Ausrichtung". Karaganow spricht also aus, was der Kreml gerade gerne hören will. Doch das sei keine Einbahnstraße, für Dubowy wolle Karaganow auch diese Ausrichtung der Staatsspitze beeinflussen.

Sowohl dies als auch seine Kontakte zum Kreml machten seinen neuen Vorstoß auch gefährlich, glaubt der Journalist und Kremlkenner Andrej Perzew in der exilrussischen Zeitung Meduza. Seine Quellen in der Präsidialverwaltung geben einen großen Einfluss von Karaganow auf die Auffassungen von Nikolaj Patruschew an - und der gehört zum innersten Zirkel um Putin.

Die Angst vor der konventionellen Niederlage

Wenn die Bombendrohung in Absprache oder sogar auf Initiative des Kreml erfolgte, fragt sich, was eigentlich der Hintergrund solcher wahnwitzigen Ideen ist. Der oppositionelle Moskauer Soziologe Grigori Judin äußert gegenüber Telepolis, dass sich in der russischen Elite die Überzeugung festigt, dass der Ukrainekrieg auf konventionellem Weg nicht mehr zu gewinnen sei. "Also glaubt man, man gewinnt Übernacht mit einem Nuklearschlag".

Auch Gerhard Mangott hält solche Gedankengänge im Kreml für möglich.

Die Unruhe in der Elite ist gewachsen. Die Sorge davor, dass man diesen Krieg verlieren kann, sogar mit einiger Sicherheit verlieren wird. Da gibt es einige die sagen: War es das wert, was ist unser Ziel? Andere meinen, eine solche Niederlage sei völlig inakzeptabel und deswegen müssen wir bereit sein, das Undenkbare zu denken.
Gerhard Mangott, Russlandexperte der Uni Innsbruck gegenüber Telepolis

Tatsächlich argumentieren die beiden Bombenfreunde Karaganow und Trenin damit, dass der ukrainische Krieg sich auf dem aktuellen Weg noch sehr lange hinziehen werde und sind nicht vom postulierten baldigen russischen Kriegsgewinn überzeugt.

Alexander Dubowy glaubt gegenüber Telepolis ebenfalls nicht an einen konventionellen Sieg Russlands, was aber nicht bedeute, dass das Land den Krieg militärisch verlieren müsse. Putin setze hier auf den Faktor Zeit und sehe den Krieg als langwierigen politischen Prozess.

Es gibt noch andere Erklärungsversuche. Etwa den, dass die Serie scharfer Drohungen lanciert wird, um einem kommenden Verhandlungsvorstoß Russlands eine möglichst düstere Alternative entgegen zu stellen. Mangott hält diese These nicht für aberwitzig, glaubt jedoch nicht daran.

Es ginge dem Kreml eher um die Botschaft, der Westen habe eine rote Linie nach der anderen überschritte, etwa bei der Bewaffnung der Ukraine. So zeichnet man jetzt eine dunkelrote, bei der eine nukleare Eskalation erfolgen kann.

Wie wahrscheinlich ist der Atomschlag?

Die Frage, die bei diesem ernsten Thema am Ende stehen muss, ist, wie wahrscheinlich ein russischer Atombombeneinsatz in näherer Zukunft ist. Denn abseits aller strategischer und ideologischer Erwägungen ist er nur eins: Eine riesige Katastrophe für Tausende, Zehntausende Menschen, die danach zu einem Großteil tot sind oder Jahre danach an den Spätfolgen einer grausamen Strahlenkrankheit sterben.

Die Entscheidung, ob eine solche Katastrophe mit nicht absehbaren Folgen geschieht, wird im Kreml gefällt. In die dortige Präsidialverwaltung hat Andrej Perzew Kontakte und was er darüber denkt, klingt nicht optimistisch. Er schreibt, auch wenn Karaganows Ziel nur darin bestand, den Westen zu erschrecken, könne er von einem Element der nuklearen Abschreckung selbst zu einer "Stufe auf der Leiter der nuklearen Eskalation" werden.

Indem er Mächtige beeinflusst, die den Finger am roten Knopf haben. Auch von der Invasion der Ukraine sei Putin durch falsche Informationen überzeugt worden, die dann echte Aggression zur Folge hatten.

Die Hoffnung, eine solche Eskalation abzuwenden liegt in der Tat bei gemäßigten Beratern ebenfalls aus dem Umfeld Putins, die ideologisch-strategische Erwägungen nicht über das Wohl der Menschheit stellen. Sie existieren und argumentieren aktiv mit Vernunft, obwohl aktuell in Russland Argumentation gegen Radikale nichts ungefährliches ist.

In diesem Meinungskampf spielt auch der Westen eine Rolle. Wenn sich seine Aktionen darin erschöpfen, über den größtmöglichen militärischen Sieg über Russland zu beraten, bekommen Hardliner mit gefährlichen Forderungen Oberwasser. Umgekehrt hilft jede echte Diplomatie den innerrussischen Warnern. In jedem Fall kann sich die westliche Elite die Hände nicht in Unschuld waschen, dass es so weit gekommen ist, denn ein globales westliches Hegemonialstreben gibt es ja nicht nur im Kopf von Karaganow und Trenin.

Natürlich rechtfertigt es einen Atomwaffeneinsatz ebenso wenig, wie die Nato-Osterweiterung die heimtückische Invasion der Ukraine rechtfertigte. Aber Abwägungen über Recht und Rechtfertigungen werden den Opfern einer Kernwaffenexplosion nicht helfen - selbst wenn es bei nur einer bleibt.