Proteste gegen Inflation und Energiearmut: Endpunkt oder erst der Anfang?
Mit einem radikalreformerischen Forderungskatalog demonstrierten am Samstag rund 7000 Menschen in Berlin. Daran lässt sich anknüpfen. Entscheidend könnte auch die Stadtteilarbeit der nächsten Monate sein.
Insgesamt war es ein bemerkenswertes Bündnis, aber am Rande wirkten nicht alle Parolen gleichermaßen durchdacht: "Wird der Döner uns zu teuer, legen wir ein bisschen Feuer", stand auf einem Transparent im anarchistischen Block der "Umverteilen"-Demonstration am Samstag in Berlin.
Nur wenige Meter entfernt hielten Mitglieder der Mieterwerkstatt Charlottenburg die Adressen von seit Jahren leerstehenden Häusern des Westberliner Stadtteils in die Höhe: Fasanenstraße 64, Katharinenstraße 114 sind Beispiele.
Etwa 50 Gruppen der gesellschaftlichen Linken hatten zu dem Protest aufgerufen. Bei fast spätsommerlichen Temperaturen bewegten sich rund 7000 Menschen durch die Berliner Innenstadt von Mitte nach Kreuzberg.
Linke Reformforderungen
Es war tatsächlich bisher die größte linke Demonstration gegen Inflation und drohende Energiearmut – und es war ein bemerkenswert breites Bündnis, das von Autonomen und Anarchisten bis zu Gewerkschaften, darunter auch die IG BAU reichte. Die in Berlin starke Mieterbewegung hatte ebenso einen eigenen Block vorbereitet wie Beschäftigte aus dem Pflege- und Gesundheitssektor, die sich am Care-Block beteiligten. Geeinigt hatte sich ein Bündnis auf einen radikalreformerischen Forderungskatalog.
Dazu gehören ein Moratorium bei Zwangsräumungen und Energieabschaltungen, höhere Löhne und Gehälter und eine Senkung der Mieten. Es sind Forderungen, die von einem großen Teil der Bevölkerung auch geteilt werden, wie das Ergebnis des Volksbegehrens "Deutsche Wohnen Enteignen" gezeigt hat.
In den letzten Wochen gab es in zahlreichen Berliner Stadtteilen Mobilisierungsaktionen für die Demonstration. Dabei wurde auch versucht, Menschen, die noch nicht politisch aktiv waren, zu vermitteln, dass Inflation und Energiearmut kein Naturgesetz, sondern Folgen einer bestimmen Politik sind. "Die Krise heißt Kapitalismus" war denn auch auf der Demonstration am Samstag immer wieder zu hören und zu lesen.
Dabei waren sich die Teilnehmer der Demonstration in vielen anderen Fragen durchaus nicht einig, aber es war bezeichnend, dass die Gemeinsamkeiten überwogen und niemand die eigenen Vorstellungen und Aktionsformen ins Zentrum rückte. So blieb es trotz der großen Präsenz von anarchistischen und autonomen Gruppen an der Demonstration bei einigen Eierwürfen auf die SPD-Zentrale, als diese passiert wurde.
Das führte nicht dazu, dass sich beispielsweise Gewerkschaftler auf der Demonstration von irgendetwas distanzieren mussten. Dabei gab es auf der Route durch die Konsummeile Friedrichstraße in Berlin sicher genügend Angriffspunkte. Schließlich sorgte kürzlich die Klage der Besitzerin eines Nobelladens dafür, dass auch dort wieder Autos die Luft verpesten können.
Das war für einige Monate nicht möglich gewesen, weil ein Teil der Friedrichstraße nach dem Willen des Berliner Senats Fußgängern und Radfahrenden gehören sollte. Die Klage zeigte einmal mehr, dass dem Kapital selbst solche kleine Reformschritte verhasst sind, wenn Profite vielleicht minimal eingeschränkt werden.
Es ist aber trotzdem auch aus inhaltlichen Gründen zu begrüßen, dass auf der Demonstration auch der Konsummeile Friedrichstraße nicht die Reflexe einer verkürzten Kapitalismuskritik nachgegeben wurde, der bestimmte Luxusmarken gerne zu Angriffspunkten macht, aber damit eben nur Logos und nicht das ausbeuterische System als solches trifft.
Wie weiter nach der Demonstration?
