Putin und Biden: Wer blinzelt zuerst?
Nach Kalte-Kriegs-Rhetorik und Säbelrasseln sprechen die Präsidenten der USA und Russlands miteinander. Die EU ist unmittelbar betroffen, bleibt aber verwundert außen vor
In den letzten Jahren fühlte man sich als Beobachter der sicherheitspolitischen Situation in Europa in die Zeiten des Kalten Krieges versetzt. Eiszeit, Konfrontation und gegenseitiges Misstrauen herrschen vor.
Die Nato verstärkte ihre Militärpräsenz in den mitteleuropäischen und baltischen Ländern mit modernen, neuen Waffensystemen und Streitkräften, unmittelbar an der Grenze Russlands. Georgien und die Ukraine streben die Mitgliedschaft in der Nato an. Russland treibt seinerseits die Modernisierung seines Waffenarsenals voran, einschließlich seiner Atomraketen. Zudem erhöhte es in den letzten Monaten seine Militärpräsenz an der Grenze zur Ukraine.
Russlands Präsident Wladimir Putin machte deutlich, dass er am Status der Krim, die Russland 2014 handstreichartig besetzte, nichts ändern will. Die Annexion der Krim, völkerrechtlich kontrovers beurteilt, ist für Russland eine Herzensangelegenheit. Die Ukraine ist vorwiegend sicherheitspolitisch relevant.
Eskalationen – verbal, militärisch und durch Sanktionen – wie zu Zeiten des Kalten Krieges! Allerdings sind die militärischen Potenziale ungleich verteilt. Westeuropa gibt fast viermal mehr für sein Militär aus als Russland. Auf die Nato entfallen rund 55 Prozent der weltweiten Militärausgaben, auf Russland ungefähr 3,5 Prozent.
Allerdings verfügt Westeuropa kaum über die Kapazität, militärische Macht im Ausland zu projizieren, und atomar ist Russland mit den USA auf Augenhöhe. In der Nato geht man davon aus, dass die aktuelle Massierung russischer Truppen an der Westgrenze Russlands primär an die Nato gerichtet ist, um Truppenstationierungen in der Ukraine und deren Mitgliedschaft in der Militärallianz auszuschließen.
Am 10. Januar treffen sich Wladimir Putin und Joe Biden in Genf, um vor allem über die Spannungen wegen der Ukraine zu sprechen. Weiterhin geht es aber auch allgemeiner um die sicherheitspolitische Situation in Europa und mögliche Rüstungskontrollbemühungen. Damit bekommt Putin endlich, was er will: ein Gespräch auf Augenhöhe.
Psychologie ist in geopolitischen Machtauseinandersetzungen nicht unwichtig. Die Drohkulisse bleibt zunächst aufrechterhalten: Die USA entschieden sich, einen Flugzeugträger im Mittelmeer zu belassen und nicht wie vorgesehen in den Nahen Osten zu verlegen und russisches Militär übt weiterhin nach Einschätzung westlicher Geheimdienste eine Invasion der Ukraine.
Wichtig aber ist, dass jetzt nicht nur aufgerüstet wird, sondern auch erste Gespräche stattfinden. Damit sind wir aber weit davon entfernt, konkrete Rüstungskontrollverhandlungen zu führen oder auch nur die Eskalationsspirale zu stoppen. Wer blinzelt zuerst, Biden oder Putin?
Um ein Deeskalationsszenario ins Auge zu fassen, ist es sinnvoll, sich über die jeweiligen Interessen klar zu werden. Versetzen wir uns mit Empathie in die Lage der russischen Regierung, dann stehen zwei zentrale Interessen im Vordergrund.
Wirtschaftliche und außenpolitische Sicherheit
Erstens wirtschaftliche Entwicklung. Hierfür ist eine enge Kooperation mit Europa essenziell. Ökonomische Entwicklung ist eine Voraussetzung für eine Stabilisierung der russischen Gesellschaft. Zweitens sicherheitspolitische Garantien.
Die Nato ist nach dem Ende des Kalten Krieges nahe an Russlands Grenzen herangerückt. Bei seiner alljährlichen Pressekonferenz kurz vor Jahresende klagte Präsident Putin über die "fünf Erweiterungswellen" der Nato ohne Rücksichtnahme auf die Sicherheitsinteressen seines Landes. Russland ist um seine Sicherheit besorgt, auch wenn die Nato Mantra-artig ihre friedlichen Absichten beteuert.
"Eine weitere Nato-Osterweiterung ist nicht zu akzeptieren. Was ist daran nicht zu verstehen?", fragte Putin.
Die US-amerikanischen Interessen sind hauptsächlich geopolitischer Art. Ökonomisch ist Russland für die USA völlig uninteressant. Im Konkurrenzkampf zwischen den USA und China wäre ein entspanntes und stabiles Verhältnis zu Russland wünschenswert. Und Russland könnte eine wichtige Rolle spielen, um China in die Rüstungskontrolle von Massenvernichtungswaffen einzubeziehen.
Die europäischen Interessen sind widersprüchlich und nicht so eindeutig. Natürlich müssen die europäischen Länder ein Interesse daran haben, dass russische Energie auch weiterhin verlässlich geliefert wird. Auch für die europäische Industrie ist Russland ein interessanter Markt, dessen Attraktion noch größer wäre, würde die russische Wirtschaft florieren.
