Prigoschin, die Wagner-Gruppe und Russland: Die Rückkehr der Kreml-Astrologen

Machen Sie das Zuhause bitte nicht nach: Blümchen im Wagner-Kanonenrohr. Bild: Fargoh

Aufstand hat Moskau ebenso überrascht wie westliche Akteure. Dennoch wollen es nun alle gewusst haben. Dabei wird ein wichtiger Vergleich nicht gezogen. Und die nun zentrale Frage nicht gestellt. Ein Telepolis-Leitartikel.

Natürlich wissen es jetzt alle besser und natürlich hatten es viele längst zuvor gewusst. Als am Samstag Kämpfer des russischen Militärunternehmens Wagner in einem Konvoi vom südrussischen Rostow Richtung Moskau fuhren, meldeten sich westliche Medien von Washington bis Warschau und Weinheim bei Russland-Experten. Und die wussten zum Glück bestens Bescheid.

So kommentierte der ehemalige US-General und Ex-CIA-Direktor David Petraeus vom Spielfeldrand, Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin habe die Nerven verloren. Die Nachrichtenagentur AP sah durch den "weitgehend ungehinderten und schnellen Vormarsch der Wagner-Truppen (...) die Schwächen der russischen Sicherheits- und Streitkräfte aufgedeckt".

Und ein als "Direktor für Russlandstudien bei der Forschungsgruppe CNA" vorgestellter Mann meinte schlagzeilenträchtig, Wagner habe "der russischen Luftwaffe in den letzten Tagen wahrscheinlich mehr Schaden zugefügt als die ukrainische Offensive in den letzten drei Wochen".

Solche Einschätzungen sind in der Regel weitgehend faktenfrei, oft kennt man die selbsternannten oder von Wochenendredakteuren legitimierten Experten nicht. CNA zum Beispiel ist ein Analyse- und Beratungsunternehmen mit Sitz in Virginia, USA, das schicke Videos auf seiner Homepage hat und eine ganze Reihe von zum Teil kostspieligen Dienstleistungen anbietet, "um Entscheidungsträgern zu helfen, wichtige und komplexe Themen jetzt und in Zukunft umfassend zu behandeln".

Im Grunde wissen die genauso wenig wie wir. Das macht aber nichts, denn findet sich für jede Meinung eines Mediennutzers die entsprechende Experteneinschätzung.

Der Tagesspiegel, dank seiner West-Berliner Vergangenheit transatlantisch immer etwas verlässlicher als andere, jubelte: "Ein geschwächter Putin, eine geschwächte Armeeführung - und Kiew profitiert". Das Redaktionsnetzwerk Deutschland fragte vorsichtiger: "Kremlchef wirklich geschwächt?" und zitierte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH): "Jetzt von Putins Ende zu sprechen, wäre verfrüht."

Einige "alternative" Autoren, die zum Teil tatsächlich oder gefühlt in Russland stationiert sind, sehen Putin ohnehin stets auf der Siegerstraße. Sie schreiben von den Wagner-Söldnern als "Patrioten" und von der Wagner-Söldnertruppe als "Sicherheitsfirma", was angesichts ihrer Opfer im Ukraine-Krieg ebenso zynisch erscheinen muss wie eine entsprechende Bezeichnung des US-Kriegskonzerns Blackwater, wenn man an dessen im Irak denkt. Fraglich, ob dieselben Putin-Erklärer US-Söldner sprachlich ebenso positiv präsentieren würden.

Wo wurde gleich noch ein Parlament gestürmt?

Und dann waren da seit Samstag die ebenso interessengeleiteten Verschwörungstheorien. Etwa die, dass Prigoschin am Rande der Landstraße nach Moskau Atomwaffen in die Hände fallen könnten. Was wie der Plot einer Simpsons-Serie klingt, wurde in US-Sicherheitskreisen tatsächlich so geäußert.

Obwohl eine unmittelbare Krise abgewendet werden konnte, las an etwa, "bleiben die US-Geheimdienste wachsam und achten auf Anzeichen für einen Missbrauch des größten Atomwaffenarsenals der Welt".

Die Wahrheit liegt, wie so oft in einer polarisierten und ideologisierten Berichterstattung, zwischen den Zeilen. Und es ist ratsam, einmal tief durchzuatmen und die Situation aus der Distanz zu analysieren. Dazu muss man kein "Experte" sein.

Dann fällt einem vielleicht auf, dass es schon einmal einen innerstaatlichen Aufstand gegen eine Atommacht gegeben hat. Das ist noch gar nicht so lange her: Am 6. Januar 2021 griffen Anhänger des damals noch amtierenden, aber bereits abgewählten US-Präsidenten Donald Trump den Kongress der Vereinigten Staaten an und besetzten das Gebäude.

Eine reale Chance, die politische oder gar militärische Macht an sich zu reißen, hatten die Umstürzler – ähnlich wie die Wagner-Söldner in Russland – nie. Dennoch war die Situation Anfang 2021 in Washington weitaus ernster als Mitte 2023 in Russland.

Das zeigt sich schon daran, dass die Wagner-Söldner nie auch nur in die Nähe des Büros von Wjatscheslaw Wolodin kamen, geschweige denn auf seinem Stuhl saßen, die Militärstiefel auf seinem Schreibtisch.

Inzwischen hat sich Putin an die Wagner-Kämpfer gewandt, ihnen gedankt und ihnen zwei Optionen angeboten: Sie könnten in die russische Armee eintreten oder Prigoschin nach Weißrussland folgen. Interessanterweise herrscht an dieser Stelle Schweigen im Blätterwald.

Dabei ist genau das die große Frage: Mit welchem Status verlässt Prigoschin Russland in Richtung Minsk - als Exilant oder als Militärunternehmer? Die vorliegenden Indizien sprechen für Letzteres.

Etwa die Tatsache, dass die Wagner-Gruppe nicht nur unbehelligt nach Moskau reisen konnte.

Oder auch, dass sie als Konzern völlig unbeschadet aus dieser Krise hervorgegangen ist und nicht längst als Terrororganisation verboten wurde.

Oder dass Wagner-Söldner nach wie vor in Afrika und vielen anderen Krisenherden im Interesse der russischen Geopolitik aktiv sind.

Einige westliche Journalisten haben die Ernsthaftigkeit des eintägigen Aufstandes der Wagner-Söldner in Russland damit begründet, dass sie sich Moskau bis auf 200 Kilometer nähern konnten.

Sollten sie demnächst in Weißrussland aktiv werden, hätten sie diese Entfernung von der Grenze zu einer anderen Hauptstadt auf etwa 100 Kilometer Luftlinie halbiert.

Nach Kiew nämlich.

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