Da würden selbst die stark regulierten Streiks der DGB-Gewerkschaften die Kapitaleigner mehr ärgern. Daher war es schon bemerkenswert, dass auf einer unabhängigen linken Demonstration auch Menschen mit Fahnen von DGB-Gewerkschaften vertreten waren, was gerade in Deutschland keineswegs selbstverständlich ist.
Von dieser Bündnisfähigkeit wird auch abhängen, ob dieser Demo-Samstag am 12. November nun der Endpunkt einer kurzen linken Mobilisierung oder der Anfang einer längerfristigen Bewegung gegen die Zumutungen war, die der Kapitalismus für viele Menschen bereithält. Da geraten auch die künftigen Tarifverhandlungen ins Blickfeld, die demnächst anstehen. Das Bündnis "Genug ist genug" hat bereits vor einigen Wochen in Berin-Neukölln die Verbindung von Krisenprotesten und Tarifkämpfen hergestellt.
Dort sprachen nicht nur linke Bewegungsaktivisten für ihre jeweilige Politgruppe, sondern Lohnabhängige über die Realität verschiedener Branchen. Solche Veranstaltungen machten es möglich, dass aktive Gewerkschafter mit ihren Bannern zu einer eindeutig von der unabhängigen Linken geprägten Demonstration kamen. Das Thema Lohnkampf und Unterstützung von Arbeitenden war in fast allen Blöcken dieser Demonstration präsent.
Wenn nur ein Bruchteil dieser Menschen die künftigen Tarifkämpfe solidarisch unterstützen würde, könnten die eine besondere Dynamik bekommen. Schließlich wird es dort darum gehen, angesichts einer zweistelligen Inflationsrate Reallohnverluste zu verhindern. Schon wird von der Kapitalseite der Mythos von der Lohn-Preis-Spirale gestreut, um auf eine Verzichtspolitik einzustimmen. Es wäre dann die Aufgabe der solidarischen Linken, dem nicht nur ideologisch, sondern auch mit Streikposten vor den Betrieben entgegenzutreten.
Aktion "Dichtmachen"
Wie eine solche solidarische Unterstützung aussehen könnte, zeigte die Aktion "Dichtmachen" vor 15 Jahren. Im Jahr 2008 unterstützten solidarische Linke die Beschäftigten im Einzelhandel während ihres Streiks, in dem sie bestreikte Filialen blockierten und damit den Einsatz von Streikbrechern verhinderten.
Der Kontakt zwischen aktiven Kolleginnen und Kollegen und der außerparlamentarischen Linken war damals über die Euro-Mayday-Bewegung entstanden, die nur wenige Jahre existierte. Vielleicht gehörte die Kontaktanbahnung zu den streikbereiten Beschäftigten zu den größten Erfolgen dieser Bewegung. So könnten auch die diesjährigen Krisenproteste zu einer stärkeren Unterstützung von Arbeitskämpfen führen.
Denn gegen den teureren Döner hilft eben kein "kleines Feuer", sondern mehr Lohn, um noch mal auf die anfangs zitierte anarchistische Parole zurückzukommen. Durch eine gemeinsame Mobilisierung mit gewerkschaftlich Aktiven könnte auch die Bewegung "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" wieder Auftrieb bekommen. Denn trotz ihres großen Erfolges wird noch immer über die Umsetzungsperspektiven gestritten.
Manche in der Politik wollen die Umsetzung sogar überhaupt verhindern. Eine oft skandierte Parole am Samstag in Berlin lautete "Wir enteignen Euch alle". Wenn es kein Verbalradikalismus war, sollte es zunächst mal heißen. "Volksbegehren umsetzen – Enteignung von Deutsche Wohnen & Co. sofort".
Keine Stromabschaltung unter dieser Nummer
Zudem sollten Menschen, denen im Winter Gas und Strom abgeschaltet werden soll, solidarisch unterstützt werden. Das geht nur durch Organisierung im Stadtteil, die es ja vor der Demonstration in Berlin gab.
Auch dafür gibt es Vorbilder in der jüngeren Bewegungsgeschichte: Unter dem Motto "Keine Räumung unter dieser Nummer" war nach Einführung von Hartz IV ein Nothilfetelefon eingerichtet worden, bei dem sich Menschen melden konnten, denen die Kündigung drohte, weil das Jobcenter nicht mehr die vollen Mietkosten übernahm. Aktuell könnte ein solches Krisentelefon unter dem Motto "Keine Abschaltung von Strom und Gas unter dieser Nummer" in den Kiezen eingerichtet werden.