Die Probleme liegen in der Sicherheitspolitik. Obwohl es in der EU mit der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" eine institutionelle Verankerung gibt, ist dieser Politikbereich alles Mögliche, nur nicht "gemeinsam".
Die EU mit ihren 27 Mitgliedsländern schwächt sich selbst, weil nur wenig Übereinstimmung über sicherheitspolitische Fragen existiert. Ein aktuelles Beispiel ist der EU-interne Streit um die Gas-Pipeline Nord Stream 2, deren Inbetriebnahme für die meisten EU-Länder eine unzumutbare Abhängigkeit von Russland bedeuten würde.
Im Juni 2021 scheiterten der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in der EU mit dem Vorschlag eines EU-Russland Gipfels vor allem am Widerstand der östlichen EU-Mitgliedsländer.
Aufgrund deren historischer Erfahrungen verlassen sie sich lieber auf die Nato als auf einen Russland-EU-Dialog. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis erregte kürzlich mit einer provokativen Bemerkung erhebliche Aufmerksamkeit:
Wir sind davon überzeugt, dass Russland sich tatsächlich auf einen totalen Krieg gegen die Ukraine vorbereitet. Und das ist ein beispielloses Ereignis - wahrscheinlich seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ist da Raum für Dialog? Die Kakophonie in der EU zeugt nicht gerade von einer starken "europäischen Souveränität", die Macron ständig einfordert. Wann wird die EU auf eigenen Beinen stehen?
Die EU spielt praktisch keine Rolle
Und jetzt, da die Gespräche zwischen den USA und Russland beginnen sollen, entdeckt die EU plötzlich, dass sie nicht mit am Tisch sitzt. "Wir wollen und dürfen keine unbeteiligten Zuschauer sein, über deren Köpfe hinweg entschieden wird", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Interview mit der deutschen Tageszeitung Die Welt. "Wenn Moskau (…) ab Januar über die Sicherheitsarchitektur in Europa und über Sicherheitsgarantien sprechen will, dann ist das nicht nur eine Angelegenheit, die Amerika und Russland angeht."
Aber warum wartet die EU ständig, bis Washington die Initiative ergreift? Es ist die Schwäche Europas, sich immer wieder von den USA abhängig zu machen. Das Wesentliche, worauf sich die EU 2014 nach der Annexion der Krim verständigen konnte, waren Sanktionen gegen Russland, die seither mehrfach verschärft wurden, um Präsident Putin zu zeigen, dass eine Aggression gegen die Ukraine einen hohen Preis hätte.
Aber was, außer Bestrafung für die Krim-Annexion, ist das Ziel der Sanktionen? Dahinter verbirgt sich keine Strategie, die die derzeitige Konfrontation entschärfen oder die Wagenburgmentalität in Russland abschwächen könnte. Die EU ist bezüglich ihres Verhältnisses zu Russland konzeptionslos und gespalten.
Es gibt genügend Gründe, die Entwicklung in Russland mit Sorge zu betrachten: der Abbau der Demokratie, die Unterdrückung der Opposition, die Abschaffung der Meinungsfreiheit, die Bestrafung politischer Gegner mit Gefängnis, Lagerhaft oder gar Mord, das Kujonieren der Zivilgesellschaft, die Stützung von Belarus-Diktator Lukaschenko und vieles mehr. Das alles muss man nicht mögen.
Dennoch ist es notwendig, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu reden, weil sich Europa weder einen Kalten Krieg – noch einen Krieg mit konventionellen oder atomaren Waffen leisten kann. Nicht Kalter Krieg, sondern Entspannungspolitik ist erforderlich.
Wir sollten uns erinnern: Europa profitierte am meisten vom Ende der Ost-West-Konfrontation. Vielleicht münden die Gespräche in Genf in einen ständigen sicherheitspolitischen Dialog unter Einbeziehung der EU, der dann idealerweise auch in Verhandlungen zur Rüstungskontrolle oder gar zu einer neuen Entspannungspolitik führen könnte.
Stufenweise könnte mit dem alten, klassischen Konzept Vertrauensbildender Maßnahmen ein Anfang gemacht werden, um gegenseitiges Misstrauen abzubauen und ohne Gesichtsverlust das Konfrontationsdenken zu überwinden.
Die Nato sollte die Dämonisierung Russlands beenden; sie könnte ihre Truppenpräsenz in Polen und den baltischen Ländern reduzieren; sie könnte die sowieso nicht beabsichtigte Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine verbindlich ausschließen.
Russland seinerseits müsste die Truppenpräsenz an seiner Westgrenze reduzieren und die Unterstützung der Aufständischen in der Ostukraine beenden. Dies alles könnte der Anfang für eine stufenweise und dann vertraglich vereinbarte Deeskalation im militärischen Bereich, umfassendere wirtschaftliche Kooperation und gemeinsame Politik gegen den Klimawandel werden.
Prof. Dr. Herbert Wulf ist Friedensforscher, ehemaliger Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC). Zwischen 1991 und 2006 besuchte er mehr als ein halbes Dutzend Mal im Rahmen eines UN-Rüstungskontrollprojektes Nordkorea.